Europa 2025 – eine Bilanz

Die USA wollen ein anderes Europa und arbeiten aktiv daran

Im November des Jahres 2025 hat die US-Regierung ihre neue National Security Strategy festgelegt und Anfang Dezember veröffentlicht, in der sie unter anderem wieder einmal Europa den richtigen Weg weisen will. Europa gehe den falschen Weg, verschließe sozusagen die Augen vor den machtpolitischen Realitäten, beschränke die Meinungsfreiheit, baue die Demokratie ab, ließe sich demografisch durch Zuwanderung austauschen. Man will noch stärker mit den Parteien der Rechten und Rechtsextremen in Europa zusammenarbeiten, die im Papier „patriotisch“ genannt werden.

Aus europäischer Sicht baut die Trump-Regierung die US-Demokratie ab, schränkt die Meinungsfreiheit durch Einschüchterung und Drohungen ein, arbeitet gegen die nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete internationale Ordnung und setzt sich über nationales und internationales Recht und Gesetz hinweg. Die US-Regierung will sich, immer gemäß dem Strategiepapier, keineswegs von Europa abwenden, aber diese Zuwendung gilt nur einem Europa nach US-Vorstellung und US-Willen. Letzteres findet ein positives Echo bei den „patriotischen“ Parteien, also bei jenen nationalpopulistischen Parteien, die in Europa weit rechts stehen und die die antihumani(tar)istische xenophobe Haltung der US-Regierung und eines Teils der Partei der Republikaner teilen.

Diese Parteiengruppe legt seit Jahren an Wähler*innenstimmen zu. Zuletzt ist sie wieder in Tschechien an die Macht gekommen. In Italien, Serbien, Slowakei und Ungarn regiert sie, in Schweden ist die Regierung auf ihre Unterstützung angewiesen, in Polen gehört der neu gewählte Staatspräsident dieser Gruppe an, in Frankreich wird sie 2027 sehr wahrscheinlich die Präsidentschaftswahlen gewinnen sowie die zur Assemblée Nationale, sofern nicht vorher gewählt wird (unwahrscheinlich). In Deutschland liegt die AfD im Bund annähernd gleichauf mit der CDU/CSU, in den ostdeutschen Bundesländern ist sie gemäß Umfragen inzwischen die stärkste Kraft und wird die dortigen Landtagswahlen 2026 gewinnen. Die FPÖ ist in Österreich die bei den Wähler*innen beliebteste Partei und stellt wieder einen Landeshauptmann (Steiermark), in anderen Bundesländern regiert sie mit. Im Europäischen Parlament stimmt die Europäische Volkspartei als größte Formation immer öfter mit den rechts von ihr stehenden Parteien ab und gibt die bisherige ohnehin lockere weltanschauliche Gemeinschaft mit den Liberalen, Sozialdemokrat*innen und Grünen auf. Und so weiter.

Anders ausgedrückt: Trump, Vance & Co. werden in den kommenden zwei Jahren mehr verbündete Parteien in europäischen Regierungen als Ansprechpartner haben. In einer ersten Phase wird die Arbeit in der EU und im nicht-EU-Europa noch holpriger werden, was zur von diesen Parteien angestrebten Schwächung der EU führen wird. In einer zweiten Phase werden die auch jetzt schon vorhandenen nationalistischen Diskrepanzen zwischen diesen Parteien, da sie an der Regierungsmacht sind, deutlich zutage treten und erst recht die EU einbremsen und teilweise handlungsunfähig machen. Sollten sich die Republikaner des US-Kongresses bei den Midterms 2026 halten können und bei den nächsten Präsidentschaftswahlen auch den Nachfolger von Trump stellen, wird die EU/Europa nach den beiden Schwächungsphasen entweder ganz nach der US-Pfeife tanzen müssen oder es wird zu massiven Konflikten kommen. Die nationalpopulistischen Parteien besitzen nur wenige gemeinsame ideologische Elemente wie Xenophobie und Verschwörungstheorien à la „Bevölkerungsaustausch durch Migration“; gäbe es mehr, wären sie nicht mehr „patriotisch“, also nationalpopulistisch. Autoritär denkende Politiker*innen glauben, sie seien internationale Verwandte, aber das Autoritäre führt früher oder später nur zu Konfrontation. Ansonsten fehlt ihnen der nötige Sachverstand für die Komplexität von Wirtschaft, Sozialsystemen usw. Es wird zu einem deutlichen Wohlstandsverlust in Europa kommen, dem die erwartbaren harten sozialen Konflikte alsbald folgen werden, auf die mit autokratischen Methoden (siehe aktuell Serbien) reagiert werden wird.

