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Europa und die Menschenrechte im Jahr 2015 – Kritische Betrachtung

Menschenrechte Paris Place de la Republique
Datum: 25 Apr. 2015
Von: Wolfgang Schmale
Tags: Europa, Flüchtlinge, Geschichte, Menschenrechte, Projekt Europa
Kommentare: 2

[vc_row el_class=“beitrag“][vc_column width=“1/1″][vc_column_text]Die Europäische Union braucht ein großes Ziel – dieses Ziel soll lauten: „Machen wir Europa zum Kontinent der Menschenrechte!“

[1] Geschichtlich stand hinter den Menschenrechten der Gedanke, Menschen vor denjenigen zu schützen, die Macht besaßen und die diese unter Außerachtlassung der Regeln des guten Regierens ausübten. Diese Auffassung lässt sich in Europa ohne weiteres bis in das Mittelalter zurückverfolgen. Das „gute Regieren“ oder, wie in der frühen Neuzeit, die „gute Policey“ traf als Anspruch nicht nur auf den Herrscher zu, sondern im Prinzip auf alle, die Macht besaßen, also etwa Grundherren, Feudalherren. Die zu respektierenden fundamentalen Regeln fand man im göttlichen Recht, im Naturrecht und in einer Reihe offenkundiger Notwendigkeiten, die sich in der Idee eines Rechts auf Subsistenzsicherung zusammenfassen lassen. Einem Bauern seinen Ochsen und Pflug wegen Schulden zu pfänden, verstieß nicht nur moralisch dagegen, sondern es gab fast überall auch schriftlich fixierte Rechtsnormen, also positives einklagbares Recht, das das verbot.

[2] Den Bevölkerungen war die Durchsetzung dieser Regeln zahllose, oft gewaltsame Konflikte sowie teure Gerichtsprozesse wert. Man konnte darüber „seine Armut verrechten“, wie es in der frühen Neuzeit so treffend formuliert wurde, sprich, selbst Menschen mit geringem Einkommen beteiligten sich am Widerstand gegen Unrecht.

[3] Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts wurde die rechtliche Substanz, die gemeint war, gelegentlich als „Menschenrecht“ bezeichnet, doch gängig und häufig wurde diese Bezeichnung erst im Zuge der Französischen Revolution. Sie ging mit einer Kanonbildung der Menschenrechte einher. Außerdem wurden die Regeln des guten Regierens auf die höchste Stufe von Verbindlichkeit und Verpflichtung angehoben – in Gestalt einer schriftlichen Verfassung, wie wir dies aus den nordamerikanischen Staaten, die sich zu den Vereinigten Staaten von Amerika zusammenschlossen, als auch von Frankreich 1789-1791 kennen. Die Kombination all dieser Faktoren, die das moderne Verfassungswesen kennzeichnen, ist erst für das späte und revolutionäre 18. Jahrhundert charakteristisch, auch wenn die Geschichte eine lange Reihe von Fundamentalgesetzen (Magna Charta und viele andere) aufweist, die als ferne Vorläufer schriftlicher Verfassungen gelten können.

[4] Die Erkämpfung und Durchsetzung von Grund- und Menschenrechten war ein blutiger Prozess. In der Französischen Revolution brachte es einmal ein einfacher Soldat (Nationalgardist) auf den Begriff: „Das Blut der Freiheit“ (s. unten Dokumentation).

[5] Mit der Formulierung von Menschenrechtserklärungen und der Ausarbeitung verbindlicher Verfassungstexte wie in Nordamerika und in Frankreich am Ende des 18. Jahrhunderts war noch nicht wirklich viel gewonnen. Obwohl in Europa die Meinung weit verbreitet ist, dass die Idee der Menschenrechte eine europäische sei, hat dies, wenn es denn in dieser Form stimmen würde, Europa nicht zum Kontinent der Menschenrechte gemacht – weder als direkte Folge der Revolutionen von 1789, 1830 und 1848 noch als Folge des Umbruchs – oder auch Revolution – von 1989-1991. Es ist nicht in Abrede zu stellen, dass seit dem Zeitalter der sogenannten Atlantischen Revolution (Nordamerika und Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts) um die Verankerung und Garantie der Grund- und Menschenrechte gekämpft wurde, aber die Bilanz bis zum Zweiten Weltkrieg war erschreckend negativ: Wenn wir vom vollumfänglichen Verständnis der Dreiheit „Rechtsstaat – Demokratie – Menschenrechte“ ausgehen, haben wir bis heute, auch in Europa – erstaunlich wenig.

