[1] Als der griechische Historiker Herodot in der Mitte des 5. Jahrhunderts vor Christus seine „Historien“ schrieb, fand er einen einigermaßen geklärten Europabegriff vor, der in erster Linie jedoch eine geografische Bedeutung angenommen hatte. Bei Herodot und anderen Zeitgenossen ist Europa noch der größte Kontinent, Asien und Libyen oder Afrika sind deutlich kleiner.
[2] Wirklich kennen tut man zu dieser Zeit nur einen kleineren Teil der Welt, von der im Übrigen angenommen wird, sie sei eine zusammenhängende Landmasse, rundherum von Wasser umgeben. Herodot war ein Mann der griechischen Zivilisation, die er in ihrer kleinasiatischen, kolonial-süditalienischen sowie athenischen Variante persönlich kannte. Er kannte auch recht gut die persische Zivilisation.
[3] Soweit sich seine Historien um diese beiden Bereiche drehen, geben sie sich methodisch und präzise – was nicht zwingend heißt, dass alles stimmt. Jenseits dieses Erfahrungs- und Wissensraumes häufen sich Vermutungen, Legenden, Fabeln sowie Abstrusitäten.
[4] Zivilisatorisch bedeutete Europa kaum mehr als Griechenland und seine Kolonien, eine umfassende zivilisatorische Aufladung des Namens Europa lohnte sich nicht, „Griechenland“ reichte aus. Herodot schrieb für eine verschwindend kleine Minderheit, und wenn man sich fragt, für wen es überhaupt bedeutsam sein konnte, eine ungefähre Vorstellung von der Geografie der Welt zu haben, so können dies nur sehr wenige gewesen sein.
[5] Wenn wir einen riesigen Zeitsprung ins 18. Jahrhundert, zum Beispiel in den Süden des Heiligen Römischen Reiches, machen, so treffen wir dort in Dutzenden von Dorfkirchen auf die Allegorie der Europa, in der Regel im Kreis der drei weiteren Erdteilallegorien der Asia, der Africa und der America. [Bildbeispiel]
[6] Es scheint im 18. Jahrhundert mithin Gründe gegeben zu haben, selbst der Dorfbevölkerung ein Bild von Europa sowie der Welt zur Verfügung zu stellen. Dies setzt voraus, dass auch eine Dorfbevölkerung mit „Europa“ etwas anfangen, etwas verbinden konnte, was für sie Bedeutung besaß.
[7] Und machen wir noch einmal einen Zeitsprung, dieses Mal etwas kürzer, nur ungefähr 200 oder 220 Jahre, so finden wir zwischen 1946 und 1950 unzählige Briefe von Menschen, die weder prominent noch öffentliche Personen waren und die an die um Winston Churchill herum neu gegründete Europäische Bewegung schrieben, er möge bitte die Vereinigten Staaten von Europa schaffen.
[8] Und wenn wir in die eigene Gegenwart gehen, so wird es bei den nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament 2019 ca. 400 Millionen wahlberechtigte EU-Bürgerinnen und -bürger geben, von denen voraussichtlich zwischen 170 und 200 Millionen von dem Wahlrecht auch Gebrauch machen werden. Wir können dabei unterstellen, dass diese aktiven Wählerinnen und Wähler eine irgendwie geartete Europaidee im Kopf haben, weshalb sie zu einer Europawahl gehen.
[9] Der Weg von dem kleinen Häuflein Interessierter zu Herodots Zeiten und den hunderten von Millionen von Europäerinnen und Europäern heute mit irgendeiner Europaidee im Kopf, war alles Mögliche, nur nicht vorgezeichnet oder gar zwingend.
[10] Erst nach dem Fall von Konstantinopel im Jahr 1453 entstand eine ausgesprochene Europaidee. Erst zu diesem, aus mittelalterlicher Sicht sehr späten Zeitpunkt, kam es zur quasi Ineinssetzung von Europa und Christenheit. In Ostmittel- und Osteuropa, insbesondere an den Grenzen zum Osmanischen Reich, entwickelte sich das Selbstverständnis, das antemurale Christianitatis zu sein. Nicht unwesentlich ist auch, dass sich die Bedeutung des Begriffs „Grenze“ zur Bezeichnung einer linearen Abgrenzung hin entwickelte. Der Humanist Enea Silvio Piccolomini sprach nunmehr vom europäischen Haus.
