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Schutz als europäischer Grundwert und Schlüssel der Demokratiefrage

Brüssel Europaviertel; Foto: Christa Hämmerle, 27.10.2015
Datum: 10 Apr. 2016
Von: Wolfgang Schmale
Tags: Antoine Vauchez, Brexit, Grundwert, illiberale Demokratie, Schutz, Willy Brandt
Kommentare: Comments are off

[1] Der Satz Willy Brandts „Wir wollen mehr Demokratie wagen!“ vom 28. Oktober 1969 ist aktueller denn je. Hängt der gegenwärtige Ansehensverlust der Demokratie in Europa damit zusammen, dass dieses Wagnis zu wenig eingegangen wurde?

[2] Der aktuelle Bericht von Freedom House hat den sprechenden Titel bekommen. „Anxious Dictators, Wavering Democracies: Global Freedom under Pressure“. Dabei werden Polen und Ungarn noch beinahe uneingeschränkt als freie Länder bezeichnet: Ungarn erhält die „Note“ 2, Polen sogar 1. Alle anderen EU-Länder haben ebenfalls Bestnoten. Natürlich täuscht der Eindruck, weil sich viele der Maßnahmen, die die Weichen zur „illiberalen Demokratie“ stellen, ihre volle Wirksamkeit erst in einigen Jahren zeigen werden.

[3] Der Bericht lässt auch nicht die Demokratiekrise in der Europäischen Union erahnen. Diese verläuft auf verschiedenen Ebenen – der der Union selber und der der Mitgliedstaaten.

[4] Zur Unionsebene liegt inzwischen auf Deutsch das Büchlein von Antoine Vauchez über „Europa demokratisieren“ vor. Vauchez möchte die drei als unabhängig, also keiner Wahl ausgesetzten, konzipierten Institutionen der Kommission, des Europäischen Gerichtshofs und der Europäischen Zentralbank mehr zum Gegenstand von Debatten machen, da diese Institutionen die Politik machen, die die EU-Politik ist und dabei eben keiner üblichen demokratischen Legitimation wie Wahlen unterworfen sind. Damit lässt sich eine weitere Stärkung des EU-Parlamentes verbinden.

[5] Eine große Debatte ist dieser Vorschlag wert, da er die Rolle der als unabhängig konzipierten Institutionen, die in der europäischen Verfassungsgeschichte und Verfassungswirklichkeit eine wichtige Stellung einnehmen, infrage stellt.

[6] Auf nationaler wie europäischer Ebene befindet sich die repräsentative Demokratie in einer Phase der Schwäche, es stellt sich die Frage, ob sie den Anforderungen der BürgerInnen gerecht wird.

[7] Zunächst könnte man sich zufrieden zurücklehnen und auf das neuerliche „Nee“ in den Niederlanden verweisen. Dort fand am 6.4.2016 ein Referendum über den Assoziierungsvertrag zwischen der EU und der Ukraine statt. 32% der Wahlberechtigten gingen zur Urne, eine klare Mehrheit von ca. 60% stimmte mit ‚nee‘. Man könnte auch auf das Vereinigte Königreich verweisen, wo intensiv über den Brexit diskutiert wird. Sind das nicht starke Lebenszeichen von Demokratie, die nicht von den BürgerInnen abgehoben ist?

[8] Leider nein. Beide Debatten (und Abstimmungen) wirken sich auf die gesamte EU aus, aber die Mitgliedsländer nehmen wenig aktiven Anteil an den Debatten. Diese werden national geführt, als ob sie nur eine nationale Angelegenheit seien, das Ergebnis müssen dann aber alle akzeptieren, obwohl sie nicht mitstimmen durften. Wo liegt da der demokratische Fortschritt? Und: Interessieren sich die einen eigentlich überhaupt für die anderen?

[9] Man kann nicht ernsthaft gegen solche Volksabstimmungen sein, sie sind ein wichtiges Element im demokratischen Leben, sie sollten sogar wichtiger sein. Wogegen man aber sein muss, ist, dass es sich um europäische Angelegenheiten handelt, die aber nicht europäisch, sondern rückschrittlicherweise nur national diskutiert werden. Welche PolitikerInnen aus welchen EU-Ländern sind in die Niederlande gefahren oder fahren nach Großbritannien, um an den öffentlichen Diskussionen aktiv teilzunehmen?

[10] Wenn sie es nicht oder kaum tun, dann, weil es national als Einmischung deklariert wird, das heißt unerwünscht ist. Wo also ist, muss zum hundertausendsten Mal gefragt werden, Europa? Das, was Martin Schulz und Jean Claude Juncker im Wahlkampf als faktische Spitzenkandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten 2014 initiiert hatten – Streitgespräche in beinahe allen Mitgliedsländern – müsste für alle gemeinsamen Fragen, wie sie in den Niederlanden gerade eben diskutiert wurden und in Kürze in Großbritannien zur Abstimmung gestellt werden, in allen Mitgliedsländern initiiert werden. Es müsste normaler Alltag sein, dass ein griechischer Abgeordneter ins Vereinigte Königreich fliegt und dort seine Meinung zum Brexit in einer Debatte, die die Parteien organisieren, äußern kann, und dass diese genauso ernst genommen wird wie die eines nationalen Politikers. Und eigentlich sollten alle EU-Regierungschefs nach GB eingeladen werden, um ihre Sicht der Dinge dort öffentlich ausdrücken zu können.

[11] Aber der Stand der Dinge zeigt, dass wir in Wirklichkeit kein Europa haben, das mehr als das Europa der Nationen ist (das die Rechten einfordern). Das Verhältnis zwischen Nationalstaat und Europa (EU) ist paradoxerweise immer noch ungeklärt; darin liegt die Gefahr für die europäische und für die nationalen Demokratien.

[12] Es gehen unter die Stimmen all derer, die sich mehr Europa wünschen, die bereit sind, die Vorteile, die die EU als gemeinsames europäisches Projekt besitzt, höher zu bewerten als unzweifelhafte Nachteile. Es gehen unter die Stimmen all derer, die durch ihre Taten – freiwillige HelferInnen für die Flüchtlinge, wo immer gerade in Europa Bedarf ist – für Solidarität und Humanitarismus als europäische Grundwerte eintreten. Es gehen unter die Stimmen derjenigen, die mehr soziale Gerechtigkeit verwirklicht sehen wollen. Es gehen unter die Stimmen derjenigen, die die Bedeutung von „Schutz“ als europäischen Grundwert erkannt haben: Datenschutz, Klimaschutz, Tierschutz, Schutz vor sexueller Gewalt, Minderheitenschutz, Schutz derjenigen, die mit der digitalen Entwicklung nicht mehr zurecht kommen und ins digitale Prekariat abrutschen, usw. Ist eigentlich geklärt, warum „Schutz“ ein so zentraler Begriff geworden ist?

[13] Liegt im Problem und Grundwert des „Schutzes“ das Problem, das zur Krise der Demokratie geführt hat, weil vielfach die falschen Antworten und falschen politischen Reaktionen gewählt wurden?

Dokumentation:

Antoine Vauchez: Europa demokratisieren. hamburger Edition 2016. ISBN: 978-3-86854-296-7

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):

Wolfgang Schmale: Schutz als europäischer Grundwert und Schlüssel der Demokratiefrage. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/schutz-als-europaeischer-grundwert, Eintrag 10.04.2016 [Absatz Nr.].

 

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