[6] Diese nüchterne Feststellung bedeutet nicht, Fortschritte zu übersehen. Die Bürgerinnen und Bürger mit dem roten EU-Pass genießen im Grundsatz einen hohen Menschenrechtsschutz, den sie erforderlichenfalls gerichtlich durchsetzen können. Dies wird getragen von den nationalen Verfassungen, von der EU-Grundrechte-Charta und von der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats, dem alle EU-Mitgliedsstaaten ebenfalls angehören. Dasselbe trifft auf Länder wie die Schweiz und Norwegen, die nicht der EU angehören, ebenfalls zu. In diesem größeren Teil Europas ist das historische Ziel, die Bürgerin und den Bürger wirkungsvoll in Bezug auf die Menschenrechte vor staatlichem Unrecht zu schützen, systemisch umgesetzt und damit erreicht, was Kritik an der Praxis keineswegs ausschließt. Die Menschenrechte sind auch keine Männerrechte mehr wie um 1789, sondern ebenso Frauen- und Kinderrechte. Der frühere geschlechtsspezifische diskriminierende Bezug ist weitgehend, auch gegenüber Trans- und Intersexuellen, auf der normativen Ebene abgebaut. In anderen europäischen Ländern gibt es weiterhin zum Teil erheblichen Nachholbedarf.

[7] Bleiben wir bei dem Teil Europas, der für seine Staatsbürgerinnen und -bürger vergleichsweise hohe Standards systemisch garantiert: Der Begriff Menschenrecht bezieht sich auf d e n Menschen und nicht nur auf die Menschen, die Staatsbürger/innen eines EU-Staats oder eines europäischen Staats mit gleichem Standard sind. Im Sinne des Begriffs Menschenrecht werden die Erfordernisse des Menschenrechtsschutzes nicht erfüllt. Es ist nicht nur das Drama der Mittelmeerflüchtlinge, das uns das beweist, aber es ist die eindringlichste und schrecklichste Form der Mahnung.

[8] Bei kritischer Betrachtung der historischen Entwicklung der Menschenrechte in Europa muss festgestellt werden, dass bisher ein ungeteilter Menschenrechtsbegriff, wie es ebenso logisch wie konsequent wäre und wie es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 richtig fordert, in Europa bisher keine Geltung gehabt hat: Die nordamerikanischen Revolutionäre – man kann diese Revolution nicht vom damaligen Europa trennen – hatten nur den „white Englishman“ im Blick (s. unten Dokumentation). Die französischen Revolutionäre hatten anfangs nur die Männer im Blick, zwischendurch wurde wenigstens die Sklaverei abgeschafft, Menschenrechte als Frauenrechte gab es nicht. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde im Zuge der sich entwickelnden Anthropologie als Wissenschaft, die zunehmend eine „Rassenkunde“ wurde, der Begriff des Menschen seines universalen Kerngehalts entleert. Die schlimmsten rassistischen Verkürzungen des Menschenbegriffs hat Europa weitgehend – bestimmte politisch-ideologische Bewegungen freilich nicht – überwunden, aber muss man nicht annehmen, dass die historische Verengung des Menschenbegriffs auf den „homo europaeus“, wie Carl von Linné ihn 1735 in „Systema Naturae“ nannte (s. unten Dokumentation), nachwirkt? Wird die Politik in Bezug auf die Mittelmeerflüchtlinge wegen der im europäischen Regierungsdiskurs genannten Argumente nicht geändert oder hat es im Grunde nicht doch damit zu tun, dass die Konsequenz aus dem universal zu verstehenden Menschenbegriff, wie in Europa schon bisher nicht, nicht gezogen werden soll? Wer ist bereit anzuerkennen, dass die Flüchtlinge aus der nördlichen Hälfte Afrikas, aus dem Nahen Osten und zum Teil weiter entfernt liegenden Regionen, dasselbe erkämpfen wollen, wie Menschen in Europa in der frühen Neuzeit, im 18. Jahrhundert, im 19. Jahrhundert, im 20. Jahrhundert?

[9] Die vielen „Aber“, die ein historischer Vergleich offenlegen würde, gelten dennoch nicht, weil trotz der äußerlichen Aufrechterhaltung des Nationalstaatsprinzips die globale Vernetzung das Entscheidende ist. Hinzukommt, dass die beiden Weltregionen, aus denen die meisten Flüchtlinge über das Mittelmeer in das EU-Europa fliehen, nicht weniger als seit Jahrtausenden mal aufs engste, mal lockerer, und dann wieder sehr eng mit Europa verbunden waren und sind.