[11] Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts mangelt es also nicht an Begriffen und Metaphern, die Europa als etwas für sich Bestehendes und Abgegrenztes bezeichnen und die sich weniger aus der Geografie als vielmehr aus religiös-politischen Inhalten ableiten.
[12] Eine erste Summe dieser sich abzeichnenden frühneuzeitlichen Europaidee zog ein Bild aus dem Jahr 1537, das mit dem Namen des Humanisten Johannes Putsch verbunden ist. Putsch diente König Ferdinand I. und Kaiser Karl V. Das Bild – ein Holzschnitt – interpretiert die Umrisse des Kontinents Europa als Konturen einer Frau. Das Bild gefiel den Zeitgenossen, es wurde im Lauf des 16. Jahrhunderts immer wieder variiert und weiter verwendet.
[13] Das Bild hat eine vielschichtige Bedeutung, ich beschränke mich hier allerdings auf eine davon, die jedoch wesentlich ist. Gezeigt wird die Christliche Republik, die analog zur im Mittelalter entwickelten Lehre vom politisch-mystischen Körper der Monarchie den politisch-mystischen Körper Europas als Christlicher Republik darstellt. Die Glieder des Körpers bestehen aus den Monarchien, das Haupt trägt die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches, das verweist auf den Kaiser als weltlichen Herrn der Christenheit, die hier mit Europa in eins fällt.
[14] Es liegt auf der Hand, dass es sich nicht nur um die Verbildlichung der seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenen Europaidee handelt, sondern auch um ein Propagandablatt in den Diensten Kaiser Karls V., der in den Jahren um 1537 tatsächlich ein so mächtiger Herrscher war, wie es ihn seit Jahrhunderten in Europa nicht mehr gegeben hatte. Die Vorstellung von der Christlichen Republik bleibt bis ins 18. Jahrhundert bedeutsam und findet sich als Formulierung immer wieder in Friedensverträgen, auch die Fiktion einer Identität zwischen Europa und Heiligem Römischen Reich wird bis in diese Zeit aufrechterhalten.
[15] In der politischen Geschichte und europapolitischen Philosophie setzte sich im 18. Jahrhundert allerdings die Idee vom europäischen Staatensystem durch, für das es einen Friedensmechanismus zu finden galt. Zum Schlüsselwort hierfür wurde „Ewiger Friede“. Man fühlt sich natürlich sofort an die Querela Pacis, die Klage des Friedens, von Erasmus von Rotterdam aus dem Jahr 1517 erinnert.
[16] Derjenige, der mit dem Schlüsselwort Ewiger Friede eine politisch-philosophische Tradition schuf, war der Abbé de Saint-Pierre 1712. Kants Ewiger Friede von 1795 war bis hin zur Gründung des Völkerbunds 1920 bzw. der Vereinten Nationen 1945 wirksam, weil er ein universell und nicht nur europäisch anwendbares Friedensprinzip formulierte.
[17] Im 18. Jahrhundert wird in Bezug auf die Europaidee aber nicht nur eine politische Philosophie des europäischen Staatensystems oder allgemeiner von Staatensystemen entwickelt, sondern auch die Definition Europas als Kultur im Singular. Europa als Kultur, was uns vielleicht als Selbstverständlichkeit erscheint, wurde erst im 18. Jahrhundert so und zugleich als eine Kultur, als Kultur im Singular formuliert, die zudem anderen Erscheinungsformen wie dem europäischen Staatensystem vorausliegt. Das Eigentliche an Europa ist demzufolge sein Kultur sein.
[18] Diese Europaidee wurde vor allem in der Universal- und Kulturgeschichtsschreibung der Aufklärung entwickelt. Daran waren praktisch alle bekannten Namen der Aufklärung beteiligt. In Frankreich Montesquieu, Voltaire, Rousseau, Condorcet und viele andere, im Reich Herder, Kant und besonders Historiker an der Universität Göttingen wie zum Beispiel Christoph Meiners, der den Titel eines „ordentlichen Lehrers der Weltweisheit“ trug, in der Schweiz der Aufklärer Iselin.
