Gab es ein Bewusstsein für den Zusammenhang von Nichtdiskriminierung und Demokratie?
1. Warum sich immer noch für die Rechteerklärung von 1789 interessieren?
[1] Aufklärung und Revolutionen am Ende des 18. Jahrhunderts werden als Schlüsselepoche in der Geschichte der Demokratie erachtet. In den USA besteht diese Sichtweise im Prinzip von Anfang an, die Geschichte der US-Demokratie stellt sozusagen ein, wenn auch immer wieder reformiertes, Kontinuum seit der Ablösung von der britischen Krone dar. Ähnliches lässt sich vom Vereinigten Königreich sagen, wo der Kontinuitätsgedanke von der Magna Carta (1215) über die Bill of Rights von 1689 bis zum heutigen Verfassungsstand reicht. Auf dem europäischen Kontinent setzte sich diese Geschichtsauffassung, in einem mehr oder weniger langen demokratiegeschichtlichen Kontinuum zu stehen, erst nach dem Zweiten Weltkrieg durch. Die Aufklärung und die sog. Demokratischen Revolutionen (USA, Frankreich, etc.), die letztlich sehr unterschiedlichen und, wie in den Österr. Niederlanden, kaum demokratischen Intentionen folgten, werden zum kulturellen Erbe, in das sich viele Länder stellen und das als gemeinsames Erbe und als Trägerkonstruktion für die europäische Integration in Anspruch genommen wird.
[2] Rechte- oder ausdrücklich Menschenrechtserklärungen sowie von einem Parlament verabschiedete Verfassungen sind fixe Bestandteile dieser Demokratiegeschichte. Die US-amerikanische Verfassung gilt, seit es sie gibt, auch wenn sie durch Amendments ergänzt wurde. Die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 (i. F. auch kurz „Rechteerklärung“ oder „Erklärung“ genannt) gilt in Frankreich und ist einklagbar. Sie besaß allerdings nicht ununterbrochen Geltung seit 1789. Unter allen Rechteerklärungen ist sie wohl die emblematischste, was nicht zuletzt mit ihrem weiter unten zu analysierendem Entstehungsprozess zu tun hat, aber auch mit der medial begleiteten Renaissance in der Dritten Französischen Republik.
[3] Die genannten Elemente konstituieren eine Art Meistererzählung, die eurozentristische und US-zentristische Züge trägt. Diese Erzählung wurde kritisiert, u.a. wegen der Defizite in den Auffassungen von Demokratie, der mangelnden Menschenrechtspraxis und anderen noch aufzugreifenden Aspekten. Von einem Kontinuum seit der Aufklärung kann nicht die Rede sein, nicht alles wie z. B. Ausweitung des Männer-Wahlrechts im 19. Jahrhundert wurde gemacht, um Demokratie voran zu bringen. Globalgeschichtliche Perspektiven relativieren die europäisch-amerikanische Schwerpunktsetzung. Kritisch zu hinterfragen ist auch die tatsächliche Bedeutung von Rechteerklärungen. Wie diskriminierend wurden sie in der Praxis, entgegen dem Wortlaut, gehandhabt? Immer wieder diskutierte Themen sind die fehlenden politischen Rechte für Frauen, die Fortsetzung der Sklaverei, die Verweigerung von Rechten für Minderheiten, etc. Die Universalismus-Vorstellungen, wie sie sich in der Erklärung von 1789 zeigen, wurden in den Postcolonial Studies kritisch analysiert. Sie sind Europa- und USA-zentriert. Nichtdiskriminierung ist erst seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Ausformulierung in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948 zentral für das Demokratieverständnis.
[4] Im Rahmen der Ringvorlesung „Demokratiegeschichte(n): Lagen, Probleme, Gegenwarten“ an der Universität Wien im Wintersemester 2024 fiel mir die Aufgabe zu, die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 im Licht einer die Zeiten übergreifenden allgemeinen Problematik im Zusammenhang der Demokratie zu analysieren. Hierfür habe ich „Diskriminierung“ bzw. „Nichtdiskriminierung“ gewählt. Diesen Schlüsselkonzepten habe ich mich hier im Europablog mehrfach zugewandt, unter anderem in dem Beitrag die „Entwicklung der Menschenrechte in Bezug auf die sexuelle Orientierung“.
2. Die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“ (26. August 1789): Inhalte; Charakter der Erklärung; internationale Rezeption
[5] Zunächst ist der historische Kontext der französischen Menschen- und Bürgerrechtserklärung kurz zu rekonstruieren, von dem ausgehend das Thema analysiert werden soll.