[10] Die politischen Argumente müssen beanspruchen können, sorgfältig diskutiert zu werden. Dass eine politische, ökonomische, kulturelle und – ja! – religiöse sowie sozialfürsorgliche Zusammenarbeit mit den beiden Großregionen bisher wenig gemeinsame und stabile Strukturen ausbilden konnte, hat viele Gründe, die zum Teil mehr als nur ein paar Jahrzehnte zurückreichen, sodass die Politik sich objektiv mit Lösungen schwer tut. Ziel wäre es, diese Strukturen zu schaffen, damit Menschen nicht fliehen müssen. Es handelt sich um eine Frage von Jahrzehnten – und in der Zwischenzeit sollen die Flüchtlinge im Meer ertrinken?

[11] Die vielversprechendste Antwort kommt von der Zivilgesellschaft, und derzeit kann wohl auch nur die Zivilgesellschaft die Antwort geben. Da der Kern der Handlungsproblematik in Europa darin besteht, bereit zu sein, die universale Dimension des Menschenbegriffs anzuerkennen und in Handeln umzusetzen, kann die praktische Lösung nur eine moralisch-menschliche sein. Das heißt, die Aufnahme von Flüchtlingen nicht nur als Aufgabe des Staates zu sehen. Die Bereitschaft, privat Flüchtlinge aufzunehmen, ist ein sehr, sehr starkes Zeichen. Dass der Staat dies anerkennt und die Bürger/innen, die dazu bereit sind, nicht anschließend juristisch auflaufen lässt, wie in der Vergangenheit, ist nicht nur ein gefordertes Minimum an öffentlicher Unterstützung, sondern wesentlich. Der Staat muss bereit sein, die Zivilgesellschaft, zu der die vielen Hilfsorganisationen dazuzählen, als berechtigten Akteur anzuerkennen. Die Fähigkeit zur effektiven Selbstorganisation der Zivilgesellschaft ist hoch und oft genug bewiesen worden.

[12] Blenden wir zunächst aus und dann zurück: Rechtsphilosophisch betrachtet s i n d die Menschenrechte und sie sie gelten, egal, ob ein Staat sie „gewährt“ oder nicht. In der historischen Rückblende wird deutlich, dass Grund- und Menschenrechte zumeist aus der Gesellschaft heraus erkämpft wurden und werden mussten. In den beiden letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts haben wir es bereits mit einer Zivilgesellschaft zu tun, deren Akteure mindestens über den Atlantik zwischen Europa und Amerika ‚international‘ vernetzt sind. Es waren Akteure der Zivilgesellschaft, die 1898 aus Anlass der Dreyfus-Affäre in Frankreich mit der Gründung einer Menschenrechtsliga den Anstoß für ein bis heute erfolgreiches Modell der zivilgesellschaftlichen Selbstorganisation gaben: Nach vereinzelten weiteren Gründungen erfolgte vor allem in der Zwischenkriegszeit ein Schub an Gründungen von Menschenrechtsligen sowie die Gründung der Internationalen Liga für Menschenrechte. Seit 1945 sind viele Neugründungen hinzugekommen, die nicht zwingend den Namen einer Liga tragen, aber im selben Sinne, zum Teil mit konkreten Schwerpunkten, arbeiten. Asyl- und Flüchtlingsproblematik haben seit den 1980er-Jahren zu einem Gründungsschub an Hilfsorganisationen geführt. Auch dies ist der effektiven Selbstorganisation der Zivilgesellschaft in Bezug auf die Menschenrechtsarbeit zuzuordnen.