[19] Kultur bzw. Zivilisation wurden in der Aufklärung als das Ergebnis menschlichen Handelns und Tuns definiert. Dabei wurde die Wirksamkeit von allgemeinen Gesetzmäßigkeiten unterstellt, so zum Beispiel, dass sich ohne die Erfindung des Feuers überhaupt keine Zivilisation entwickeln kann oder dass es bestimmte Entwicklungsstufen gibt, die von den einzelnen Kulturen ebenso durchlaufen werden konnten wie bereits von der europäischen, die seit dem letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in der Regel als die am weitesten fortgeschrittene in der Welt erachtet wurde. Dies legte die Grundlage für die eurozentristische Idee einer mission civilisatrice gegenüber der gesamten Welt.
[20] Die Kulturgeschichte der Aufklärung bot eine Alternative zur christlichen Heilsgeschichte, die sich durchaus behauptete. Aber auch diese hatte schon längst die Identifizierung von Europa und fortgeschrittener Christenheit in sich aufgenommen, auch sie wies Europa eine Mission zu, die ihrer Natur nach religiös, christlich war, aber nicht klar von der Zivilisierungsmission abgegrenzt werden konnte.
[21] Beide Großnarrative – Kulturgeschichte wie Heilsgeschichte – benutzten im 18. Jahrhundert denselben Typus von Verbildlichung, nämlich die vier Erdteilallegorien.
[22] Die besondere, sei es religiöse, sei es kulturelle Stellung Europas im Kreis der vier Kontinente, die man mit jeweils einer Kultur gleichsetzte, wurde im 18. Jahrhundert nicht mehr plump-direkt, sondern subtil verbildlicht. In den Kirchen, speziell auch Dorfkirchen, vereinen sich die vier Kontinente beispielsweise zur Verehrung der heiligen Eucharistie.
[23] In herrschaftlichen Bauten stößt man eher auf kulturgeschichtlich orientierte Erdteilallegorien wie in der Würzburger fürstbischöflichen Residenz mit den Fresken von Tiepolo von 1752/53, die eine Art Zivilisationsgeschichte der Menschheit unter Beachtung christentumsgeschichtlicher Aspekte darstellen und die Allegorie der Europa in dem gewaltigen Raumvolumen des Stiegenhauses auf dem Höhepunkt des zivilisatorischen Fortschritts inszenieren.
[24] Die Definition Europas als Kultur sein hat bis heute Bestand. Im Eurobarometer wird immer wieder die Frage gestellt, was nach Meinung der Befragten die Europäerinnen und Europäer vereint. An erster Stelle steht bei den Antworten, dass es die Kultur sei, an zweiter Stelle die Geschichte, an dritter Stelle die Wirtschaft. [Eurobarometer „40 years“]
[25] Wie fundamental das Definitionswerk der Aufklärung gewesen war, zeigte sich sowohl nach dem Ersten wie auch nach dem Zweiten Weltkrieg. Alle Anstrengungen, die nach 1918 unternommen wurden, um Europa zu befrieden und zu stabilisieren, gingen von Europa als Kultur oder Zivilisation aus. Die schnell nach dem Krieg aufkommenden faschistischen, autoritären, diktatorischen Regime bis zum Nationalsozialismus wurden als Barbarei bezeichnet, der die europäische Zivilisation oder Kultur gegenüber gestellt wurde.
[26] Der Zweite Weltkrieg war noch schrecklicher als der Erste, und dennoch zweifelten weder die Menschen, die sich in den verschiedenen Europabewegungen und Europavereinen betätigten, noch die Frauen und Männer, die den Weg für erste gemeinsame europäische Institutionen ebneten, aus denen die heutige EU hervorgegangen ist, am Kultur sein Europas.
[27] Inhaltlich wurde dabei an ein Wertegefüge angeknüpft, das ebenfalls in der Aufklärung entworfen worden war (individuelle Freiheiten, Rechtsstaatlichkeit, fundamentale Bürgerrechte, Menschenrechte und in weiterer Folge Demokratie). Zugleich spielten die epochalen Bezüge auf die Antike sowie auf Renaissance und Humanismus eine zentrale Rolle.