[6] Die Kumulierung mehrerer Krisen (Finanzen, Wirtschaft, Gesellschaft etc.), die Weigerung des Königs (Ludwig XVI., war zu Beginn seiner Regierung 1774 durchaus reformwillig), innovativen Lösungen zur Krisenbewältigung zuzustimmen, und eine Systemwechselstimmung bei großen Teilen der Bevölkerung führten schließlich 1789 zu jenem dichten Flechtwerk von Ereignissen, das wir Französische Revolution nennen. 1789 war das Jahr der Nationalversammlung (= NV). Die „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, die – aus noch zu erläuternden Gründen – der Einfachheit halber auf den 26. August 1789 datiert wird, gehört zu den wichtigsten Ergebnissen der Arbeit der NV. Sie ist heute Bestandteil der französischen Verfassung (der Fünften Republik), sie stellt daher auch im Jahr 2024 einklagbares Recht dar. Die Rechteerklärung wurde vom Zeitpunkt ihrer Verabschiedung an international und letztlich global rezipiert, bis heute gilt sie vielfach als Leuchtturm in der Geschichte der Menschenrechte und als entscheidender Schritt hin zur modernen Demokratie. Zugleich war sie von Anfang an scharfer Kritik ausgesetzt; den einen galt sie als Quell aller Unordnung, den anderen galt sie als Werkzeug der Diskriminierung, wieder andere sahen in ihr ein rhetorisches Dokument ohne praktischen Wert. Die Erklärung von 1789 wurde bereits 1793 und dann erneut 1795 durch einen neuen Text ersetzt, ohne dass die Grundlinien von 1789 entscheidend geändert worden wären. 1793 wurden soziale Rechte stärker hervorgehoben, auch die Ergänzung der Rechte durch Pflichten wurde mehr betont.
[7] Mit Blick auf die Rekonstruktion des historischen Kontextes empfiehlt es sich, die Rechteerklärung vorab (auf Deutsch; auf Französisch) und dann den nachfolgenden Text zu lesen.
[8] Die Rechteerklärung ist sehr allgemein formuliert und versteht sich als universell anwendbar. Sie stellt Menschen- und Bürgerrechte in der Präambel außerhalb des zeitlich-historischen Wandels. Art. 1 lautet: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt frei und gleich an Rechten. Soziale Unterschiede dürfen nur im gemeinen Nutzen begründet sein.“ Dieser Artikel führt direkt die ‚Doppelstrategie‘ ein, die die Rechte-Erklärung charakterisiert: Auf die Feststellung eines als universell gültig dargestellten Sachverhalts folgt der Nachsatz, der in der Gesellschaft und dem jeweiligen politischen Gemeinwesen Einschränkungen erlaubt. Hier ist es das Gemeinwohl/gemeiner Nutzen, meistens ist es „das Gesetz“. Letzteres begründet zugleich das Rechtsstaatsprinzip und schließt willkürliche Einschränkungen der Menschenrechte aus. Diese werden in Art. 2 benannt: „Das Ziel jeder politischen Vereinigung ist die Erhaltung der natürlichen und unveräußerlichen Menschenrechte. Diese Rechte sind Freiheit, Eigentum, Sicherheit und Widerstand gegen Unterdrückung.“ Wichtig ist dabei die Verknüpfung mit der Zielbestimmung für alle denkbaren „politischen Vereinigungen“ (= Staaten). Dass es genau diese vier Rechte sind, was gegenüber z. B. der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der UN (10.12.1948) doch recht wenig erscheint, erklärt sich aus der Erfahrung des frühneuzeitlichen Absolutismus. Das Recht auf Widerstand hat eine lange, bis in die Antike zurückreichende Tradition. Art. 3 beschreibt das Prinzip der Volkssouveränität: „Der Ursprung jeder Souveränität ruht letztlich in der Nation. Keine Körperschaften, kein Individuum können eine Gewalt ausüben, die nicht ausdrücklich von ihr ausgeht.“
[9] Damit wurden wesentliche Festlegungen in Bezug auf die künftige Verfassung Frankreichs getroffen, ohne das Fortbestehen einer Monarchie auszuschließen, die freilich nicht mehr allzu viel mit der absolutistischen Monarchie, gegen die sich die Revolution richtete, zu tun haben würde. Den Ereignissen vorausgreifend könnte man sagen, dass die Abschaffung der Monarchie in der Luft lag, aber in der NV von 1789 bis 1791 noch keine Mehrheit fand.
[10] Was unter Freiheit zu verstehen sei und wie sie in Politik und Gesellschaft zu handhaben wäre, stellte eins der großen Debattenthemen dar, woraus Art. 4 entstand. Die Art. 5 bis 9 erklären, was mit „Gesetz“ gemeint ist und dessen Wirkungsweise im Rechtsstaat, die Gleichheit aller vor dem Gesetz wird festgelegt. Auch das rückverweist auf die schlechten Erfahrungen im Ancien Régime, das durch Ungleichheit vor dem Gesetz und dem Richter geprägt gewesen war. In Art. 10 wird die Meinungs- und Religionsfreiheit festgehalten – die Formulierung „Meinungen … selbst religiöser Art“ ist das Resultat der hitzigsten Debatte in der NV über diese Rechteerklärung überhaupt. Auch sei, den Ereignissen vorausgreifend, darauf hingewiesen, dass Religionsfragen während der gesamten Revolution das allergrößte Konfliktpotenzial in sich bargen und zu massenhaftem Mord und Totschlag führten. Art. 11 definiert die Meinungs- und Gedankenfreiheit als Menschenrecht; entweder erweitert dies die in Art. 2 genannten vier Menschenrechte oder ist als opportun erscheinende Ausdifferenzierung des Menschenrechts „Freiheit“ zu lesen. Ähnlich bekräftigt Art. 17, der letzte, Eigentum als Menschenrecht. Die anderen Artikel legen einige Prinzipien für das künftige Staatswesen fest, die allesamt als Gegenmodell zur Funktionsweise der bisherigen französischen Monarchie zu lesen sind. Festgeschrieben wird auch die Gewaltenteilung, Leitlinien für die Einhebung von Steuern werden formuliert, um diese der Willkür und teilweise kriminellen Bereicherung durch Steuerpächter, dem bis zur Revolution geltenden System, zu entziehen.