[13] Es ist richtig, dass die praktischen Probleme groß sind. Es ist richtig darüber zu reden, was wie getan werden kann, um nicht den Schleppern und den dahinter stehenden kriminellen Banden und Organisationen in die Hände zu spielen. Es ist richtig darüber zu reden, wie und wo die Zukunft von Hunderttausenden Flüchtlingen aussehen bzw. stattfinden soll. Und vieles Weitere, was aus Sicht der Regierungen eine Rolle spielt, hat Anspruch auf sorgfältige Diskussion. Trotzdem muss die Grundlage, von der aus diskutiert wird, geklärt werden. Die Grundlage besteht darin, dass der Begriff vom Menschen nur ungeteilt sein kann, dass ‚Europa‘ sich selber eingestehen muss, dass dieser ungeteilte Menschenbegriff auch gelten muss und nicht durch Vorbehalte, wie in der langen Geschichte des europäischen Menschenrechtsbegriffs bis heute geschehen, eingeschränkt werden darf. „Mare nostrum“ war ein Schritt gewesen, in dem man die Anerkennung der Unteilbarkeit des Menschenbegriffs lesen konnte. Das Mindeste wäre es, dies wieder aufzugreifen, aber müsste Europa nicht weitergehen, über den Appell, sich mitmenschlich zu verhalten, hinausgehen? Denn selbst die Forderung, endlich eine geregelte Zuwanderungspolitik einzuleiten, geht am Problem vorbei: Der Großteil der Länder, aus denen die Flüchtlinge in den beiden Europa benachbarten Großregionen stammen, sind zerfallende oder zerfallene Staaten. Wie sollen dort administrative Strukturen für Zuwanderung aufgebaut werden und dauerhaft funktionieren; und wäre ihr Effekt auf die Flüchtlingsströme mehr als null?

[14] Es braucht nicht viel Fantasie, um sich all die hier möglichen Einwände vorzustellen. Der wichtigste Einwand ist darin zu sehen, dass es zwar die oben angesprochene Zivilgesellschaft gibt, die ein auch aus Sicht des Staates berechtigter Akteur sein kann, dass es aber auch deren Gegner gibt, die xenophob sind, deren Menschenbegriff immer noch rassistisch ist und unter denen es Leute gibt, die nicht vor schweren Straftaten wie Brandstiftung und Morddrohung zurückschrecken. Die Mehrzahl derer, die eine umfassende Flüchtlingsaufnahme nicht unterstützen, haben Bedenken oder Angst vor dem Unbekannten, schenken Stereotypen und Verleumdungen Glauben, sind aber, wenn sich die Gelegenheit einer positiven Erfahrung ergibt, überzeugbar. Niemand wird behaupten, dass die praktische Umsetzung des ungeteilten Menschenbegriffs, wie es die Menschenrechtsidee erfordert, einfach wäre – aber wollen wir uns im Jahre 2015 immer noch gegenseitig eingestehen müssen, dass wir in Europa immer noch nicht so weit sind?

[15] Zu Recht wird betont, dass Europa im Sinne von EU ein starkes gemeinsames Ziel braucht. Dieses Ziel sollte lauten: „Europa zum Kontinent der Menschenrechte machen!“ Das bezieht sich nicht nur auf die Flüchtlinge, sondern auch auf vieles andere wie den datenrechtlichen Schutz der Privatheit oder die Entwicklung einer menschenrechtsbasierten Außenpolitik.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row el_class=“fussnoten“][vc_column width=“1/1″][vc_column_text]Dokumentation:

„Blut der Freiheit“: Reichardt, Rolf: Das Blut der Freiheit. Französische Revolution und demokratische Kultur. Frankfurt am Main 1998 (Fischer Europäische Geschichte)

„white Englishman“: Thomas Fröschl: Rights of Englishmen, Rights of Mankind, Human Rights (…), in: M. Grandner; W. Schmale; M. Weinzierl (Hgg.): Grund- und Menschenrechte. Historische Perspektiven – aktuelle Problematiken. Wien: Oldenbourg 2002, 119-135.

„homo europaeus“: Wolfgang Schmale: Vom „Homo Europaeus“ zum „Homo Europeanus“ (…), in: L. Bluche, V. Lipphardt, K. K. Patel (Hgg.): Der Europäer – ein Konstrukt. Wissensbestände, Diskurse, Praktiken. Göttingen: Wallstein, 2009, 118-134.

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa und die Menschenrechte im Jahr 2015 – Kritische Betrachtung. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, http://wolfgangschmale.eu/europa-und-die-menschenrechte-im-jahr-2015/, Eintrag 25.04.2015 [Absatz Nr.].[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]

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2 Comments
  1. Peter Pichler 29. April 2015 at 23:23

    Lieber Prof. Schmale,

    mit großem Interesse habe ich geraden diesen Ihren kritischen Beitrag zum Thema „Europa und die Menschenrechte“ gelesen – ich denke, heute geht es im Kern darum, wenn man an die Kodifizierung und auch die kulturelle Setzung des Europarechts denkt, um „EUropa und die Menschenrechte“; das geht ja auch aus Ihrem Beitrag recht deutlich hervor. Mir kommen in diesem Diskurs zur Zeit vorallem zwei Gedankenwege, die ich kurz streifen möchte.