[28] Für viele zählte zu diesem Kultur sein auch die Vorstellung vom christlichen Abendland, die allerdings politisch stark umstritten war und ist, da faschistische Bewegungen und der Nationalsozialismus das Abendland als ein zentrales Argument in ihrer Auffassung von europäischer Kultur verwendeten, die bereits aus Sicht der Demokraten, Pazifisten und Europäisten in der Zwischenkriegszeit keine Kultur sondern Barbarei war. Und dass dieses Urteil vollkommen zutreffend war, haben die 1930er-Jahre und der Zweite Weltkrieg aufs schrecklichste bewiesen.
[29] Kultur (oder Zivilisation) stellt einen Begriff mit sehr großer inhaltlicher Breite dar. Er lässt Raum für unterschiedliche Ansichten und verträgt auch Kontroversen, solange diese sich in einem bestimmten Rahmen bewegen, nämlich in jenem, den die Aufklärung vor rund 250 Jahren geschaffen hatte. Dazu gehörte die materielle Definition von Kultur oder Zivilisation als Ergebnis menschlichen Tuns und Handelns, sprich: als Ergebnis der Geschichte.
[30] Es ist sehr aufschlussreich, dass im zitierten Eurobarometer Kultur und Geschichte unverändert die beiden ersten Plätze belegen, wenn es um die Frage geht, was die Europäerinnen und Europäer am meisten vereint. Dies ist zweifellos Resultat der Schul- und Bildungssysteme in Europa und der vermittelten Inhalte, es ist Resultat öffentlicher Reden und Diskurse, in denen bestimmte, in der Aufklärung systematisch erarbeitete Inhalte immer wieder bestätigt werden.
[31] Diese Säule der Idee Europa trägt unverändert, auch wenn sich der Kultur- oder Zivilisationsbegriff langsam zu ändern beginnt. Am deutlichsten wird das an den Kontroversen, wenn nicht Konflikten, um Multikulturalität und global auftretende kulturelle Phänomene. In der Praxis sind es die durch digitale Medien entstandenen Frei- und Realisierungsräume für individuelle kulturelle Kreativität, die aus der Kultur als System, wie es die Aufklärung durchdacht hat, einen kulturellen Hypertext entstehen lassen, der keinen umfassenden kulturellen Deutungsanspruch hat.
[32] Kehren wir ins 18. Jahrhundert zur zweiten Säule der Idee Europa zurück, dem europäischen Staatensystem. Aus der Idee von der Christlichen Republik um 1500 war die rationalere Idee des Staatensystems geworden, dessen Entstehung in geschichtsphilosophischen, kulturgeschichtlichen, politikgeschichtlichen und Unterrichtswerken ausgebreitet wurde. Zu dem Zeitpunkt handelt es sich um ein System monarchisch-dynastischer Staaten; auch die wenigen ‚Republiken‘, die es gab (Venedig z.B.) waren keine Republiken im heutigen Wortsinn, sondern Patrizierherrschaften mit deutlich monarchischen Verfassungsbestandteilen.
[33] Die Gründer der Vereinigten Staaten von Amerika wie die Französische Revolution griffen das monarchisch-dynastische Prinzip an und setzten an dessen Stelle das Prinzip der Volkssouveränität mit einer repräsentativdemokratischen Verfassung. In den USA klappte dies auf Anhieb und dabei blieb es bis heute, in Frankreich setzte sich mit Napoleon I. schon 1804 wieder die Monarchie, dieses Mal als Kaisertum, durch und wurde erst 1871 nachhaltig – abgesehen von der Unterbrechung durch den sogenannten Etat français des Marschalls Pétain von 1940 bis 1944 – abgeschafft. Der Großteil der anderen europäischen Staaten blieb trotz der Revolutionen von 1830 und 1848 beim monarchisch-dynastischen System, in dem aber zunehmend konstitutionelle Elemente den Weg für die späteren Demokratien bereiteten.