[11] Es ist klar: Es geht mit der Rechteerklärung darum, mit den Dysfunktionalitäten des bisherigen politischen Systems in Frankreich Schluss zu machen, Rechtssicherheit herzustellen und mit der Verfassung dem gesellschaftlichen Wandel (hin zur „Bürgerlichen Gesellschaft“) Rechnung zu tragen. Das Ganze wird in eine ‚großartige‘ Perspektive gestellt, die des Universalismus.
[12] Beides charakterisiert die Debatten in der NV. Die Langzeitwirkung der Rechteerklärung hat mit diesem Charakter zu tun, da in der Tat mehrere Prinzipien formuliert wurden, die geradezu unverändert auch heute das grundlegen, was als Rechtsstaat und repräsentative Demokratie bezeichnet wird.
[13] Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte wurde nach ihrem provisorischen (!) Abschluss am 26. August 1789 eifrig beworben, sie wurde verbildlicht, bald gab es in den Schulen Wettbewerbe mit Preisen, usw. Die Rechteerklärung wurde zeitnah in Europa und den Amerikas rezipiert, sie hatte Einfluss auf den Kampf um Unabhängigkeit der mittel- und südamerikanischen Kolonien. Ihre weitere Rezeptions- und Geltungsgeschichte war wechselhaft, bis sich die Dritte Republik in Frankreich, speziell rund um die Einhundertjahrfeier der Revolution 1889, dezidiert auf die Erklärung und andere Elemente der Revolution zurückbezog. Die 1898 im Zuge der Dreyfus-Affäre gegründete Ligue des droits de l’homme bezog sich ebenfalls zentral auf die Erklärung von 1789 (später auch die von 1793). Sie regte zahlreiche weitere Gründungen von solchen Menschenrechtsligen an, die die Bezugnahme auf die Erklärung von 1789 übernahmen. Wie bereits erwähnt, ist die Erklärung heute Teil des französischen Verfassungsrechts.
[14] Einen Wikipedia-Artikel zur Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 gibt es mit Stand Mitte Oktober 2024 in 74 Sprachen. Er wurde seit dem 1. Juli 2015 (Start der einschlägigen Statistik) rund 18,2 Millionen mal aufgerufen. Auf Spanisch entfallen rund 5 Millionen, auf Englisch rund 3,3 Millionen, auf Französisch rund 3 Millionen, auf Portugiesisch rund 1,3 Millionen Aufrufe. Das restliche Drittel verteilt sich auf die anderen 70 Sprachen. Interessant sind die Bearbeitungen der Artikel – aber das stellt eine eigenständige Analyse dar.
3. Interpretation der Rechteerklärung – ihr historischer Kontext (Revolution, Methoden-Debatten und inhaltliche Kontroversen in der Nationalversammlung; was wurde ‚wirklich‘ gemeint?)
[15] Zunächst gibt es kein nationales Parlament; der König ruft, um sich Gelder bewilligen zu lassen, erstmals wieder seit 1614 die sog. Generalstände zusammen, diese treten am 5. Mai 1789 in Versailles zusammen. Zuvor werden Beschwerdehefte erstellt, kumuliert und nach Versailles gebracht. Die Beschwerdehefte (Cahiers de doléances) forderten zum Teil eine Rechteerklärung und eine neue Verfassung. Ziel war die umfassende Reformierung des Landes (Gesellschaft/bürgerliche Gesellschaft; politisches System/konstitutionelle Monarchie; liberales Wirtschaftssystem; Religionsfreiheit/Ende der Macht der katholischen Kirche; faires Steuersystem; faires Gerichtswesen; etc.: Es geht um Frankreich, und nur um Frankreich).
[16] Die Erwartungshaltung der Abgeordneten und das Vorhaben des Königs erweisen sich als inkompatibel, am 17.6. erklärt sich der Dritte Stand zur NV, die beiden anderen Stände treten weitestgehend bei, am 20.6. kommt es zum „Ballhausschwur“, sich nicht zu trennen, bevor nicht eine Verfassung verabschiedet ist. Eine erste Debatte in Sachen Rechteerklärung erfolgt schon am 19.6. An Fahrt gewinnt die Debatte ab dem Juli. Zahlreiche revolutionäre Ereignisse, darunter der Bastillesturm 14.7., die Grande Peur (Ende Juli/Anfang August) mit der Folge der Abschaffung der Privilegien und des Feudalwesens in der Nacht vom 4. auf den 5.8., beeinflussen die Debatten und tragen dazu bei, dass tatsächlich eine Erklärung erarbeitet und verabschiedet wird.
[17] Die NV muss erst ihren Weg und Arbeitsstil finden, die Organisation der Debatte um eine Rechteerklärung ist oftmals das Instrument hierfür. Die NV hat 1200 Abgeordnete, zwischen 900 und 1000 werden bei den Abstimmungen gezählt. Zusammen mündet das alles in ein vorbildloses historisches Experiment.
[18] Das Hinundher der Debatten über eine Rechteerklärung dauert bis zum 19.8. einschließlich, vom 20.8. bis 26.8. wird dann aufgrund einer Textvorlage, der des 6. Büros[1], Artikel für Artikel diskutiert. Am 26.8. wird Art. 17 verabschiedet. Geplant ist, am 27.8. weiter zu machen, doch entscheidet die NV am 27.8., diese Debatte zunächst nicht fortzuführen, sondern sich der Verfassung zu widmen. Genau genommen ist die Rechteerklärung somit ein Provisorium geblieben.