    (1) Ich habe vor Kurzem auf Tipp eines Kollegen hin Hans Joas‘ Monographie „Die Sakralität der Person“ gelesen, für mich mit großem Gewinn. Ich las Joas so, dass er zwar die historische Gemachtheit von Menschenrechten als einen Diskurs ihrer Zeit, eben vor allem seit dem 17. Jhdt., Aufklärung und ff., wie Sie das auch darlegen, sieht; dann jedoch – und das fand ich methodisch und perspektivisch höchst spannend, zuerst wohl auch irritierend, aber schlußendlich zukunftsgerichtet und sinnvoll – begeht er etwas, das man in der postmodernen Wissens- und Europakultur als orthodoxer Diskurstheoretiker für einen „faux pas“ halten könnte: Joas skizziert den Diskurs der Menschenrechte durchaus als eine historisch-soziologische Perspektive, entwirft dann aber zugleich die Perspektive eine „affirmativen Genealogie“. Was mag das bedeuten?

    Für mich bedeutete dies in der Lektüre (und auch darüber hinaus im eigenen Schreiben), dass Joas nicht weniger leistete, als in gewissem Sinne einen „conservative turn“ der Perspektive einzuleiten, der seiner Historie gut zu Gesicht steht. Er vollzieht nämlich eine methodische Irritation die darin besteht, dass er den Menschenrechtediskurs zwar als „historisch handgemacht“ begreift, ihn zugleich aber affirmativ und normativ zur wichtigsten Geschichte unserer Zeit (auch in Europa) erklärt. Wie passt das zusammen? Einerseits ruft die Postmoderne aus, dass in Europa (mit etwas Übertreibung gesprochen) alle Stimmen und Rechtsstimmen kulturrelativ, also gleich historisch sind, also es in der stringenten Perspektive nicht möglich sei, auch die Menschenrechte zu etwas gültigerem als etwa Fundamentalismen zu erklären.

    Kurz, hier gebricht die Perspektive, die wir in der Kulturgeschichte heute (ich ertappe mich selbst dabei) internalisiert haben, an ihrer eigenen Schubrichtung. Sie leistete viel in der Dekonstruktion von Mythen und Ideologien, kann aber selbst ihre eigenen Vorraussetzungen als Setzungen nicht verleugnen. Und genau hier setzte Joas für mich mit seinem „conservative turn“ einer „affirmativen Genealogie“ an: Er „verrät“ und „durchbricht“ (dekonstruiert?) die Wissenschafts- und Sprechethik EUropas unserer Zeit und präsentiert mit der „affirmativen Genealogie“ eine Methode, die den Wert der Setzung der Menschenrechte als Idee (wenn schon nicht als „authentische“ Erzählung) für unsere Zeit rettet. Im Übrigen geht er hierüber sogar noch hinaus, indem er die Möglichkeit eines „irrationalen“ Gottglaubens reflektiert – aber das führt wirklich hier zu weit.

    Ich sehen den großen Gewinn in diesem Gedankengang hieran, dass Joas über einen bewusst eingeleiten Bild-, Stil- und Narrativbruch, der darin besteht, einen Inhalt als Inhalt und kulturelles Eigending (abseits von Essentialismus) auch heute noch anzuerkennen, gleichsam Neuland betreten hat. Dies ist kein „Höhlengleichnis“, aber doch in meinen Augen ein sehr wichtiger Versuch, ein Perforieren der Grenzen des Sagbaren auch für die Menschenrechtssituation und -diskussion zu leisten.

    Dies ist in meinen Augen eine mögliche Denkrichtung für die Weiterentwicklung des Europadiskurses und des Menschenrechtsdiskurses, nämlich nicht alles in Narrativen und Diskursen aufzulösen, sondern dem Diskurs seine historisch gesetzte Sprechsubstanz zuzugestehen und damit das Menschenrecht als Menschenrecht an sich überhaupt in unserer Zeit erst zu ermöglichen. Wenn wir über Menschenrechte sprechen und schreiben, müssen wir dies in einem vereinbarten Rahmen und Raum der Debatte tun, die Menschenrechte wirklich Menschenrechte sein lässt – erst dann macht die Forderung „Machen wir Europa zum Kontinent der Menschenrechte“ wirklich Sinn, dann hat sie Fleisch der Alltagskultur und Chancen in der Zivilgesellschaft.