[34] Schon die monarchisch-dynastischen Staaten des 18. Jahrhunderts hatten den Weg hin zum Nationalstaat beschritten, der früher oder später überall in Europa zur ‚Norm‘ wurde. Das ist im Detail sehr differenziert zu betrachten, aber die Grundtendenz ist sehr gut erkennbar. Demokratie als Norm des Nationalstaats konnte sich nur nach dem Prinzip von Flut und Ebbe allmählich durchsetzen. Wenn wir uns bereitfinden, scharf und kritisch zu analysieren, so ist selbst heute im Jahr 2016 Demokratie im vollgültigen Sinn nach wie vor nur in Teilen Europas verwirklicht.
[35] Aus dem 18. Jahrhundert verblieben ist folglich die politische Idee vom europäischen Staatensystem, das es mittels einiger gemeinsamer Institutionen zu organisieren gilt. Im 18. Jahrhundert wurden unter Rückgriff auf das ein oder andere ältere Denkmodell seit dem 14. Jahrhundert hierfür meistens ein Schiedsgericht und eine Versammlung, sei es der Fürsten, sei es eines leicht erweiterten Kreises im Sinne eines „Reichstages“ vorgeschlagen. Grundlage sollte ein gemeinsamer Vertrag sein.
[36] Diese Tradition einer speziellen europapolitischen Philosophie lässt sich unschwer in den nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Institutionen wieder erkennen, und der Generation von Winston Churchill waren diese historischen Europapläne sehr wohl vertraut.
[37] Wenn es nach dem Fall des Eisernen Vorhangs 1989 eine Zeit lang so aussah, als könnte das Konzept vom europäischen Staatensystem in das Konzept eines europäischen Bundestaates transformiert werden, dann haben die vergangenen Jahre gezeigt, dass das nicht nur nicht geschehen ist, sondern spätestens mit dem EU-Vertrag von Lissabon 2007 das Prinzip des Staatensystems, bestehend aus Nationalstaaten, bekräftigt und gestärkt wurde.
[38] Äußerlich betrachtet ist der Fortschritt gegenüber dem späteren 18. Jahrhundert gering, denn schon damals gehörten später supranational genannte Elemente zur Idee des Staatensystems dazu. Und wenn man sich vor Augen hält, dass Europa in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ohne so etwas wie einen EU-Vertrag und EU-Binnenmarkt recht ausgezeichnet als europäischer Binnenmarkt funktionierte, wird man ziemlich nachdenklich werden müssen und sich fragen, was diesen Kontinent denn eigentlich daran hindert, im Jahr 2016 europäischer und vereinter zu sein als um 1880 oder 1890.
[39] Kants Friedensidee beruhte auf der Prämisse, dass es rechtsstaatlich organisierte Staaten – was durchaus Monarchien sein konnten – seien, die das Vermögen zu einem dauerhaften Frieden besäßen. Diese Kernidee wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts ausgebaut und zwar sowohl im Hinblick auf Europa wie auch, verstärkt seit dem späteren 19. Jahrhundert, im Hinblick auf eine universale Staatengemeinschaft.
[40] In Bezug auf Europa formierte sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Idee von den Vereinigten Staaten von Europa. Bezeichnung und Idee leiten sich von den USA ab, es spielte aber auch der Leitbegriff der Brüderlichkeit aus der Französischen Revolution eine Rolle. Außerdem provozierte das reaktionäre System, das nach dem Wiener Kongress von 1815 Platz griff, alternative Europakonzepte. Auch die Versprechungen der Heiligen Allianz vom Herbst 1815, die zunächst in Europa und den USA als Beginn einer konfessionsneutralen christlichen Völker- und Staatengemeinschaft begrüßt worden waren, mündeten sehr schnell in Enttäuschungen.
[41] Das Konzept der Vereinigten Staaten von Europa war vor allem auf den Pazifistenkongressen, die 1849 im Kontext der Revolutionen von 1848 starteten, populär und ging von sich zueinander brüderlich verhaltenden Nationalstaaten aus. Diese politische Idee war sowohl auf Europa selber wie auf ein internationales Staatensystem anwendbar.
[42] Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts war nicht nur die Epoche von zunehmend aggressivem Nationalismus, der in enger Verbindung zum Imperialismus stand, sondern sie entwickelte sich auch zu einer ersten Hochzeit des Pazifismus und Internationalismus. In diesem Umfeld gedieh die Europaidee von den Vereinigten Staaten von Europa. Es lässt sich bilanzieren, dass damals ein neuer Humanismus entstand, dessen praktisches Wirken als Humanitarismus bezeichnet wird. Dem politisch-philosophischen Humanismus und praktischen Humanitarismus konnte der Erste Weltkrieg ebenso wenig etwas anhaben, wie der Idee vom Kultur sein Europas, sodass noch im Krieg selber für die Idee eines Völkerbundes geworben wurde.