Tektonische Verschiebungen im globalen Machtgefüge. Mit schierer Machtpolitik kennt sich Europa nicht mehr aus. Sollte es?

Die nach dem Ersten Weltkrieg aufgekommene Befürchtung, Europa könne zwischen großen Mächten aufgerieben werden, scheint sich nun, ein Jahrhundert später, zu bewahrheiten. Europa hat den USA, der Russländischen Föderation (RF), China und Indien wenig machtpolitisch entgegenzusetzen. Diese Länder können alle ohne Europa, umgekehrt gilt das nicht. Trotz der Konflikte zwischen den USA und China sowie Indien und China hat sich eine neue Konstellation entwickelt, in deren Mitte die Russländische Föderation steht: China kooperiert sehr viel enger als noch vor einigen Jahren mit dem Land, Indien tut es auch, Trump möchte es gerne und scheint bereit, quasi die Ukraine dafür dem Gutdünken der RF zu überlassen. Der Ukraine-Krieg hat bisher nicht zu einer Isolation der RF geführt, sondern zu einer tektonisch zu nennenden Verschiebung im globalen Machtgefüge. Zudem knüpft die RF offenkundig an die seinerzeitige Afrikapolitik der Sowjetunion an, derzeit mit dem Schwerpunkt bei Ländern der Sahelzone.

Mit schierer Machtpolitik kennt sich Europa nicht mehr aus. Sollte es? Europa hat nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive den Weg des Rechts – im Innern wie in den Internationalen Beziehungen –, des Multilateralismus und des „süßen Handels“ („doux commerce“: ein im 18. Jahrhundert aufgekommenes Friedens-Ideal) beschritten. Die internationalen Aktivitäten sollten zudem die Menschenrechte fördern helfen. Es wurden viele Rechtsinstrumente geschaffen, um die europäischen Firmen dazu zu bringen, auf menschenwürdige und menschenrechtskonforme Arbeits- und Produktionsbedingungen in den Betrieben der Wirtschaftspartner zu achten sowie auf Nachhaltigkeit und verschiedene ökologische Standards Rücksicht zu nehmen. Seit den 1990er Jahren kamen rechtliche Rahmensetzungen zugunsten des Klimaschutzes dazu. Im Zuge der geopolitischen Veränderungen wird all dies infrage gestellt, auch in Europa, wenn auch hier noch am wenigsten.

Europa hält am human(itar)istischen Modell fest. Die sicherste Barriere vor einem umfassenden Krieg

Idealiter hält Europa an einem human(itar)istischen Modell fest: Menschenrechte, Arbeitsschutz, Arbeitnehmer*innenrechte, Gesundheit am Arbeitsplatz, Nachhaltigkeit, Kontrolle der Lieferketten, Bekämpfung des Klimawandels, Artenschutz, Förderung der Vielfalt in Flora und Fauna und in der menschlichen Lebenswelt, Demokratie, um einige Punkte aufzuzählen. Noch ist das Gerüst dieses Modells gut zu erkennen und es hält im Prinzip in der Praxis. Aber in Europa selbst wird das Gerüst mit Säure besprüht, dickere Gerüststangen werden durch dünnere ausgetauscht. Dies geschieht aufgrund von Druck von außen, insbesondere durch die USA, aber auch im Zuge der Infragestellung der Demokratie im Innern. Obwohl das Modell als solches alles andere als überholt und am ehesten geeignet ist, einem nächsten großen Krieg wenn nicht Weltkrieg vorzubeugen.

Die Mehrzahl der derzeitigen Regierungen in Europa hat verstanden, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg von den USA aufgebaute Komfortzone abhanden gekommen ist und dass sich die USA – mit oder ohne Trump & Co – aus der transatlantischen Partnerschaft verabschieden, genauer gesagt: einfach gehen. Das Land praktiziert schon jetzt so etwas wie eine Politik des leeren Stuhls bei der NATO.

