Im Anfang war der Raub
[1] Die antike Mythologie ist reich an Raubgeschichten. Die phönizische Prinzessin namens Europa wird vom Göttervater Zeus in Gestalt eines Stieres begehrt und entführt – einer der Gründungsmythen unseres Kontinents entsteht. Der Topos des vereinzelt galant verklärten, meist aber gewaltvollen Menschenraubs durchzieht die Vorstellungswelt vieler „Hoch“-Kulturen des Altertums und wird in der Kunst bis in die jüngere Vergangenheit reproduziert.
[2] Auch in der jüdisch-christlichen Erzählung prägt ein Diebstahl den Beginn der Menschheitsgeschichte. Adam und Eva pflücken gemäß der biblischen Genesis verbotenerweise einen Apfel vom Baum der Erkenntnis. Diese erste menschliche Verfehlung hat fatale Folgen – durch den Raub erkennt und aktiviert das Paar seine Sexualität und somit seine Sterblichkeit.
[3] Als Pate dieses „Sündenfalls“ steht der griechische Mythos vom Raub der goldenen Äpfel der Hesperiden, Frauen in einem göttlichen Garten, durch Herakles. Die Hesperidensage war wohl Vorbild und buchstäblich Feindbild für den biblischen Apfelraub.
Konkurrenz der Mythen
[4] Dass antike „heidnische“ Motive Quelle und Inspiration für biblische Erzählungen bzw. christliche Heiligenlegenden waren, ist keine sensationelle Neuigkeit. Die Altertumsforschung im 19. Jahrhundert bereits konnte mögliche „Plagiatsfälle“ nicht mehr ignorieren. Ein prominentes Beispiel – das biblische Wahrheitsmonopol erschütternd – war die Entzifferung von Teilen des altmesopotamischen Gilgamesch-Epos in Keilschrift durch den Briten George Smith im Jahr 1872. Darin wurde bis ins Detail die Sintflut der Genesis vorweggenommen.
[5] Das Interessante aber an der Transformation bzw. Parallele zwischen dem ca. 2500–3000 Jahre alten Hesperidenmythos und der nach den belegbaren Quellen deutlich jüngeren Genesis ist, dass sie einander nicht nur ähneln, sondern dass sie vermutlich in einem ideologischen Krieg der Bilder gegeneinander eingesetzt wurden.
[6] Herakles, bekleidet mit Löwenfell, bewaffnet mit Keule – bietet ein archaisches Bild von Männlichkeit. Seine zwölf Aufgaben sind eine Manifestation körperlicher und vereinzelt auch geistiger Überlegenheit. Eine der letzten Taten, der Raub der goldenen Äpfel der Hesperiden, führt ihn in einen fernen, verbotenen Garten, bewacht von schönen Frauen und einem Drachen namens Ladon, meist dargestellt als Schlange. In manchen Versionen erschlägt Herakles das Wächtertier, in anderen lässt er den Titanen Atlas die Arbeit erledigen.
[7] Die griechischen Vasen zeigen deutlich häufiger friedliche Varianten, in denen Herakles Gastfreundschaft erfährt und die Hesperiden ihren Drachen füttern. Fast idyllisch, nicht selten mit erotischer Spannung durch das Beisein von Eros und anderen Symbolen, die auf die hochzeitliche Bedeutung des Mythos hinweisen, ist in den bildlichen Quellen selten etwas von Gewalt zu sehen. Die Bedrohung ist hier subtil. Wir wissen, was passieren wird. Oder passieren kann.
[8] Es sitzt nämlich hier in diesem Paradies kein friedlicher Gast, sondern ein halbnackter, bewaffneter Mann. Er stützt sich in vielen Darstellungen lässig auf die Keule und betrachtet entspannt das Treiben. Er wird die besonderen Früchte so oder so mitnehmen. Oft sieht man ihn auch neben dem Baum stehend. Eine Hesperide reicht ihm einen Apfel, die Schlange windet sich um den Baumstamm. Es braucht nur wenige bildliche Eingriffe an dieser Szene, um daraus Adam und Eva im Garten Eden zu formen. Der Hesperidenmythos wurde zur Projektionsfläche für ganz reale Machtansprüche. Römische Kaiser ließen sich auf Münzen als Herkules mit Apfel in der Hand darstellen – ein klares Symbol für ihre imperiale Mission, sich nehmen zu dürfen, was sie können: Länder, Menschen, Ressourcen. Der Apfel wird zur Siegestrophäe, später Insignium von Herrscher*innen. Was im griechisch-römischen Mythos als legitimer Raub erscheint, wird im biblischen Diskurs zum moralischen Vergehen. Der Raub der Äpfel der Hesperiden wurde zur Provokation für diejenigen, die sich beraubt fühlten oder die tatsächlich ausgebeutet und verfolgt wurden, wie z. B. Juden unter hellenistischer sowie Juden und Christen unter römischer Herrschaft. Der Apfelraub im Hesperidenmythos, obgleich eine fast beiläufige und weniger prominente Herkulestat, wird zum Inbegriff von weltlich-heidnischer Macht. Die jüdisch-christliche Empörung wandelt den Triumph des Herakles zur Sünde von Adam. Diese Transformation fand in einem Wechselspiel zwischen Bildern, vermutlich mündlicher Tradition und Handschriften statt. Zwischen einerseits griechischen Vasen und römischen Münzen und andererseits biblischer Überlieferung entspann sich von ca. 500 v. Chr. bis 500 n. Chr. ein Wettkampf zwischen den beiden Apfelraubnarrativen, den vorläufig die christliche Seite gewann und mit der Theologie des Augustinus von Hippo seinen Höhepunkt fand. Der literarisch tradierte Hesperidenmythos von griechischen und hellenistischen Autoren, darunter vor allem Hesiod, Euripides, Diodorus Siculus, Apollonius von Rhodos und andere, begleitete diesen feindsinnig gestimmten Dialog zwischen heidnischen Bildern und biblischen Texten höchstens.