[43] Dass dieser tatsächlich zustande kam, war alles andere als selbstverständlich. Aber er kam zustande und führte zur Gründung einer Vielzahl zivilgesellschaftlicher Vereinigungen, in denen die ideelle Verknüpfung von Völkerbundidee, Pazifismus, Demokratie, Frauenrechte, Kinderrechte, Minderheitenrechte und allgemein Menschenrechte zur tragenden Säule wurde. Da der Völkerbund als Bund der Völker der Welt und nicht nur Europas konzipiert war, stellte sich in den Diskussionen immer die Frage, ob es eines besonderen Bandes zwischen den europäischen Staaten überhaupt noch bedürfe. Die praktische Entwicklung in Europa sprach für das Ziel Vereinigter Staaten von Europa unter dem Dach des Völkerbundes. Faktisch dieselbe Diskussion wurde noch einmal in Widerstandskreisen im Zweiten Weltkrieg und im Zusammenhang der Pläne für die spätere UNO als neuem Völkerbund geführt, letztlich mit demselben Ergebnis, dass es einer eigenständigen Organisationsform für die europäische Zusammenarbeit wenn nicht Europäische Föderation im Einklang mit den Vereinten Nationen bedürfe.
[44] Außer der heute vielen bekannten Pan-Europa Bewegung des Grafen Coudenhove-Kalergi, die dieser von einem Büro in der Wiener Hofburg aus lenkte, und dem Europaplan des französischen Außenministers bzw. Ministerpräsidenten Aristide Briand von 1929/1930, setzten sich generell die pazifistischen Vereine, die, auf Europa gerechnet, auf einige Hunderttausend Mitglieder kamen, während die ausdrücklichen Europavereine oder Bewegungen jeweils höchstens ein paar Tausend Mitglieder rekrutieren konnten, für die Idee der Vereinigten Staaten von Europa ein.
[45] Die nationalen Menschenrechtsligen, die sich 1922 auf Betreiben der französischen Menschenrechtsliga, 1898 gegründet, und der deutschen Liga (Bund Neues Vaterland – Deutsche Liga für Menschenrechte) zur Internationalen Liga für Menschenrechte zusammenschlossen, füllten die Idee von den Vereinigten Staaten von Europa inhaltlich mit Demokratie und Menschenrechten konkret aus und veranstalteten 1926 ihren internationalen Ligakongress in Brüssel zum Thema eben der Vereinigten Staaten von Europa.
[46] Wir wissen zur Genüge, dass die Ausbreitung des Faschismus, beginnend in Italien mit Mussolini schon 1919, des Autoritarismus, des Nationalsozialismus, der Falange in Spanien usw. alle diese Bemühungen ins Leere laufen ließ, aber die Europaidee der Vereinigten Staaten von Europa, beruhend auf dem Kultur sein Europas und dem demokratischen Rechtsstaat, der die Menschenrechte garantiert, überlebte aktiv im europäischen Widerstand und in den Köpfen vieler Menschen, die dann nach dem Zweiten Weltkrieg den Weg in die neuen Europabewegungen und Europavereine fanden.
[47] Die Europakonzepte, die im europäischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg entstanden, präzisierten und konkretisierten den Europaidealismus der Zwischenkriegszeit. Viele Pläne aus dieser Zeit – und es handelt sich immerhin inzwischen um 70 Jahre – gehen weit über das hinaus, was wir heute mit der EU oder auch dem Europarat haben. Die kühnsten Pläne hatten gewissermaßen einen gesamteuropäischen ‚Nationalstaat‘ zum Ziel – und noch in den 1960er-Jahren stellte man die Frage, ob Europa inzwischen „eine Nation im Werden“ sei?
