Europa Erlesen: Marchfeld

der edle und reichste Teil Österreichs Marchfeld
Thomas Ebendorfer, 1450/51

Marchfeld: Ich wohne da, wo kein Mensch Urlaub macht
Facebook-Seite, eingerichtet 4.1.2011

Schlachtfeld und Kornkammer – so lauten die gängigen Klischees über jene Region, die zuweilen als Kernland Österreichs betrachtet wird, in der Alltagswahrnehmung der meisten Bewohner*innen der Alpenrepublik aber als langweilig und öd abgestempelt wird. An „Übertourismus“ leidet die nördlich der Donau zwischen Wien und Bratislava gelegene Ebene jedenfalls nicht, die Ausflüge beschränken sich auf die mit viel Aufwand renovierten und als Kulisse für k.u.k.-Nostalgie dienenden Schlösser sowie auf den Nationalpark Donauauen.

Stoff für eine Marchfeld-Anthologie und deren Aufnahme in die seit den 1990er Jahren im Wieser Verlag erscheinenden Reihe „Europa Erlesen“ gibt es auf jeden Fall zur Genüge: Autorinnen und Autoren wie Theodor W. Adorno, Ingeborg Bachmann, Paul Celan, Jeannie Ebner, Gerhard Fritsch und Barbara Frischmuth waren fasziniert von einer Landschaft, die mit ihren Sanddünen und Steppen die Weiten Asiens beschwor und in der 1927 das erste Naturschutzgebiet Österreichs geschaffen wurde. Wer das Marchfeld erliest, besucht die Stätten der fossilen Moderne, erlebt Bahnhofsbesetzungen des Revolutionsjahrs 1848, mörderische Grenzüberschreitungen, die glücklich verlaufene Landung des Heißluftballons des Jean-Pierre Blanchard und lernt, dass Karl Kraus mit seinen Polemiken weder radfahrende Honoratioren noch den Frieden der Gelsen störende Aviatiker verschonte.

Den eingangs genannten Klischees zu entkommen, fällt auch der von mir hier vorgelegten Zusammenstellung schwer, zumindest aber soll der Versuch unternommen werden, auch andere, weniger bekannte Perspektiven stark zu machen und dabei belletristische, landeskundliche, journalistische und wissenschaftliche Texte miteinander zu verzahnen.

Die einleitenden Beiträge etwa lassen die Frage aufkommen, wann das Marchfeld in der geographischen Phantasie von Afrika nach Asien wanderte und thematisieren es als Schauplatz von Hoffnungen und Untergangsängsten. Am Schluss dieses Abschnitts steht eine der letzten in der Wiener Straßenzeitung Augustin erschienenen Groll-Geschichten von Erwin Riess, jenem „Fels im Marchfeld“ – so Richard Schuberth im Nachruf auf diesen viel zu früh verstorbenen Literaten und Begründer der „Silologie“.

Die folgenden Beiträge sind der Natur und ihrer Zähmung gewidmet: Den von der Donau drohenden Überschwemmungen wurde mit Flussregulierung und Hochwasserdämmungen Einhalt geboten; den für die Landwirtschaft so schädlichen Flugsand bannten die Behörden ab dem 18. Jahrhundert mittels „Wohlfahrtsaufforstungen“ – es waren nicht zuletzt Föhren, die angepflanzt wurden. Bewässerungsprojekte wiederum sollten die wiederholt beschworene Versteppung aufhalten.

Der Abschnitt zum Marchfeld als Kriegsschauplatz startet mit der von František Palacký eingebrachten tschechischen Perspektive auf die „Bitva na Moravském poli“, der Schlacht von Dürnkrut und Jedenspeigen. Diese brachte 1278 das Ende des Reichs von Otakar II. Přemysl; weniger tödlich für die beiden Herrscher waren 1450 das Ende des „Raubritter-Staats“ des Pankrác von Holíč und 1919 die Abreise Karl von Habsburgs aus Eckartsau.

