[1] Das Jüdische Museum Wien [http://www.jmw.at/] zeigt als permanente Ausstellung „Unsere Stadt! Jüdisches Wien bis heute“ und als aktuelle Ausstellung „Ringstrasse. Ein jüdischer Boulevard“ [Dorotheergasse, 1. Bezirk].
[2] Das „unsere Stadt“ bezieht sich auf Wien als Heimat einer der vor 1938 größten jüdischen Gemeinde in Europa, die Ausstellung zur Ringstraße vertieft diesen Gedanken in Bezug auf eine Phase städtebaulicher Entwicklung, die Wien bis heute ebenso tiefgreifend und anhaltend prägt wie beispielsweise Paris durch die Haussmann’schen Boulevards geprägt geblieben ist. Viele der schönsten Palais an der Ringstraße wurden von jüdischen Familien erbaut, die zugleich insgesamt als Mäzene wirkten und sich karitativ für die jüdische und nichtjüdische Bevölkerung engagierten.
[3] Ich möchte den Gedanken des „unser“ weiterdenken. Victor Karady hat in seinem Buch über „Juden in der europäischen Moderne“ [s. unten Dokumentation] dargestellt, dass die Moderne ohne den jüdischen Beitrag so nicht stattgefunden hätte. Die Moderne ist immer noch die Grundlage unserer Zeit, sei es in dem Sinne, dass die „Postmoderne“ die Moderne unbedingt voraussetzt, oder dass von der „zweiten Moderne“ (Ulrich Beck) gesprochen wurde, um die Verflechtung unserer Zeit mit der Moderne, die wir zu einem wichtigen Teil dem jüdischen Beitrag verdanken, auszudrücken.
[4] Ich möchte weiterführend Christina von Braun [s. unten Dokumentation] zitieren: „Deshalb spielte an vielen ‚Schaltstellen‘ der abendländischen Geistesgeschichte immer wieder ‚jüdisches Denken‘ eine wesentliche Rolle – gleichgültig, ob es als ‚innovativ‘ begrüßt oder als ‚zersetzend‘ bekämpft wurde. Das bedeutet freilich, daß der abendländische Motor ohne die Fragen, die das ‚jüdische Denken‘ ihm stellt, schon längst zum Stillstand gekommen wäre und daß das ‚jüdische Denken‘ einen wichtigen Anteil hat an den historischen Entwicklungen des griechisch-christlichen Denkens.“ Ähnlich hat Rémi Brague [s. unten Dokumentation] von der jüdischen Religion und Kultur als der ursprünglichen im Verhältnis zum Christentum gesprochen – wie von der griechischen Kultur als der ursprünglichen im Verhältnis zur römischen.
[5] Es handelt sich um Grundlegungen, die bis heute wirken, es handelt sich um die „Wurzeln europäischer Kultur“. Aber nicht nur das. Nach einer wechselvollen Geschichte – in Bezug auf das Verhältnis von Christen und Juden – beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine neue Phase kultureller Grundlegung, die letztlich als Moderne bezeichnet werden wird, die in ihrer Wirkmacht jener ursprünglichen verglichen werden kann. Ohne eine Vorbereitung, wie sie die Aufklärung des späten 18. Jahrhunderts ausmachte, wäre dies vielleicht anders gewesen, doch haben viele, darunter Dominique Bourel in seinem Buch über Moses Mendelssohn [s. unten Dokumentation] nachgewiesen, dass speziell die deutsche Aufklärung ganz wesentlich durch die jüdische Aufklärung beeinflusst und entwickelt wurde.
[6] Mit diesen Gedanken im Kopf sehe ich die Ausstellungen im Jüdischen Museum Wien und frage, ob nicht das „unser“ entgrenzt zu lesen ist als die eine gemeinsame verflochtene Kultur Europas. Wann wird es verstanden werden, dass die europäische Kultur nichts ohne die jüdische Kultur ist?
[7] Wir können es dieser Tage auf uns wirken lassen: Es wurde und wird der Befreiung der Konzentrationslager gedacht. Jüdische Überlebende der Konzentrationslager nehmen im hohen Alter beschwerliche Reisen auf sich, um den Gedenkfeiern beizuwohnen, das Wort zu ergreifen, für Interviews zur Verfügung zu stehen, in Schulen und Universitäten zu gehen und zu den Generationen zu sprechen. Ermessen wir, was es für die gegenwärtige europäische Kultur bedeutet, dass dies so ist? Ich möchte dies, in Anlehnung an die Worte von Christina von Braun, als eine aktuelle „Schaltstelle“ der europäischen Kultur bezeichnen.
Dokumentation:
Victor Karady: Gewalterfahrung und Utopie. Juden in der europäischen Moderne. Frankfurt am Main 1999 (Europäische Geschichte).
Christina von Braun: Versuch über den Schwindel. Religion, Schrift, Bild, Geschlecht. Zürich, München, 2001; Zitat S. 121.
Rémi Brague: Europa – eine exzentrische Identität. Frankfurt am Main 1993 (besonders Kapitel III).
Dominique Bourel: Moses Mendelssohn, Begründer des modernen Judentums. Zürich 2007.
Ausstellungskataloge:
Unsere Stadt! Jüdisches Wien bis heute. Herausgegeben von Werner Hanak-Lettner und Danielle Spera im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Wien, o.J. (die Ausstellung wird seit 19.11.2013 gezeigt).
Ringstrasse. Ein jüdischer Boulevard. A Jewish Boulevard. Herausgegeben von Gabriele Kohlbauer-Fritz im Auftrag des Jüdischen Museums Wien. Wien 2015 (die Ausstellung wird vom 25. März bis 4. Oktober 2015 gezeigt).
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Ohne die jüdische Kultur ist die europäische Kultur nichts. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/ohne-die-juedische-kultur-ist-die-europaeische-kultur-nichts, Eintrag 12.05.2015 [Absatz Nr.].