[1] Im Blog vom 24. April 2016 wurde die allenthalben geäußerte Kritik, es gebe zu wenig politischen Streit, was sich auf die Demokratie kontraproduktiv auswirke, diskutiert. Die implizite Hypothese lautet offenbar, dass die „Falschen“ den Streit als Instrument benutzen.
[2] Politischer Streit ist kein Selbstzweck, er muss zu einem praktikablen Ziel führen. Andernfalls führt er nur zu Blockaden. Der griechische Ministerpräsident Alexis Tsipras hat allen gezeigt – und sich damit eigentlich Verdienste um Europa erworben –, wie aus Streit etwas Konstruktives wachsen kann. Nicht, dass Griechenlands Probleme gelöst wären, aber Tsipras und seine Partei (größtenteils) haben aus einem fundamentalen politischen Streit, den sie als Opposition geführt haben, den Weg in die Regierungsverantwortung gefunden. Nur zwei Gegenbeispiele: Cinque Stelle in Italien und Podemos in Spanien haben sich der Regierungsverantwortung verweigert und haben sich als unfähig erwiesen, aus politischem Streit ein praktikables Ziel wachsen zu lassen, obwohl sie die Stimmen von mehreren Millionen WählerInnen bekommen hatten.
[3] Europas Rechtsparteien handeln anders, sie führen den politischen Streit, den sich die ehemaligen Volksparteien nicht mehr zutrauen, und ergreifen jede Gelegenheit, in eine Regierung einzutreten. Dort kassieren sie nicht nur hohe Gehälter, während sie ungerührt mitteilen, dass sie für die Benachteiligten in der Regierung säßen, sondern setzen ihre politischen Ziele durch. Die stark zersplitterte Linke in Frankreich blockiert sich selbst und verliert an Zustimmung, während die deutsche Linkspartei, die Tsipras näher steht als den französischen Linken, in einigen Bundesländern seit vielen Jahren Regierungsverantwortung trägt.
[4] Vorstehendes sind eher formale Beobachtungen, die erweisen, dass das Nutzen des politischen Streits, also jenes für eine Demokratie konstitutiven Instruments, gegenwärtig asymmetrisch geschieht. Im schlimmsten Fall läge das daran, dass bestimmte und ehemals bestimmende Parteien inhaltlich nichts mehr anzubieten haben, was wiederum mit dem langsamen Verschwinden der sozioökonomischen Mitte, mit dem Abmagern des Mittelstandsbauchs zu tun hat. Diese Parteien haben sich, wie Chantal Mouffe sagt, zu sehr einem Konsens der politischen Mitte unterworfen – und, so könnte man hinzufügen, zur Unzeit, nämlich zu einer Zeit, in der der vermeintlichen politischen Mitte schon keine sozioökonomische Mitte mehr entsprach.
[5] Da die Rechtsparteien keine aussichtsreichen ökonomischen Konzepte haben, die die Schere zwischen arm und reich verringern und den sozioökonomischen Mittelstand wieder zum Wohle Aller stärken könnten, verlegen sie sich auf nationalistische Geschichtsklitterung, beschwören ‚alte historische Größe‘ und den autonomen Nationalstaat. Sie versprechen Wohlfühlsicherheit durch scharfe Gesetze und scharfe Ausgrenzung von allen und allem, was zuvor mit Bedacht aus dem Begriff des Nationalen ausgeklammert wurde. Als Antonyme werden Multikulturalität, Homosexualität, queer, Gender, Islam, Wirtschaftsflüchtlinge, Asylanten, Flüchtlinge, Ausländer, Elfriede Jellinek (und viele weitere LiteratInnen, KünstlerInnen) usw. aufgebaut, auf die verbal und psychisch eingedroschen wird. Da hinter diesen Begriffen immer Menschen stehen, wird konkret auf diese zunehmend auch mit physischer Gewalt eingedroschen.
[6] Alex Rühle hat in der SZ vom 29. April 2016 über die in ganz Europa verbreiteten „Identitären“ geschrieben. Er kommt zu dem Schluss, der auch als Zwischentitel in dem Artikel fett hervorgehoben ist, dass „(a)us dem völkischen Rassismus … ein kulturalistischer Rassismus geworden (ist).“
[7] Dazu kommen Versatzstücke des aus der europäischen Geschichte leidlich bekannten ethnischen Rassismus.
[8] Wie immer, wenn sich in Europa tektonische Verschiebungen in der politischen Landschaft ereignen – und das tun sie seit geraumer Zeit –, wird zuerst die Sprache der Freiheit massakriert.
