Warum „Mein Europa“?
[1] Es geht um Identität, um europäische Identität. Der Unterschied zu gängigen Diskussionen um europäische Identität besteht darin, dass „Mein Europa“ bei einer individuellen europäischen Identität ansetzt. Die Frage, ob es eine kollektive europäische Identität gibt, bleibt dabei offen. Individuelle europäische Identitäten können sich zu einer im Resultat kollektiven europäischen Identität verflechten, aber wenn sie das tun, handelt es sich um einen Prozess von unten her, nicht um eine politisch gewollte kollektive europäische Identität, zu deren Realisierung Identitätspolitik von oben betrieben wird.
[2] Europäische Identität lässt sich nicht verordnen, sondern sie entsteht aus der millionenfachen Verflechtung und Vernetzung individueller „Mein-Europa-Identitäten“.
[4] Der Begriff Identität ist zuletzt ins Gerede gekommen, weil er wieder zunehmend rechts- bzw. nationalpopulistisch besetzt wird. Organisierter Ausdruck für die Einvernahme des Identitätsbegriffs für ideologische Zwecke sind die „Identitären“, die es in vielen europäischen Ländern gibt. Die Herausforderung Europas durch steigende Migrationszahlen hat aber auch viele PolitikerInnen der sogenannten Mitte dazu gebracht, nationale kollektive Identität als Zuflucht zu wählen. In diesen Zusammenhängen wird Identität zum Kampf- und Abwehrbegriff. Dies gehört ebenso zu den ideologischen Grundlagen des Brexit wie regionaler Abspaltungs- bzw. Exituspolitiken.
[5] Der Begriff ist aus ähnlichen Gründen auch wissenschaftlich ins Gerede gekommen. Die Gefahr, Identität unreflektiert als essentialistischen Begriff zu verwenden, besteht. In einer flüssig gewordenen Welt mit ihren echten und gefühlten Unsicherheiten wird Identität im politischen Diskurs zum vermeintlich sicheren Hafen. Gemeint sind kollektive Identitäten wie nationale oder eine europäische oder auch eine regionale, die wie im Fall Kataloniens, zu einer nationalen nicht-spanischen erklärt wird. Eine wissenschaftliche Betrachtung muss sich davon frei machen.
[6] Die Existenz kollektiver und essentialistischer Identitäten soll nicht von vorneherein in Abrede gestellt werden, aber keineswegs alle Menschen, die zu einem Kollektiv gehören, das dazu erklärt bzw. sozial konstruiert wurde wie etwa die Nation, teilen diese Identität. Kollektive Identitäten sind immer auch Gegenstand von Identitätspolitik, und die findet ihre raison d’être in der Exklusion und weniger oder gar nicht in der Inklusion. Um die individuellen Identitäten schert sie sich nicht oder nur dann, wenn sie zur Identitätspolitik passen.
[7] Die Verbindung zwischen „Mein Europa“ und „europäische Identität“ steht gegen Identitätspolitik. Zwar kann die Praxis des „Mein Europa“ politisch gefördert werden wie durch die europäischen Mobilitätsprogramme, aber die Förderung kommt dem Einzelnen zugute und schreibt ihm nicht vor, was sie oder er daraus zu machen hat in puncto Identität. Da wird vielleicht etwas oder vielleicht auch nicht. Eine Identitätspolitik kann mit diesem „vielleicht“ nichts anfangen.
[8] Die Kritik am Identitätsbegriff reicht noch weiter bis hin zur Infragestellung von Identität als etwas Wirklichem. Freilich ist eine eingebildete und/oder sozial konstruierte Realität eine Realität. Wenn ich an etwas glaube und danach lebe, ist es Realität. In dieser Beziehung macht es keinen Sinn, den Begriff der Identität fundamental infrage zu stellen. Jede/r hat sozusagen ein Recht auf anhaltende Selbsttäuschung, wenn es denn eine ist.
[9] Richtig ist aber in einer immer flexibleren und flüssigeren Welt wie der unsrigen, dass das Urbild einer individuellen essentialistisch interpretierten Identität, die sich biografisch aufbaut, wie es dem Entwicklungsroman des 19. Jahrhunderts in der Folge der Aufklärung zugrunde gelegt wurde, die Daseinsrealitäten nicht mehr erfassen kann. Hybride, gebrochene, polymorphe, flexible Identitäten und viele andere Formen mehr sind zu beobachtbar.
[10] Eine eventuelle individuelle europäische Identität setzt die Herausbildung eines „Mein Europa“ voraus. Dessen Herausbildung ist eine Frage der Biografie, also auch der Zeit und der gemachten Erfahrungen. Das klingt, als solle ein kontinuierlicher Prozess der Herausbildung eines „Mein Europa“ unterstellt werden. Das ist aber nicht der Fall und es gibt ebenso wenig eine Notwendigkeit, das vorab anzunehmen oder zu unterstellen.
[11] Identität wird im Zusammenhang der großen Kollektive wie Nation oder Europa, aber auch der kleineren wie Region, Stadt/Dorf oder Familie, positiv wertbesetzt gedacht. Identität wird in der Regel als tragend angesehen. Daher werden individuelle Identitäten, die dem nicht entsprechen, ausgeschlossen.
[12] Wenn wie hier von der Prämisse ausgegangen wird, dass aus individuellen „Mein-Europa-Identitäten“ eine kollektive europäische Identität entstehen kann, aber nicht zwingend muss, muss jederzeit nachgeprüft werden, ob und wo eventuell im Herausbildungsprozess die Sache in die Exklusionsfalle kippt.
[13] Für viele Menschen in Europa gehören Kriegserfahrungen zum Leben, zu ihrem Europa. Doch besteht die Frage, wo diese Erfahrungen ‚abgelegt‘ werden: In „Mein Europa“ oder z. B. in einem ‚dunklen‘ nationalen Raum, wo der Krieg stattfand und der nicht in „Mein Europa“ aufgenommen wurde, weil dieses die Hoffnungen auf ein Leben in Frieden oder allgemeiner positive Zukunftserwartungen aufgenommen hat?
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Mein Europa – Entwurf zu einer Praxeologie (Teil III). In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/ mein-europa-entwurf-zu-einer-praxeologie-3, Eintrag 01.02.2018 [Absatz Nr.].