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Die Europäische Union und der Nationalismus der politischen Mitte

Hamburg Brooks Bridge, Skulptur
Datum: 23 Mai 2015
Von: Wolfgang Schmale
Tags: Europäische Öffentlichkeit, Europäische Union, Nationalismus, Staat
Kommentare: Comments are off

Die Europäische Union und der Nationalismus der politischen Mitte

 

[1] Wird die EU am Nationalismus scheitern? Die Frage stellt sich dringlicher denn je.

[2] Der Weg in die europäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg wurde auf der Grundlage der Zusammenarbeit zwischen Nationalstaaten und der supranationalen Institutionalisierung dieser Zusammenarbeit unternommen. Es gab nach 1945 auch ganz andere Vorschläge, nämlich auf die Restauration des Nationalstaats zu verzichten und einen europäischen Staat zu begründen, dessen Rechtsnatur dem eines Bundesstaates hätte entsprechen können. Bei kühler Betrachtung mag dies visionär, aber nicht realistisch gewesen sein. Alle während des Krieges erfolgten Weichenstellungen für die Nachkriegsordnung gingen von einem durch Nationalstaaten restrukturierten Europa aus.

[3] Bisher ist es nicht gelungen, eine neue Weiche in Richtung europäischen Bundesstaat oder Vereinigte Staaten von Europa einzubauen, obwohl die Wende von 1989 für entsprechende Schritte genutzt wurde. Aus der Europäischen Gemeinschaft wurde durch den Vertrag von Maastricht die Europäische Union, die Währungsunion wurde auf den Weg gebracht. Der Versuch, aus der Völkerrechtsvertragskonstruktion eine Verfassung zu machen, scheiterte 2005. Trotzdem konnten Fortschritte erzielt werden: Das Europäische Parlament wurde gestärkt, ein permanenter Ratspräsident und eine permanente Außenbeauftragte repräsentieren bundesstaatliche Konstruktionselemente. Dies alles täuscht nicht darüber hinweg, dass das innere Bauprinzip die Zusammenarbeit zwischen Nationalstaaten auf der Grundlage supranationaler Institutionen geblieben ist und nicht grundlegend verändert wurde bzw. verändert werden konnte.

[4] Dieses Bauprinzip könnte sogar deutlich besser funktionieren – wenn die Akteure ‚einfach‘ Staaten wären und nicht Nationalstaaten. Um zu funktionieren, muss ein Staat keineswegs ein Nationalstaat sein. Es wird immer eingewandt, dass Menschen Identifikationsmöglichkeiten benötigen, dass die Nation diesem Bedürfnis entspreche, und Europa zu groß und zu abstrakt sei, um als Identifikationsraum fungieren zu können. Dabei wird übersehen, dass Identifikation auf mehreren räumlichen Ebenen stattfindet (von lokal bis global) und dass unter allen Möglichkeiten der Identitätsbildung die „Nation“ die künstlichste und die am stärksten propagandistisch konstruierte Möglichkeit darstellt. Der Konstruktionscharakter – zu Recht wird von der „erfundenen Nation“ gesprochen – von Nation wird durch Geschichtsklitterung zugedeckt. Im 21. Jahrhundert nimmt diese Geschichtsklitterung meistens nicht mehr die Form eines ausgesprochenen Nationsmythos an, auch wenn die Entwicklung in Ungarn derzeit genau in diese Richtung zu gehen scheint. Zumeist beruft man sich auf nationale Traditionen wie Premierminister Cameron im Vereinigten Königreich, die als nicht hintergehbar dargestellt werden.

[5] Der Nationalismus im EU-Europa des 21. Jahrhunderts ist facettenreicher denn je. Er ist rechts, links, er ist in der Mitte. Mitglieder des politischen Establishments vertreten ihn, Rechtskonservative, Rechtsradikale spitzen ihn zu hasserfüllten Abgrenzungen zu, Vertreter der äußersten Linken können ihn zum Teil ihres Programms machen, das europäische und globale Verflechtungen sowie Abhängigkeiten ausblendet und im Zweifelsfall aus dem nationalen Projektionsraum einen europäischen oder globalen macht. Die Debatte über den Nationalismus im Europa des 21. Jahrhunderts befasst sich fälschlicherweise meist nur mit dessen Radikalisierungen, nicht aber mit dem Umstand, dass der Nationalismus ein Geflecht ist, das ebenso gut in der sogenannten politischen Mitte wächst.