[19] Die Debatte drehte sich lang um folgende Fragen: Braucht es wirklich eine Rechteerklärung vor der Verfassung? Sollte es nicht eine Rechte- und Pflichtenerklärung sein? Letztere Frage wurde am 4.8. zugunsten einer reinen Rechteerklärung mit Mehrheit entschieden. In der Präambel ist allerdings von Rechten und Pflichten die Rede.
[20] Es ging immer wieder um die Form: ausführlich begründend, oder kurz, präzise, einprägsam? Es kam zu letzterem. Zu diskutieren war, was eine Verfassung sowie eine Rechteerklärung grundsätzlich leisten soll, das heißt, es musste geklärt werden, welches gesellschaftliche und politische Modell man etablieren wollte. Das waren sehr grundsätzliche Fragen, auf die sehr grundsätzliche Antworten gegeben wurden: Staatszielbestimmung, Konstitutionalismus, Rechtsstaatlichkeit.
[21] Außer den Texten, die in den Büros, im Verfassungsausschuss und dem Fünferausschuss verfasst wurden, gab es rund 30 schriftliche Vorschläge von meistens NV-Abgeordneten für eine Rechteerklärung, die teils im Plenum, teils nur in den Gremien diskutiert wurden.
[22] Der Wortlaut des Endergebnisses entspricht der Vielschichtigkeit der Debatten.
[23] In der Debatte wurden immer wieder Vergleiche mit den Rechteerklärungen und Verfassungen der US-Bundesstaaten und der USA gemacht, es wurde nach England geschaut. Tenor: Es besser machen, der Geist der Erklärung müsse universell sein. So geschieht es; es setzt sich ein Selbstverständnis französischer Überlegenheit durch, das Mut für die im Gange befindliche Revolution macht. Für die Reformierung Frankreichs hätte es dieses Messianismusʼ nicht gebraucht.
[24] Da der Wortlaut sehr allgemein ist, erhellt sich die Bedeutung vieler Begriffe, allen voran homme und citoyen, wenn überhaupt, nur aus den Debatten in der NV. Eine vollständige Dokumentation der Debatten ist nicht überliefert, es gibt jedoch eine Rekonstruktion unter Berücksichtigung aller infrage kommender Quellen [Antoine de Baecque, Michel Vovelle, Wolfgang Schmale: L’An I des droits de l’homme. Paris: CNRS Plus, 1988]. Einiges erhellt sich aus den weiteren Gesetzgebungsakten der NV.
[25] In der Debatte wird wiederholt gesagt, man müsse immer gleich die praktischen Folgen der Artikel mitdenken. So geschieht es nach und nach:
[26] Bürgerliche Emanzipation der jüdischen Bevölkerung (27.9.1791; der Protestantismus war schon vor der Revolution emanzipiert worden); 4.2.1794: Abschaffung der Sklaverei; Modernisierung des Familienrechts: Zivilehe und Scheidungsrecht werden in der Aufklärung positiv diskutiert, die Zivilehe wird durch die Verfassung von 1791 begründet, das Scheidungsrecht durch ein Gesetz vom 22.9.1792, das, vergleichsweise progressiv, bereits die Scheidung im gegenseitigen Einvernehmen vorsieht. Zwischen 1792 du 1796 werden in Paris 35% der Ehen geschieden. Das Gesetz untermauert, dass individuelle Freiheit nicht nur ein Männerrecht sein soll. Ein Gesetz vom 28.8.1792 beschränkt die väterliche Gewalt, ein Gesetz vom 20.9.1792 legt für Frauen und Männer die Volljährigkeit einheitlich auf 21 Jahre fest. Die weitere republikanische Gesetzgebung teilt die ehemalige väterliche Gewalt auf beide Elternteile auf, also auch die Ehefrau und Mutter. Kinder inkl. (offiziell eingestandener) unehelicher Kinder werden erbrechtlich gleichgestellt (die Regelung für uneheliche Kinder wird im Code civil zurückgenommen). Politische Rechte für Frauen werden aber ausgerechnet unter der jakobinischen Republik dezidiert abgelehnt und Ende 1792 werden die Frauenklubs verboten. Ab 1804 wird vieles wieder abgeschwächt oder abgeschafft, tw. wird der revolutionäre Gesetzesstand erst wieder in den 1970er Jahren (in Frankreich) erreicht.
4. Die Rechteerklärung in der Kritik – Nicht Menschenrechte, sondern eurozentrische Männerrechte?
[27] Als Ausgangspunkt für die Frage, was die Erklärung tatsächlich meint und was nicht – im Widerspruch zur behaupteten Universalität – kann die zeitgenössische Kritik an der Erklärung genommen werden. Was war damals schon in der Diskussion und somit denkbar, wurde aber nicht übernommen? Dies als Maßstab zu nehmen, verhindert, einer Quelle aus dem Jahr 1789 ex post etwas abzuverlangen, was außerhalb des damaligen Denkhorizonts stand. Die bekannteste Kritik ist jene von Olympe de Gouges und anderen Frauen der Rechteerklärung als Männerrechtserklärung. Den emblematisch gewordenen Text hierzu verfasste Olympe de Gouges Mitte September 1791: Déclaration des droits de la femme et de la citoyenne. [Frz. Fassung: https://gallica.bnf.fr/essentiels/anthologie/declaration-droits-femme-citoyenne-0; Dt. Fassung: https://olympe-de-gouges.info/frauenrechte/ (Seite von Viktoria Frysak)]
[28] Olympe de Gougesʼ Name steht hier stellvertretend für viele andere in Frankreich und in anderen Ländern. Die Autorin setzte sich schon 1789 für die Gleichbehandlung der Geschlechter ein. Eine weitere bekannte Stimme für die Gleichstellung der Geschlechter war die von Condorcet. Olympe de Gouges und Condorcet fielen der Guillotine zum Opfer, die Amazone Théroigne de Méricourt wurde in eine Anstalt für „geistig verwirrte“ Menschen eingesperrt. Die radikale jakobinische Revolution verhielt sich auch in der Ablehnung von gleichen politischen und anderen Rechten für Frauen radikal.
