[1] Weltweit nimmt der Antisemitismus zu, Europa macht keine Ausnahme. Daran, wie sich Orbán und seine Partei in Ungarn an George Soros abarbeiten, sieht man, dass die bekannten Sündenbockmechanismen im 21. Jahrhundert genauso funktionieren wie im 20. und im 19. Jahrhundert.
[2] In Frankreich steigt seit Jahren die Zahl antisemitischer Vorfälle bis hin zu Mord. Die Situation verschlimmert sich ebenso in Deutschland, in Ungarn, in Polen, in Österreich … – der am 10. Dezember 2018 veröffentlichte zweite Antisemitismus-Bericht der Agentur der EU für Grundrechte (FRA) (Experiences and perceptions of antisemitism/Second survey on discrimination and hate crime against Jews in the EU) liefert die Fakten.
[3] Populisten machen den Islam in Europa verantwortlich, zuviele Muslime seien als Flüchtlinge nach Europa gelassen worden. Auch diese Art von Schuldzuweisungsmechanismus funktioniert seit eh und je.
[4] Die Täter antisemitischer Akte interessiert wenig, was europäische Kultur und Judentum miteinander zu tun haben, aber alle die, die den Antisemitismus verurteilen, interessiert dies, auch wenn im Vordergrund das menschliche Leid steht, das Antisemitismus verursacht.
[5] Die moderne europäische Kultur wurde maßgeblich durch Jüdinnen und Juden aufgebaut, der in der Aufklärung im 18. Jahrhundert begonnene Transfer zwischen Judentum als Religion und Kultur und der christlichen Umwelt war konstruktiv und gerade für die deutsche Aufklärung sogar konstitutiv.
[6] Die Moderne im engeren Wortsinn, also um 1900, war der kulturelle Höhepunkt dieser Entwicklung, fiel jedoch bereits in die Zeit zunehmenden Antisemitismus.
[7] Die europäische Kultur wurde durch zahllose Transfers und Austauschsituationen entwickelt. Die jüdischen Transfers waren dabei besonders wichtig. Die Vernichtung der Juden durch den Holocaust bedeutete auch in dem Sinne einen Zivilisationsbruch, dass dieses historische Rhizom von Transfer und Austausch nahezu zerissen wurde.
[8] Aber nicht vollständig. Das meint nicht nur, dass auch nach 1945 jüdisches Leben in Europa wieder möglich war und wachsen konnte, sondern es meint auch den fundamentalen Beitrag der Überlebenden des Holocaust zur Befriedung der europäischen Gewaltkultur durch ihre Bereitschaft, Zeugnis abzulegen, in die Schulen zu gehen, um Zeugnis abzulegen, die Hand zu reichen. Ohne dieses Zeugnisablegen bliebe das „Nie wieder!“ nur Worte.
[9] Dieser Zusammenhang scheint mir für die europäische Nachkriegskultur fundamental zu sein. Ohne die jüdische
Kultur ist die europäische Kultur nichts.
[10] Der jetzige Antisemitismus richtet sich dagegen und ist deshalb Teil der gegenwärtigen alarmierenden Desintegrationsprozesse.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäische Desintgrationsgeschichte (II): Antisemitismus. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/antisemitismus, Eintrag 16.02.2019 [Absatz Nr.].