Europa, speziell die EU, gibt sich bisher wenig widerständig, weil man Angst vor Repressionen der USA und Chinas hat. Früher oder später wird das aber nicht mehr funktionieren und die Konsequenzen von Widerspruch und Widerstand werden auszuhalten sein. Das kommt zur hybriden Kriegsführung der RF in Europa dazu. Trotzdem ist es richtig, im Rahmen der Bemühungen um eine Beendigung des Angriffskrieges der RF gegen die Ukraine auf das Vorgehen der US-Regierung, die Europäer auszusperren, nicht mit Wut und Empörung zu reagieren, sondern jeden offenen Spalt zu nutzen, um sich einzubringen, selbst wenn sich unzählige Diplomat*innen und Politiker*innen bis hin zu Staats- und Regierungschefs mittlerweile durch die US-Leute haben erniedrigen lassen müssen.

Dies ist ein Preis, den die europäischen Regierungen zu zahlen bereit sind, solange sie Grund haben anzunehmen, dass trotz allem und trotz aller Rhetorik und trotz aller undiplomatischen Rüpeleien die USA an der bisherigen Partnerschaft festhalten, in der sie die ganzen Jahrzehnte über ohnehin der Hegemon waren. Die europäische „Schwäche“ hat folglich durchaus mit Kalkül zu tun.

Dass US-Regierungen glauben besser zu wissen, was für Europa gut ist, ist an sich nichts neues, egal, ob Republikaner oder Demokraten regieren, aber die Verächtlichkeit und Feindseligkeit, mit der das jetzt geschieht, wird bleibende Spuren hinterlassen. Wie das alles einmal ausgehen wird, lässt sich derzeit nicht vorhersagen. Zu befürchten ist, dass die MAGA-Politik, die zur Zeit brutal durchgezogen wird, im genauen Gegenteil von great again endet, nämlich einer Implosion der USA.

Hat die europäische Demokratie eine Chance?

Was Europa selbst, besonders die EU angeht, herrscht der oberflächliche Eindruck, dass weitergewurschtelt wird wie bisher, als braue sich rundherum nichts zusammen. Jedenfalls stellen sich ganz grundsätzliche Fragen: Die US-Regierung und viele Rechts- und Linksparteien (wie La France Insoumise) in den EU-Ländern wollen die EU zugunsten nationaler Agenden schwächen. Diese Bedrohung ist ebenso real wie viele andere. Jeder europäische Staat, auch die größten Volkswirtschaften wie Deutschland, Frankreich und Italien, werden ohne EU keinerlei Souveränität mehr besitzen, die großen Mächte, die es nun mal gibt, werden mit ihnen nach Gutdünken Ping-Pong spielen. Was sich im Falle einer Verwirklichung der Bedrohung zuerst bemerkbar machen wird, ist ein schleichender Wohlstandsverlust, die innereuropäischen Grenzen werden wieder zu 100% staatliche Außengrenzen, gemeinsame Politiken in der Kriminalitätsbekämpfung werden zerfallen, das Minimum an Kooperation, das es derzeit in Fragen der Migrationskontrolle gibt, wird schnell beendet sein. Die Beschwörung eines „Europas der Nationen/Vaterländer“ durch die nationalpopulistischen Parteien wird in kürzester Zeit den prioritären nationalen Egoismen weichen und einem Europa der Konflikte Platz machen. RF, USA, China und sicher einige andere Länder würden das mit Vergnügen sehen und ihre Vorteile realisieren. Für sich allein stehende europäische Länder sind an hunderten von Punkten erpressbar und gegeneinander ausspielbar.

Die EU ist eine Kompromissmaschine, was wiederum Ausdruck des Versuchs ist, zwischen den Mitgliedsländern (plus weiteren) und in ihren Beziehungen demokratische Prinzipien walten zu lassen. Zwar wird in vielen Fällen in der EU mit Mehrheit entschieden, aber so, dass keine Mehrheit über die Minderheit einfach drüberwalzt. In der Demokratie entscheidet die Mehrheit nicht in Gestalt eines Drüberwalzens, sondern sie ist an übergeordnete rechtliche Rahmensetzungen gebunden, die unter anderem Minderheiten und Minderheitspositionen schützen. Darin steckt die Erfahrung, dass Wählen und Mehrheitsentscheid allein noch lange keine Demokratie begründen.

Die EU übt sich also weiterhin in europäischer Demokratie, was mehr ist als die Summe der demokratischen Systeme der Mitgliedsstaaten. Solange die EU kein Bundesstaat ist, ist die Demokratisierung der zwischenstaatlichen Beziehungen im gemeinsam geschaffenen Rechtsrahmen der EU die bisher wichtigste historische Leistung innerhalb der europäischen Integration, weil damit jene Macht-Konstellationen verhindert werden, die zu den von Europa ausgehenden Weltkriegen geführt haben. Dafür kann man das, was oberflächlich wie Wurschtelei aussieht, in Kauf nehmen.