[29] Für die Interpretation der Erklärung von 1789, wie sie gemeint gewesen sein könnte, lässt sich Sieyès heranziehen, Abgeordneter in der NV. Er trägt am 20. und 21.7.1789 seinen Entwurf einer Rechteerklärung dem Verfassungsausschuss vor, der einen Artikel zu citoyens actifs und citoyens passifs enthält. Droits passifs kommen Allen zu: Frauen, Kindern, Ausländern, solchen, die nichts zum Gemeinwesen beitragen; droits passifs sind Freiheit, Eigentum, Schutz der Person und – Sieyès schreibt „etc.“ – da muss man also raten bzw. wird das der künftigen Gesetzgebung anheim gestellt. Politische Rechte haben diese Gruppen nicht, diese stehen nur den citoyens actifs zu. Diese Gruppe wird in der Revolution und später im 19. Jahrhundert unterschiedlich breit definiert. Was sich nicht ändert, ist, dass es bezüglich der droits actifs nur um Männer geht. Von Anfang an, das heißt, schon in der NV, gibt es Stimmen, die die Zugehörigkeit zur Gruppe der citoyens actifs an Bildung, Besitz und Höhe der Steuern knüpfen wollen. In der Praxis schwankte man zwischen allen volljährigen Männern, einerseits, und einem hohen Zensus, der auch die meisten Männer aus der Gruppe der citoyens actifs ausschloss. Es gelang folglich nicht, sich vom für die Ständegesellschaft typischen hierarchischen Denken zu verabschieden: Dieses wurde zwar vereinfacht und durch die Aufhebung der Privilegien in der Nacht vom 4. auf den 5. August an den Typus der Bürgerlichen Gesellschaft angepasst, aber es wurde nicht strukturell beseitigt.
[30] Der Ausschluss von Frauen von den politischen Rechten ist offensichtlich, sie sind aber nicht von den Menschenrechten ausgeschlossen. Auch Sklaven verlieren nicht ihre naturrechtlich begründete Freiheit, weil man die nicht verlieren kann. Dies wird in der Debatte mitunter erwähnt. (Schon vor der Revolution waren Sklav*innen, die ihre Herr*innen nach Frankreich begleiteten, auf französischem Boden automatisch freie Menschen). Die einige Jahre spätere Debatte um die Abschaffung der Sklaverei gestaltet sich hitzig, die Lobby der Zuckerplantagenbesitzer arbeitet massiv gegen diese Abschaffung an und tut alles, um das Bekanntwerden des Gesetzes vom 4.2.1794 hinauszuzögern.
[31] Am festesten scheint die Überzeugung von männlicher/weiblicher Geschlechtsidentität gewesen zu sein; in der NV wurde darüber nicht gestritten – im Gegensatz zu anderen Themen.
[32] Nicht alle Diskussionspunkte fanden Eingang in die Rechteerklärung von 1789: So wurde ein Recht auf öffentliche Fürsorge debattiert, das aber nicht aufgenommen wurde. Gleichwohl wurde in der Revolution ein öffentliches Fürsorgesystem geschaffen, wofür allerdings das historische, für das die katholische Kirche eine tragende Rolle gespielt hatte, zuerst abgewickelt wurde, ohne dass das neue System effektiv geworden war.
[33] Das in der Überschrift verwendete Adjektiv „eurozentrisch“ bedeutet noch anderes: Das der Rechteerklärung zugrunde liegende Staats- und Verfassungskonzept stammt aus dem europäischen und nordamerikanischen Kontext, wird aber für universal gültig ausgegeben. Das hat einerseits damit zu tun, dass es üblich war, nicht-europäische Gemeinwesen mit den gewohnten Begriffen, insbesondere Volk/Nation, zu bezeichnen, andererseits impliziert diese Vorgehensweise eine eurozentrische Sichtweise, die vor allem im 19. Jahrhundert in einen Zivilisationsimperialismus mündet.
[34] In Bezug auf die Rechteerklärung von 1789 lässt sich festhalten, dass entgegen dem allgemein gehaltenen Wortlaut politische Rechte nur auf Männer bezogen waren, während die Menschenrechte tatsächlich inklusiv und nicht-diskriminierend konzipiert waren. Die Umsetzung in Gesetze (s.o.) nahm mehr als vier Jahre in Anspruch. In diese Zeit fällt freilich auch die Phase der Terreur, in der Menschenrechte wie Freiheit und freie Meinungsäußerung teilweise ausgehebelt wurden, Unschuldsvermutung und habeas-corpus-Rechte nicht beachtet wurden, etc. Allerdings sagen diese späteren Ereignisse nichts über die Diskutanten im Sommer 1789 aus.