    (2) Der zweite Punkt, den ich kurz anreissen möchte, betrifft die Frage bzw. das Konzept der Ambivalenz. Ich denke hier vor allem an den deutschen Soziologen Kurt Lüscher, der für unsere Zeit gar den Menschen als „Homo ambivalens“ charakterisiert (Kurt Lüscher: „Homo ambivalens“. Herausforderungen für Psychotherapie und Gesellschaft. In: Psychotherapeut 1 (2010), S. 1-10.), dessen Kernkompetenz darin bestehe, Konfliktuöses auszutarieren, Ambivalenz als offene Situation und Gestaltungsraum zu erfahren. Nach Lüscher ist es eine zentrale Erfahrung immer mehr Menschen unserer Zeit, in Phasen verschiedenen Lebensalters usw. in Situationen zu kommen, die durch Ambivalenzen und Ambiguität gekennzeichnet sind.

    Dies passt bestens zusammen mit der heutigen Situation in Europa, wenn man Andreas Wirschings „Der Preis der Freiheit“ von 2012 heranzieht, der den großen Preis der Freiheit, die wir heute in Europa genießen, auch darin sieht, dass wir „verdammt“ sind, unseren Weg zum Glück selbstorganisiert (lies: freiheitlich) zu gehen. Damit ist das Konfliktuöse, das Spannungshafte, das Ambivalente ein Grundmuster, nämlich in der Vielfalt der Möglichkeiten, die sich uns heute bieten. In der Zeit von Facebook, Twitter, Blogs und Meinungen und Perspektiven in aller digitaler Vielfalt ist dies nicht nur ein Kennzeichnen, sondern vielleicht sogar eine „Kulturstruktur“ der Gegenwart (man verzeihe mir diesen unpräzisen Ausdruck).

    Worum es jedoch geht, ist, zu erkennen, dass wir in der EUropäischen community Prozesse des Umgangs mit Ambivalenz konstitutiv zu verankern haben. Das können Symbole, Erzählungen und zum Schluss natürlich das Menschenrecht EUropas sein, indem ja vieles an Pluralität und Konfliktmöglichkeiten im umfassenden Diskriminierungsschutz usw. tatsächlich schon kulturell angelagert ist. Und da sind wir dann auch schon in der Zwicklmühle, wenn es um Menschenrechte und Ambivalenz geht – die Geschichte und auch Gegenwart der Menschenrechte in Europa und der Welt ist für sich selbst gleichsam Ambivalenz in Reinkultur: Sie treten mit universellem Anspruch auf (vollkommen zurecht und einfordernswert!), doch sind sie nur teils in der Welt – und auch in Europa, sie schreiben es! – verwirklicht.

    Das Fortführen des Diskurses der Menschenrechte besteht also in dieser Perspektive darin, die Ambivalenz des Menschenrechtsprozesses selbst zu thematisieren. Wir solten sie als Geschichte mit Brüchen sehen, in der die Überwindung des Konflikts (so könnte man etwa die fürchterlichen Geschehnisse um die MigrantInnen im Mittelmeer durchaus als gegenwärtigen Fall einer europäischen Ambivalenz im Menschenrecht sehen, die sich zwischen den Polen der Sicherung der Menschenrechte dieser „boat people“ sowie der bisher so restriktiven „Grenzpolitik“ Europas aufspannt) zur Lernfall wird. Ich habe diese Argumentenkette jüngst in zwei Beiträgen thematisiert, die oline erschienen sind:

    – Peter Pichler: Zur Europäizität in der Kulturgeschichte harter Musik: Fragen als Antworten?
    In: Stahl. Wissenschaftliches Blog zur Kulturgeschichte harter Musik. Available from:
    http://www.peter-pichler-stahl.at/fachwissenschaftliche-artikel/zur-europaeizitaet-in-derkulturgeschichte-
    harter-musik-fragen-als-antworten/, accessed 17/1/2015.

    – Peter Pichler: How to Cope with the Ambivalence of European Integration? A Cultural-
    Historical Account of the New European Commission’s Agenda. In: On-line Journal Modelling
    the New Europe 13 (2014), S. 123-137. Available from:
    http://neweurope.centre.ubbcluj.ro/wp-content/uploads/2012/05/Online-Journal-No.-13-
    December-2014.pdf, accessed 3/1/2015.

    Soweit ein kurzes Schweifen meiner Gedanken, wobe ich mich herzlich entschuldigen möchte, wenn ich in der Eile den ein oder anderen Tippfehler ö.ä. eingebaut haben möge.

    Mit besten Grüßen,
    Peter Pichler

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