Gleichwohl stellt sich das Gefühl ein, dass wir in Zeiten leben, wo sich Europa keine Wurschtelei mehr leisten kann, sondern schnell in aktuellen Konflikten Handlungsfähigkeit herstellen muss. Man wünscht sich das Sprechen mit einer Stimme, keinen vielstimmigen Chor. Die europäische Demokratie im Sinne einer zwischenstaatlichen Demokratie stößt sich an der geopolitischen Lage. Aber ebenso wenig, wie es irgendwelche Gründe geben könnte, die einzelstaatliche Demokratie durch Autokratie zu ersetzen, gibt es keine Gründe, die europäische Demokratie durch irgend etwas anderes zu ersetzen. Sie ist nicht ersetzbar.

Die geopolitischen Konflikte werden nicht dadurch gelöst, dass sich Europa dem Prinzip der Autokratie unterwirft. Mit Recht halten diejenigen europäischen Regierungen, die sich bezüglich einer Konfliktlösung für die Ukraine nicht wegdrängen lassen, am Prinzip einer nachhaltigen Friedenslösung fest, die weder die USA noch die RF noch China wollen. Es wird wenig diskutiert, ob hier nicht die europäische Vielfalt auch Vorteile beinhalten könnte. Mindestens innerhalb Europas sorgt diese für eine gewisse Besonnenheit.

Besonnenheit zeugt nicht von Schwäche. Sie sorgt dafür, dass nichts zerstört wird, was für eine nachhaltige Friedenslösung einmal gebraucht werden wird. Wie tönern die Füße sind, auf denen jeweils die RF und die USA stehen, weiß niemand so genau. China steht auf einem sehr soliden Sockel, es ist der einzige schon jetzt feststehende Sieger im Rahmen der aktuellen internationalen Konfliktlage. Öffentlich wird darüber kaum diskutiert, als sei dies abwegig, was nicht zuletzt an der schlechten Qualität der erreichbaren Fakteninformationen liegt. Es fällt schon auf, dass auch in seriösen Medien den Auslandskorrespondent*innen nurmehr für deren „Einschätzung“ oder alternativ „Einordnung“ gedankt wird, während man doch gerne substanzielle Informationen hätte, die über das scheinbar Offensichtliche hinausgehen.

Aufrüsten für Europas demokratisch-humani(tar)istische Modell?

Die RF hat nicht nur die Ukraine überfallen und führt seit knapp vier Jahren Krieg gegen das Land, insbesondere gegen die Zivilbevölkerung, weil an den Fronten seit 2022 keine großen Erfolge erzielt werden. Nicht einmal Trumps Kehrtwende zugunsten der RF hat zu größeren Erfolgen an den Fronten geführt. Also wird die Zivilbevölkerung terrorisiert.

Die RF führt auch gegen das gesamte Europa Krieg mit Hilfe von Sabotageakten, Kartierung der militärischen und zivilen Infrastruktur mit Hilfe von Drohnen und Informant*innen, antisemitischen (mehrfach in Frankreich) und anderen Provokationen, um vorhandene Konflikte zu schüren, Cyberattacken, Fake News und alle Register der anti-demokratischen Propaganda in digitalen und analogen Medien. Sie nutzt dabei die traditionelle Russophilie in Europa sowie die naive Bewunderung, die autoritär strukturierte Menschen autokratischen Systemen und der Macht von Alleinherrschern entgegenbringen.