5. Menschenrechte als historischer Prozess: Konzeptuelle Fragen (Diskriminierung, Nicht-Diskriminierung, „Isonomie“ / „Gleichberechtigungsordnung“)
[35] Vielen Akteur*innen scheint von Anfang an klar gewesen zu sein, dass Menschenrechte nicht allein deshalb praxiswirksam werden, weil sie in einer Menschenrechtserklärung und/oder Verfassung aufgeschrieben wurden. In der Revolutionsepoche stieg die Zahl der zivilgesellschaftlichen Vereine schnell an, von denen sich viele für die Abschaffung von Sklavenhandel und Sklaverei und Frauenrechte einsetzten. Die Zielsetzungen waren aber nicht zwingend inklusiv. Abschaffung der Sklaverei: ja; politische Rechte für ehemalige Sklaven und Sklavinnen: nein. Von einer umfassenden „Gleichberechtigungsordnung“, in der das Prinzip der Nichtdiskriminierung umgesetzt ist, war man 1789 ff. noch weit entfernt – nicht nur in der gesetzlichen und gesellschaftlichen Praxis, sondern auch konzeptuell. Neben vielen anderen Faktoren im 19. und 20. Jahrhundert war es vor allem der Zweite Weltkrieg, der das Bewusstsein dafür schärfte, dass Diskriminierungen beseitigt werden mussten.
[36] Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen (10. Dezember 1948) formuliert in Art. 2 das Prinzip der Nichtdiskriminierung, die Europäische Menschenrechtskonvention vom 4. November 1950 spricht mit Art. 14 ein Diskriminierungsverbot aus, die Charta der Grundrechte der EU (rechtsgültig seit dem Vertrag von Lissabon 2009) führt den Art. 21 „Nichtdiskriminierung“; das Prinzip der Nichtdiskriminierung liegt allen Artikeln von Titel III dieser Charta zugrunde.
[37] Die in diesen Rechteerklärungen konkret aufgezählten Diskriminierungen wurden schon vor dem 18. Jahrhundert praktiziert, aber nur teilweise debattiert. Nehmen wir die EU-Grundrechte-Charta als Ausgangspunkt. Diese nennt konkrete Diskriminierungen: „wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung.“ Es folgt ein Satz zum Diskriminierungsverbot aufgrund von Staatsangehörigkeit. Bis auf „genetische Merkmale“ lassen sich alle aufgezählten Diskriminierungen auf die europäischen Gesellschaften, bzw. im Kontext dieses Blogbeitrags, auf die französische Gesellschaft umlegen. Angemerkt sei, dass die Kategorie „Rasse“ Fragen aufwirft, denn gemeint ist Diskriminierung aus rassistischen Gründen.
[38] Diskriminierungen aufgrund der sozialen Herkunft, der Geburt und des Vermögens wurden von der NV abgelehnt und die rechtlichen Vorkehrungen dagegen in die Rechteerklärung aufgenommen. Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts wurden beibehalten, wenn auch reduziert, wie die sukzessive Familiengesetzgebung zeigt, vor allem die jakobinische Revolution übernahm voll und ganz das binäre Geschlechtsmodell. Die Gesellschaft war da zum Teil weiter, zumindest, was homosexuelle Orientierungen angeht. Diskriminierungen wegen Behinderungen wurden von der Aufklärungspädagogik erkannt, in der Praxis kam es zu wenig Fortschritt, in der NV-Rechtedebatte wurde das nicht thematisiert. Diskriminierungen aus rassistischen Gründen und wegen der Hautfarbe wurden wenig bekämpft, die Abschaffung der Sklaverei erstreckte sich nicht auf die Beendigung solcher Diskriminierungen, auch wenn es Versuche wie beim Abbé Grégoire gab, deren Unhaltbarkeit aufzuzeigen. Diskriminierungen aufgrund „der Sprache, der Religion, der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung“ bleiben bestehen, trotz der Artikel in der Rechteerklärung, die Meinungs- und Religionsfreiheit garantierten. Wie weit die Meinungsfreiheit reichte, war eine Frage der Praxis und wechselte mit den einzelnen Revolutionsphasen. Ein Verfolgung aus religiösen Gründen wurde im Prinzip abgeschafft, auch wenn die radikale jakobinische Revolution mit dem romtreuen Klerus wenig zimperlich umging und das Katholischsein für eine Weile in Frankreich zu einer Untergrundaktivität machte.
[39] Manche Diskriminierungen entstanden erst mit dem politischen Ansinnen, die Bevölkerung zu einer Nation zu machen; zu denken ist an die Sprachpolitik der Revolution, die die regionalen Dialekte zugunsten des Hochfranzösisch zurückdrängte und diskriminierte.
[40] Das ist nur eine Skizze der Problematik. Was sich abzeichnet, sind einzelne Schritte hin zu einer vollständigeren Gleichberechtigungsordnung, mit der Diskriminierungen abgebaut werden, es entstehen aber neue Diskriminierungen und andere, die es gab, die aber mit verbreiteten gesellschaftlichen Strategien umgangen werden konnten, werden verschärft.
[41] Gerald Stourzh hat in seinem Buch „Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung“ (2015) die Entwicklungslinien einer umfassenden Gleichberechtigungsordnung analysiert. Von einer solchen ist man 1789 noch weit entfernt, nicht zuletzt deshalb, weil sie noch nicht angestrebt wird. Ein Bewusstsein dafür, dass sämtliche Diskriminierungen miteinander vernetzt sind und deshalb Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit aushebeln, gibt es zu dieser Zeit noch nicht – und auch heute ist dieses Bewusstsein nicht weit verbreitet und wird, je nach politischer Weltanschauung, stark angefeindet.