[48] Die Entscheidungen, die ab 1948 in Bezug auf die Errichtung gemeinsamer europäischer Institutionen getroffen und umgesetzt wurden, hatten mit diesen kühnsten Plänen nichts zu tun. Was tatsächlich bewerkstelligt wurde, war, in den Worten des Historikers Alan S. Milward, „die Rettung des Nationalstaats“. Sprich, die Rückkehr zur Idee des Staatensystems, dieses Mal jedoch als System zwar nationaler, aber demokratischer Staaten, die sich zugleich – im Gegensatz zum sowjetischen Ostblock – als wahrer Ausdruck der Kultur Europa verstanden. Die sechs Gründungsmitglieder der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl sowie der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft reklamierten die Bezeichnung Europa für sich, wobei die Tür für andere Mitglieder rhetorisch und praktisch offen gehalten wurde.
[49] Man kann sich darüber streiten, ob der gleich nach dem Zweiten Weltkrieg eingeschlagene Weg „alternativlos“ gewesen war, um eine aktuelle Vokabel zu bemühen, oder ob nicht andere Optionen, zu denen etwa die direkte Wahl eines europäischen Parlaments zählte, die bekanntlich dann erst 1979 eingeführt wurde, doch auch hätten gezogen werden können.
[50] Der Befund zu den Entscheidungen, die 1948 zum Europarat, 1950 zur EGKS und 1957 zur EWG führten, eröffnet in Bezug auf die Idee Europa zwei Perspektiven, die für uns im Jahr 2016 und in den nächsten Jahren relevant sind.
[51] Erstens: Entstanden ist eine Präzisierung der Europaidee, die sich so formulieren lässt: „Unter Europa-Idee (seit Ende des Zweiten Weltkriegs) ist Folgendes zu verstehen: EU-Staaten, deren Verfassungen auf Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Menschenrechten, Achtung von Menschenwürde und Grundfreiheiten basieren, arbeiten für das Ziel eines dauerhaften und allgemeinen Friedens im Innern wie im Äußern sowie zur Mehrung des Wohlstands für alle so eng wie möglich zusammen und gründen gemeinsame Institutionen auf Grundlage eines völkerrechtlichen Vertrages (EU-Vertrag), um diese Ziele zu erreichen. Sie übertragen ein Stück Souveränität auf diese Institutionen, kooperieren in gegenseitiger Achtung, gehen ehrlich miteinander um, entwickeln die Ziele fort und respektieren die geschlossenen Vereinbarungen. Über den Buchstaben des gemeinsamen Rechts hinaus verhalten sie sich solidarisch, verlässlich und zuverlässig.“ (WS in Wiener Zeitung, 23.9.2016)
[52] Diese Europaidee ist Ergebnis der damals getroffenen Entscheidungen. Das ist eine ganze Menge – und wenn sich alle Mitgliedsstaaten daran halten und entsprechend verhalten würden, gäbe es zwar immer noch unterschiedliche Auffassungen in Bezug auf Problemlösungsstrategien, aber es gäbe keine EU-Krise.
[53] Die zweite Perspektive, die sich aus der Betrachtung der 1940er- und 1950er-Jahre ergibt, bezieht sich auf das Verhältnis Europa – Bürgerinnen und Bürger. Bis ca. 1960 – ein genaues Jahr lässt sich nicht benennen – wurde die Europaidee von einer starken ideellen und emotional positiven Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger getragen. Dieser psychologisch vorteilhafte Schwung ging allerdings seines Anlasses verlustig. Das europäische Projekt wurde den europabegeisterten Bürgerinnen und Bürgern entzogen. Das hat weniger mit den Institutionen selber zu tun als vielmehr mit der Missachtung wichtiger Teile der Europaidee durch einzelne Mitglieder – ich erinnere an die Politik des leeren Stuhls durch Frankreich von Mitte 1965 bis Ende Jänner 1966 – oder auch durch alle, indem man sich schnell auf basarmäßiges Feilschen verlegte.
[54] Das sehr starke nationalistische Verständnis vom einzelnen Mitgliedsstaat als Nationalstaat, dessen Ziel der Mitgliedschaft mehr der unmittelbare nationale denn der erst mittelfristig auch national rentable Gemeinschaftsvorteil wurde, verhinderte eine kontinuierliche Demokratisierung der europäischen Gemeinschaft.