[9] Begriffe wie multikulturell, queer, Gender und Dutzende andere haben die verschiedenen europäischen Sprachen in den letzten Jahrzehnten bereichert. Sie verweisen auf Befreiungen von sozialen Zwängen, die dysfunktional geworden sind, sie verweisen auf einen breiten gesellschaftlichen Wandel, dessen entscheidende Triebkraft die Freiheit und Freizügigkeit des Einzelnen ist, die Freiheit einer weitreichenden Selbstbestimmung. Diese Freiheitsidee erstreckte sich schließlich nicht mehr nur auf die Angehörigen einer nationalen Gesellschaft, sondern wurde zweifach geöffnet: Innerhalb der EU in Bezug auf den Status der EU-Bürgerin, des EU-Bürgers, global in Bezug auf die Möglichkeiten für Menschen von außerhalb der EU. Der EU-Bürger-Status ist im Grunde ein Kürzel für die im EU-Vertrag vereinbarte Freizügigkeit aller EU-BürgerInnen in der EU (die aktuell wieder eingeschränkt wird). Die globale Dimension ist von vielen Ausnahmen gekennzeichnet, hier könnte man sagen, dass die Weigerung, ein europäisches Einwanderungsrecht zu schaffen, ein Kürzel für die Brüchigkeit dieser Erweiterung der praktischen Freiheit darstellt.
[10] Einige Begriffe wie Multikulturalität, Gender/Genderforschung, Queer-Studies, Homosexualität, Transsexualität, Intersexualität, in letzter Zeit zunehmend Islam, verweisen auf den Veränderungsprozess der Gesellschaft. Dieser zeigt sich nicht nur in sozialen Praktiken, sondern wird u.a. von der Literatur, der Kunst und den Wissenschaften thematisiert. Die Angriffe auf Elfriede Jellinek und andere AutorInnen, die die Sprache der Freiheit und ihrer Feinde literarisch und künstlerisch thematisieren, sind Angriffe auf Personen UND die Sprache der Freiheit.
[11] Leider hat sich auch die SZ vor zwei Wochen durch den Abdruck eines unsäglichen Artikels zum Thema der Genderforschung, die die AfD verbieten möchte, daran beteiligt, die Sprache der Freiheit, die sich ganz besonders in zentralen Begriffen wie Gender/Genderforschung ausdrückt, in Misskredit zu bringen.
[12] Es kommt nicht von ungefähr, dass bestimmte PolitikerInnen, die teils an der Macht sind wie in Polen und Ungarn, oder teils danach streben, wieder Homosexualität unter Strafe stellen wollen, homophobe Aktionen tolerieren oder unterstützen. Das Großzügige unserer Freiheit, die wir nach 1945 aufbauen konnten, wird durch die Ausübung von psychischem und physischen Druck negiert, die Begriffe, die diese Freiheit repräsentieren, werden diskreditiert und schließlich massakriert.
[13] In Europa besteht ein politischer Streit, er ist allerdings stark kulturell ausgerichtet. Ethnisch-rassische Positionen mengen sich immer wieder bei. Die europäische Kultur, wie sie sich nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelt hat, wird infrage gestellt. Das geschieht keineswegs nur intellektuell-kritisch, sondern in Gestalt von konkreten Angriffen auf die Sprache der Freiheit, die nach 1945 unter starker Beteiligung aller Geistes- und Humanwissenschaften gefunden wurde, und auf Personen.
Dokumentation:
Alex Rühle: Sanfte Auslöschung. Die „Identitären“ in Wien, Paris oder Bad Schlema sind der popkulturelle Arm der Rechtsextremen, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 99, Freitag, 29. April 2016, S. 11.
Bild: Der kolumbianische Künstler Carlos David De los Ríos Leser schuf dieses Bild als Coverbild für folgende Publikation: Max Sebastián Hering Torres/Wolfgang Schmale (Hrsg.): Rassismus (= Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit, Jahrgang 2003 Heft 1)
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Massaker an der Sprache der Freiheit. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/massaker-an-der-sprache-der-freiheit, Eintrag 30.04.2016 [Absatz Nr.].
Auch mich bewegt diese Thematik, als Historiker, sehr. Hierzu:
http://www.peter-pichler-stahl.at/uncategorized/die-derzeitige-situation-der-welt-und-europa-im-kontext-der-harten-musik-rust-in-peace/?preview_id=688&preview_nonce=aa65882e52&post_format=standard&preview=true
Der Link ist für Externe so nicht zugänglich, bitte überprüfen!
Wolfgang Schmale