[42] Der Begriff „Isonomie“ war in der griechischen Antike in etwa zeitgleich mit „Demokratie“ in Gebrauch, aber weniger häufig. Stourzh schreibt dazu:
[43] „Isonomie“ bindet Herrschaft stärker an das „Gesetz“ und stellt daher den rechtlichen Aspekt öffentlicher Herrschaft stärker in den Vordergrund. „Demokratie“ deutet mit dem zweiten Wortteil, der vom Verb „kratein“ – „herrschen“ – abgeleitet ist, stärker auf den Machtaspekt öffentlicher Herrschaft hin.[2]
[44] Stourzh erörtert sechs „Komponenten“, die hier gerafft referiert werden: (1) „Die allgemeine Rechtsfähigkeit“ (eines jeden Menschen ohne jeglichen Unterschied); (2) „Die Gleichheit vor dem Gesetz, besonders die persönliche Rechtsgleichheit“ (historische Wegmarken u.a.: Bauernbefreiung, Duldungs- und Gleichstellungsprozesse im konfessionellen Bereich, Judenemanzipation und erneute Entrechtung, Zur Gleichberechtigung der Frau, Positive Diskriminierung, Indigene, Staatsbürger und Ausländer). (3) „Die Entwicklung von ‚Grundrechten‘“; (4) „Die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit und besonders der Individualbeschwerde zur Garantie dieser Grundrechte“; (5) „Die Internationalisierung von Grundrechten als Menschenrechte“; (6) „Die Demokratie als Verwirklichung des Grundrechts auf Teilhabe an der politischen Ordnung“.
[45] Konfrontiert man diese „Komponenten“ mit der Rechteerklärung und dem Diskussionsstand 1789 ff., zeigt sich der große Abstand zwischen damals und heute. Nun kann man sagen, damals begann etwas, was trotz aller Rückschläge und Rückentwicklungen dennoch nach und nach durchgesetzt wurde, nämlich eine tatsächliche Gleichberechtigungsordnung. Man kann aber auch sagen, dass Etliches 1789 außerhalb des Denkhorizonts stand und deshalb die übliche historische Genealogie von Demokratie und Menschenrechten infrage zu stellen ist. Es beginnt mit der „allgemeinen Rechtsfähigkeit jedes Menschen ohne jeglichen Unterschied“, die als solche 1789 nicht als Thema aufgeworfen wird. Die Gleichheit vor dem Gesetz ist ein Thema ebenso wie die Grundrechte, 1789 vorzugsweise als Menschenrechte bezeichnet. Eine Verfassungsgerichtsbarkeit wird in den USA implementiert, nicht in Frankreich, sie hat auch mehr mit der Funktionstüchtigkeit eines Bundesstaates zu tun als mit anderen Intentionen.
[46] Wenn man in Bezug auf das ausgehende 18. Jahrhundert von einer „Internationalisierung der Menschenrechte“ sprechen will, dann eher im Bereich der zivilgesellschaftlichen Vereinigungen, die in diese Richtung arbeiten. Das ist gleichwohl nicht mit der Internationalisierung der Menschenrechte z. B. im Rahmen der Vereinten Nationen zu vergleichen. Die sechste Komponente kann für 1789 ff. geradezu verneint werden.
6. Offene Fragen
[47] Geschichtswissenschaft führt fast immer dazu, liebgewordene Meistererzählungen infrage zu stellen – oder gar zu falsifizieren, was beim konkreten Thema in dieser Form jedoch nicht zutrifft. Die gemeinte Meistererzählung ist die von Demokratie- und Menschenrechtsgeschichte als Fortschrittsgeschichte seit den Revolutionen im späteren 18. Jahrhundert. Dieses Narrativ deutet sich mitunter im 19. Jahrhundert an, eine echte Meistererzählung wird daraus aber erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als es darum ging, Gemeinsamkeiten im Sinne eines gemeinsamen kulturellen und demokratischen Erbes „des Westens“ und vor allem als Grundlage der Europäischen Integration zu verbalisieren.
[48] Damit steht man bereits mitten in Geschichtspolitik. Geschichtspolitik für sich genommen ist weder illegitim noch automatisch falsch, sie kann konstruktiv sein, wie im Fall des Aufbaus eines demokratischen Nachkriegseuropas. Vielmehr stellt sich die Frage, wann eine bestimmte Geschichtspolitik ihren konstruktiven Zweck erfüllt hat.
[49] Was nun speziell die Menschen- und Bürgerrechtserklärung von 1789 angeht, fällt ihr Universalismus bis zu einem gewissen Grad aus dem damals üblichen Denkhorizont heraus. Den Abgeordneten war es mit der Deklaration des Rechteuniversalismus ernst, weil sie zur Sicherung der Revolution (deren jahrelange Dauer, je nach Rechnung bis 1799, und deren Entgleisungen sie noch nicht ahnten) nach einem nicht hintergehbaren Argumentationsgerüst suchten. Dies schlug sich in der weiteren Gesetzgebung auch nieder, stieß aber an Grenzen ideologischer und praktischer Natur. Trotzdem handelte es sich nicht um einen Universalismus im Sinne der „modernen Isonomie“ nach G. Stourzh – die durch hegemoniale Männlichkeit geprägte Bürgerliche Gesellschaft wurde nicht infrage gestellt. Allerdings ändert das alles nichts daran, dass der abstrakte Wortlaut mit der modernen Isonomie bestens zusammenpasst, weil der historische Kontext, in dem die Erklärung entstand, dabei außer Betracht bleiben kann. Würde man die Erklärung heute formulieren, wäre das Wording „moderner“ und es gäbe mehr Artikel, aber die Substanz wäre die gleiche universelle.