[55] Die Europaidee, die nach dem Zweiten Weltkrieg wirksam war und die ich oben versucht habe mit eigenen Worten auszuformulieren, bedarf der Fortentwicklung. Im Grunde ist seit drei wenn nicht vier Jahrzehnten klar, worin diese Fortentwicklung bestehen muss, nämlich in der Demokratisierung der Europäischen Union. Dafür spricht nicht nur demokratischer Idealismus sondern auch der Blick auf das von den Europäerinnen und Europäern gelebte Europa.
[56] Die persönlichen, insbesondere Arbeitnehmer-Freizügigkeiten, die mit dem Binnenmarkt geschaffen wurden, werden von Millionen von EU-Bürgerinnen und Bürgern genutzt. Über 40% würden ein in der EU harmonisiertes Sozial- und Wohlfahrtsystem begrüßen, ein gutes Drittel fände es gut, die Pension in dem EU-Land zu beziehen, wo man sich in der Pension niederlässt, ein Drittel wünscht eine hürdenlose Anerkennung von Berufsabschlüssen aus allen EU-Ländern in allen EU-Ländern. [Eurobarometer „40 years“]
[57] Solche Antworten hängen mit den Erfahrungen und Problemen zusammen, die die praktische Nutzung der Binnenmarktfreizügigkeiten mit sich bringen können. Hinter diesen Prozentzahlen stehen 170 bis 200 Millionen EU-Bürgerinnen und Bürgern jeden Alters. Von zu wenig Nachfrage nach mehr Europa kann somit keine Rede sein, im Gegenteil.
[58] Eine Fortentwicklung der Europaidee kann an solche Haltungen anknüpfen. Historisch gesehen würde es Sinn machen, den Typus der europäischen Demokratie voranzutreiben. So könnten alle Mitgliedsländer jenen EU-Bürgerinnen und Bürgern, die aus beruflichen, familiären oder anderen Gründen in ein anderes EU-Land übersiedelt sind, dasselbe Wahlrecht wie den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern auf allen Ebenen gewähren. Über eine eventuelle Harmonisierung der Elemente direkter Demokratie sollte zumindest EU-weit diskutiert werden. Diese sind in den Verfassungen der einzelnen Länder sehr unterschiedlich geregelt, eine Harmonisierung könnte die Gefahren des Missbrauchs von Volksabstimmungen durch populistische und propagandistische Instrumentalisierungen mindern helfen.
[59] Schließlich könnte ein Instrument, das ich das Europäische Referendum nenne, die Bindung zwischen EU und Bürgerinnen und Bürgern wieder intensivieren. Die wesentlichen Fragen der EU, nämlich EU-Vertrag, Beitritt eines Landes, Austritt eines Landes, die alle gleichermaßen betreffen, sollten den Europäerinnen und Europäern in einem EU-weiten Referendum vorgelegt werden. Auch Beitritt und Austritt sind keine nationalen Angelegenheiten, denn beides betrifft immer alle.
[60] Sicherlich wird in allen drei Fällen die Messlatte sehr hoch gelegt, aber dies zwingt zu einer intensiven öffentlichen EU-weiten Diskussion, die den Ausbau der nur rudimentär vorhandenen europäischen Öffentlichkeit ebenso befördern würde, wie die Entstehung eines echten europäischen Demos.
[61] Hier sollte die weitere Diskussion über die Idee Europa ansetzen und ich denke, diese Diskussion ist es wert geführt zu werden.
Dokumentation:
Der Blogeintrag stellt die schriftliche Fassung meines Vortrages „Die Idee Europa“ auf dem „Montagsforum“ Dornbirn, 5. Dezember 2016, dar.
Literatur:
Wolfgang Schmale: Geschichte Europas (2000). Reprint elektronisch 2014.
Geschichte und Zukunft der Europäischen Identität (2008 und 2010).
Gender and Eurocentrism. A conceptual approach to European history (2016).
Erdteilallegorien: Datenbank und Buch.
Derek Heater: Europäische Einheit – Biographie einer Idee (2005).
Geschichte des Begriffs „Zivilisation“ bzw. „Kultur“: Jörg Fisch, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 7.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Die Idee Europa. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/idee-europa, Eintrag 05.12.2016 [Absatz Nr.].