Der gezähmte Herkules des Mittelalters
[9] Die erfolgreiche christliche Überschreibung und Aneignung des griechisch-römischen Mythos führte dazu, dass die Heldentaten des Halbgotts Herakles/Herkules nicht verboten und verdrängt, sondern in die Kosmologie der katholischen Kirche allegorisch integriert wurden.
[10] Unter dem Vorwand von christlicher Selbstaufgabe raubten die europäischen Fürsten weiterhin „Äpfel“, die Taten hießen nun Kreuzzug und Missionierung, der Garten der Hesperiden – das Gelobte Land.
[11] Im 16. Jahrhundert wird Herkules wieder populär, z. B. durch den Herkules Farnese, einer wiederentdeckten mannshohen antiken Steinskulptur, lässig aufgestützt, mit drei Hesperiden-Äpfeln in der Hand hinter dem Rücken versteckt. Unzählige Kopien und Varianten des Herkules Farnese zieren von nun an Gärten und Schlösser in Europa, als Sinnbild für die sich ausruhende Tatkraft des Mannes.
[12] Befreit von theologischen Fesseln, tritt Herkules als wiederentdecktes Männlichkeitsideal wieder aus dem Schatten von Adam und Christus. Weiter sucht er mit europäischen Schiffen nach den paradiesischen Äpfeln der Hesperiden. Damit gemeint sind Kolonien, Waren, Ressourcen und Menschen.
Just grab them by the apples
[13] 2005 sagte ein einflussreicher US-Amerikaner im vertraulichen Gespräch den Satz: „Just grab them by the pussy.“ 2016 wurde genau dieser Mann zum ersten Mal Präsident der Vereinigten Staaten. Der Satz, inzwischen sprichwörtlich geworden, ist keine bloße Geschmacklosigkeit – er ist Ausdruck desselben Musters, das sich seit der Antike durchzieht: Männer, die sich nehmen, was sie wollen – Körper, Land, Ressourcen.
[14] Als er 2021 vorerst abgewählt wird, stürmen Männer in Tierfellen und mit Speeren das Kapitol – moderne Herakles-Figuren, die ihre verlorene Macht zurückholen wollen. Auch hier wieder das Motiv: Eindringen in einen unter anderem weiblich besetzten Ort, man denke an das Foto eines Eindringlings, der seine Füße auf den Schreibtisch der Sprecherin des Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, legte.
[15] Entspannt wie Herakles im Garten der Hesperiden.
[16] Welche nächste mächtige Gegenerzählung wird sich daraus bilden?
Dokumentation:
Abbildung: Herakles und drei Hesperiden, auf einer Münze aus der Zeit des römischen Kaiser Antoninus Pius (138 bis 161 n. Chr.) (Quelle: Millin, Aubin L.; Parthey, Gustav [Hrsg.]: A. L. Millin’s Mythologische Gallerie: eine Sammlung von mehr als 750 antiken Denkmälern, Statuen, geschnittenen Steinen, Münzen und Gemälden, zur Erläuterung der Mythologie, der Symbolik und Kunstgeschichte der Alten ; sorgfältig übersetzt und mit den 190 Original-Kupferblättern der französischen Ausgabe begleitet (Band 2): Kupferband (Berlin , Stettin, 1848)) (Nutzungsbedingungen: Nutzungsbedingungen der Digitalisate der Universitätsbibliothek Heidelberg)
Zum Autor: Philipp Reichel-Neuwirth studierte Geschichte an der Universität Wien, er arbeitet in der Kunstvermittlung der Österreichischen Galerie Belvedere. 2021 publizierte er „Herrschaft und Protest in Wiener Sagen. Wahrzeichen und ihre religionspolitische Propagandafunktion“. Böhlau Verlag Wien – Köln – Weimar.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Philipp Reichel-Neuwirth: Grab them by the apples – Eine Mythentransformation. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, https://wolfgangschmale.eu/2025/12/09/grab-them-by-the-apples-eine-mythentransformation, Eintrag 11.12.2025 [Absatz Nr.].

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