[50] Das führt noch einmal zurück zum 1789 formulierten Widerstandsrecht, das sehr hoch gehängt wird, indem es als Menschenrecht aufgelistet wird. Der Widerstand gegen Unterdrückung, mit der das Ancien Régime in der Revolution sehr stark identifiziert wird, ist ein, wenn nicht das Leitmotiv für die Erklärung. Die Erklärung wie auch die in Aussicht genommene Verfassung sind zentrale Elemente des Widerstands gegen das Ancien Régime, das Menschenrecht auf Widerstand wird im Juli und August 1789 in Gestalt der Diskussion und Abstimmung der Rechteerklärung praktiziert.
[51] Damit verbunden ist ein anderes Leitmotiv, nämlich rechtlich und institutionell abgesicherte Verhältnisse zu schaffen, sodass im Idealfall im politischen Gemeinwesen kein Widerstand gegen Unterdrückung mehr nötig ist. Die Idee der Nichtdiskriminierung, wie sie seit 1948 in mehreren Grund- und Menschenrechtserklärungen niedergelegt wurde, spielt dabei keine führende Rolle – man war auch gar nicht in der Lage, eine solche Idee in der Weise auszuformulieren, wie wir es in der Gegenwart kennen. Bei der Nichtdiskriminierung geht es um eine im historischen Vergleich erweiterte Auffassung davon, was das Menschsein ausmacht. Das geht über die Vorstellungen im späten 18. Jahrhundert weit hinaus und beendet die Ambivalenzen, die im Zusammenhang vor allem der sich etablierenden Anthropologie entstanden.
7. Literatur
7.1. Zur Debatte in der französischen Nationalversammlung im Sommer 1789
(Die Grundlagenforschung zur Rechteerklärung von 1789 wurde im Rahmen des Bicentenaire der Franz. Revolution, 1989 ff., entscheidend vorangebracht. Dies bezieht sich auf die Rekonstruktion der Debatten in der Nationalversammlung sowie auf die umfassende Einbettung in die historischen Kontexte. Diese Grundlagenforschung ist unverändert relevant.)
L’An I des droits de l’homme. Textes réunis par Antoine de Baecque, présentés par Antoine de Baecque, Wolfgang Schmale et Michel Vovelle. Paris: Presses du CNRS, 1988.
La déclaration des droits de l’homme et du citoyen. Présentée par Stéphane Rials. Paris: Hachette, 1988.
Gauchet, Marcel: Die Erklärung der Menschenrechte. Die Debatte um die bürgerlichen Freiheiten 1789. Aus dem Französischen von Wolfram Kaiser. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1991.
Hunt, Lynn: The French Revolution and Human Rights: A Brief Documentary History. Boston, Mass.: Bedford Books of St. Martin‘s Press, 1996 (u.ö.).
7.2 Historische Kontexte
Edelstein, Dan (2019): On the Spirit of Rights. Chicago: The University of Chicago Press.
Israel, Jonathan Irvine (2011): Democratic Enlightenment. Philosophy, revolution and human rights 1750–1790. Oxford: University Press.
Kloppenberg, James T. (2016): Toward Democracy. The struggle for self-rule in European and American thought. Oxford, New York: Oxford University Press.
Palmer, Robert R. (1959): The Age of Democratic Revolution. A political history of Europe and America, 1760–1800. The Challenge. Bd. 1. Princeton, N.J.: Princeton UP.
Palmer, Robert R. (1964): The Age of the Democratic Revolution. A political history of Europe and America, 1760–1800. The Struggle. Princeton, N.J.: Princeton University Press.
Schmale, Wolfgang (2021): Gesellschaftliche Orientierung. Geschichte der „Aufklärung“ in der globalen Neuzeit (19. bis 21. Jahrhundert). Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
7.3 Zur Dekonstruktion traditioneller demokratiegeschichtlicher Erzählungen
Isakhan, Benjamin; Stockwell, Stephen (Hg.) (2012): The Edinburgh Companion to the History of Democracy. Edinburgh: Edinburgh University Press.
Schmale, Wolfgang (Hg.) (2025): Demokratiegeschichte (= Historische Mitteilungen 34, 2023). Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
Stasavage, David (2020): The Decline and Rise of Democracy. A global history from antiquity to today. UB online. Princeton: Princeton University Press.
Stourzh, Gerald (2015): Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung. Ein Essay. Wien: Böhlau Verlag.
[1] Die Abgeordneten der NV waren in alphabetischer Reihenfolge 30 „Büros“ à 40 Mitglieder zugeteilt.
[2] Stourzh, Moderne Isonomie, S. 25.
Zitiervorschlag: Wolfgang Schmale: 26. August 1789 – ein Versuch zu Menschen- und Bürgerrechten. Gab es ein Bewusstsein für den Zusammenhang von Nichtdiskriminierung und Demokratie? In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/erklaerung-der-menschen-und-buergerrechte-august-1789, Eintrag 5.11.2024 [Absatz Nr.]