Weitere Texte erinnern daran, dass die Geschichte der March als zuweilen mörderische Grenze weder mit dem Kalten Krieg begann noch mit diesem endete; Florian Flickers letzter Spielfilm Grenzgänger (2012) sei hier zusätzlich als audiovisuelle Ergänzung empfohlen.

Auseinandersetzungen um Verkehrswege und Energiegewinnung prägen die Region bis heute, sowohl die geplante Marchfeld Schnellstraße S8 wie Bohrungen nach Erdgas sorgen aktuell für Konflikte – die Abschnitte zu Verkehrsgeschichte und Energie werfen Schlaglichter auf die Anfänge der Luftfahrt, der Eisenbahn und des Radsports sowie auf die oftmals beklagten Winde und die Ölgewinnung.

Zwei Gedichte Theodor Kramers umrahmen den Abschnitt zur Landwirtschaft, der die in Vergessenheit geratenen Landbesetzungen nach dem Zweiten Weltkrieg genauso behandelt wie die Kontinuität der Ausbeutung weiblicher und migrantischer Arbeit; dabei kommen nicht nur ein einstiger Landeshauptmann, sondern auch die ehemalige Landarbeiterin Anna Prath zu Wort.

Ab dem 19. Jahrhundert erregten die verbliebenen Trockenrasengebiete botanisches Interesse, forstwissenschaftliche Exkursionen wiederum informierten sich über den Erfolg der Flugsandbekämpfung mittels Baumpflanzungen. Das erste Naturschutzgebiet Österreichs wurde mit der „Weikendorfer Remise“ 1927 nicht etwa in den Alpen, sondern im Marchfeld errichtet; der niederösterreichische Beamte Günther Schlesinger steht hier paradigmatisch dafür, dass eine Beschäftigung mit der Geschichte des frühen Umweltschutz auch eine Beschäftigung mit Anhängern und Repräsentanten der NS-Herrschaft ist.

Die Ebene der sterbenden Schlösser – Titel eines von Gerhard Fritsch für die Furche verfassten Artikel, der hier in Auszügen wiedergegeben wird – leitet den letzten Abschnitt dieser Anthologie ein, der sich den großen barocken Festen der Schlösser sowie der Klage über ihren Verfall widmet; den Schluss- und Kontrapunkt dazu setzt die Freude über den Nachkriegs-Jazz.

Eine wichtige Aufgabe für die Zukunft sei abschließend noch angedeutet: Das Marchfeld hat nämlich eine Schwesterregion jenseits der March, die slowakische Záhorie. Diese einst auch processus transmontanus bzw. Erdőhát genannte Ebene „hinter den Bergen“ – gemeint sind die kleinen Karpaten, betrachtet aus der Perspektive der ungarischen Zentralmacht – weist mit der von Ingeborg Bachmann besungenen „großen Landschaft bei Wien“ viele Gemeinsamkeiten auf, genannt seien nur feudale Herrschaftssitze, kroatische Ansiedlung, Flugsand, Aufforstungsprogramme, Naturschutzgebiete, militärische Nutzung, Spargelanbau und Erdölförderung. Eine ähnliche Anthologie wie die hier für das Marchfeld vorliegende für die Záhorie zu erstellen bleibt noch zu leisten.

Dokumentation:

Anton Tantner (Hg.): Europa erlesen – Marchfeld. Wieser Verlag Klagenfurt/Celovec 2025. ISBN: 978-3-99029-676-9
Inhaltsverzeichnis und Rezensionen

Bei diesem Gastbeitrag handelt es sich um eine leicht modifizierte und erweiterte Fassung des Nachworts zu: Tantner, Anton (Hg.): Europa Erlesen Marchfeld. Klagenfurt/Celovec: Wieser, 2025, S. 259–262.

Weiterer Beitrag von Anton Tantner: Das Disneyland der Habsburger. Der altdeutsche Rittergau im Laxenburger Schlosspark.

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