[6] In den supranationalen Institutionen der EU ist vorwiegend der Nationalismus der politischen Mitte zuhause. Die radikaleren Ränder finden sich im EU-Parlament, aber sie bleiben vorerst eine marginale Erscheinung. Insoweit lautet das Arbeitsprinzip, jederzeit Kompromisse zu finden, die den Nationalismus der politischen Mitte nicht infrage stellen. Dem äußeren Anschein nach funktioniert dies, aber die Fehlfunktionen häufen sich, irgendwann wird es offensichtlich sein, dass der Weg eine Sackgasse ist.

[7] Fehlfunktionen sind darin zu sehen, dass negative nationale Entwicklungen durchaus auf der Ebene der gemeinsamen Institutionen – und nicht nur auf der Ebene der Zivilgesellschaft – als solche erkannt werden, aber überwiegend folgenlos bleiben, weil um den Erhalt der Fähigkeit zu immer neuen EU-Kompromissen gefürchtet wird. Es ist nicht ein Mangel an zivilgesellschaftlicher Kritik, denn diese funktioniert, sondern der Mangel an politischen Konsequenzen auf der Ebene der Institutionen gegenüber Entwicklungen, die von Regierungen in Gang gesetzt werden, die von ihrem Selbstverständnis her oder aufgrund entsprechender, bei Wahlen erzielter Mehrheiten ‚in der Mitte‘ angesiedelt sind: Ungarn hat eine rechtsstaatlich bedenkliche Entwicklung eingeschlagen; das Vereinigte Königreich kultiviert einen kontraproduktiven Eigensinn – und so weiter. Besonders gravierend ist die Kultivierung des nationalen Eigensinns in der Flüchtlingsfrage, weil diese zu einem Alibi-Aktionismus führt, der einen erschauern lässt ob dessen, worum es eigentlich gehen müsste, nämlich Europa zum Kontinent der Menschenrechte zu entwickeln [vgl. https://wolfgangschmale.eu/europa-und-die-menschenrechte-im-jahr-2015/]. Niemand im globalen Weltsystem tut das, Europa könnte es. Auch im Nationalismus der politischen Mitte, nicht nur an dessen radikalen Rändern, wird ausgeblendet, dass Menschenrechte und Menschlichkeit/Humanitarismus keineswegs eine Frage karitativer Einstellungen sind oder wieviel „Fremdes“ dem eigenen Wahlvolk ‚zuzumuten‘ ist, sondern immer in sich die Bedingung künftiger Menschlichkeit tragen. Und die werden alle brauchen…

[8] Die Privatisierungen öffentlicher Aufgaben, der Rückbau des Staates, die neoliberale Betonung der „Selbstheilungskräfte des Marktes“, die Duldung von Heuschreckenmentalitäten nicht nur im internationalen Finanz- und Bankwesen, sondern auch in Unternehmen usw., haben zu einer Aushöhlung der Wirklichkeit, des Begriffs und des normativen Gerüsts von Staat geführt. In diese Leerstellen tritt der Nationalismus der politischen Mitte, der aber in sich hohl ist. Es gibt so gut wie kein Problem, das sich im nationalen Rahmen lösen ließe. Europa hätte den Vorteil, mit der EU einen Rahmen für eine Neuorientierung von Staat zu besitzen. Dabei geht es nicht um eine politische Dekretierung, sondern um eine öffentliche Debatte in der europäischen Öffentlichkeit. Diese wird aber immer im Keim erstickt, mit dem Argument, dass man über Ungarn nur in Ungarn diskutieren könne, alles andere sei Einmischung – und sinngemäß in unzähligen weiteren Fällen (Ungarn ist hier nur pars pro toto). Solche Reaktionen sind sinnlos, weil die kritische Debatte trotzdem geführt wird, nur ohne ‚den‘, um den es geht, sie sind armselig, weil sie eher „Trotzköpfchen“ zu Gesicht stehen, sie sind verlogen, weil die zu debattierende Politik offenbar doppelbödig ist und die kritische Vernunft fürchten muss.

[9] All dies im Jahr 2015, siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, so feststellen zu müssen, macht keine Freude.

 

Hinweis zum Titelfoto: Hamburg Brooks Bridge, Skulptur „Europa“, Bildhauer: Jörg Plickat, 2003; Ausschnitt aus einem Foto von: Sandra Müller, Hamburg (Sandra Müller ist Absolventin des Masters „Historisch-kulturwissenschaftliche Europaforschung“ an der Universität Wien)

 

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):

Wolfgang Schmale: Die Europäische Union und der Nationalismus der politischen Mitte. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/die-europaeische-union-und-der-nationalismus-der-politischen-mitte, Eintrag 23.05.2015 [Absatz Nr.].

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