Die Mehrheit der europäischen Länder hat sich zur militärischen Aufrüstung entschlossen, um die RF besser abzuschrecken und ein Kippen des hybriden Kriegs der RF in einen heißen mit Bomben, Kampfdrohnen und Raketen zu verhindern. Das europäische demokratisch-humani(tar)istische Modell, das nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa und international (UNO) entwickelt wurde, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern, ist die direkte Zielscheibe der hybriden Kriegsführung. Hat sich Angst in der Bevölkerung festgesetzt, ist der Weg frei für die Transformation von Demokratien in Wahlautokratien, gestützt auf eine Oligarchie aus Milliardären. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg ist bereits 2025 keine große Macht mehr übrig, die die Demokratie will. Es wird keine Chance für ein neuerliches demokratisch-humani(tar)istisches Modell geben. Man könnte einwenden, dass die hier zugrunde gelegte Sicht auf Europa (das demokratisch-humani(tar)istische Modell) viel zu idealistisch sei. Der Einwand ist gerechtfertigt, da ein Teil der Bevölkerung in Europa diesem Modell seine Zustimmung ganz oder teilweise verweigert. Das beinhaltet aber mitnichten eine Widerlegung der Sinnhaftigkeit des Modells, das in den Weltkriegserfahrungen wurzelt und seitdem weiter entwickelt wurde. Dazu gehört z. B. die selbstkritische Sicht auf die eigene Gewalt- und Kolonialgeschichte und die Bereitschaft sowie Fähigkeit, daraus Konsequenzen zu ziehen. Es gibt inzwischen keinen härteren Kontrast als zwischen einer demokratisch-humani(tar)istisch inspirierten Geschichtspolitik, wie sie Deutschland, Frankreich, Österreich und andere Länder (aber keineswegs alle europäischen) fördern, einerseits, und der auf Unterdrückung und „erforderlichenfalls“ Vernichtung ausgerichteten Geschichtspolitik der RF. Irgendwo dazwischen liegt die Geschichtspolitik der USA und anderer Länder.

In Europa herrscht keine Aufbruchstimmung

Das Jahr 2025 hat die vielen Schwächen Europas sichtbar gemacht. Europa ist bei den wohl nicht nur vermeintlichen Zukunftstechnologien (Raumfahrt, KI, Biotechnologien, Data Sciences u.a.) dabei, aber eher unter „ferner liefen …“. Da es selber zu wenig Chips – am allerwenigsten Chips, wie sie Nvidia für KI-Anwendungen herstellt – produziert, bei vielen wesentlichen Elementen von Seltenen Erden bis zu Batterien und Solarpanelen speziell vom Gutdünken Chinas abhängt (nicht zu reden von – immer noch – Gas, Erdöl, Uran), bei digitalen Dienstleistungen geradezu am Tropf der USA hängt, scheint Optimismus hinsichtlich mehr Unabhängigkeit und Selbstständigkeit nicht angebracht. Das alles ist nicht so einfach selbstverschuldet, denn auch heute wäre ein freier Handel mit global funktionierenden Lieferketten und globaler „Arbeitsteilung“ immer noch die bessere Lösung, aber zu viele Länder sehen in der Praktizierung von Machtpolitik einen größeren Reiz als im „doux commerce“, der freilich so süß und sanft nicht gewesen ist und zahlreiche Asymmetrien beinhaltete.

Doch all dies ist bis zu einem gewissen Grad Schnee von gestern, worum es für Europa geht, wird seit einigen Jahren mit „Europäischer Souveränität“ bezeichnet. Dafür braucht es nicht nur öffentliche Investitionen, sondern auch eine unternehmerische Aufbruchstimmung, die sich in Europa in den traditionsreichen Industrien wie der Kfz-Industrie kaum findet. Hier wird gejammert, die offene Hand dem Staat entgegengestreckt und ansonsten für überholte Techniken lobbyiert. Fast alle europäischen Autobauer waren in den Dieselskandal, sprich: umfassenden Betrug, verwickelt. Es sollte der Eindruck entstehen, dass Diesel-PKW eine saubere Technologie darstellten, obwohl es in Wirklichkeit nicht so war und nicht so ist. Das geschah zu einem Zeitpunkt, als längst angesichts des Klimawandels das Ziel, nicht mehr als 1,5 Grad Temperaturanstieg zuzulassen (seit Beginn der 2000er Jahre), in der Zielgeraden war und es klar war, dass auf andere Antriebstechniken umgestiegen werden muss. Wie viele Milliarden sind da hinein geflossen statt in Zukunftsinvestitionen? Darin manifestiert(e) sich ein rückständiges und letztlich rücksichtsloses Denken, das in der europäischen Wirtschaft immer noch verbreitet ist.

Bürokratieabbau ist ein Zauberwort geworden, doch die Unternehmen meinen damit nicht die innovationsfeindliche Bürokratie, die sie selber eingeführt haben, und dass oft der Abbau von Standards gemeint ist, wird verschämt verschwiegen. So wird Bürokratieabbau kaum erfolgreich sein.

Es fehlt sicher nicht bei Start-ups und Kleinen und Mittleren Betrieben an Innovationswillen und -potenzial, doch die ehemals starken industriellen Zugpferde, die es trotzdem braucht, sind altersschwach. Ein eigener europäischer Markt für digitale Dienstleistungen nach Art der US-Firmen wird nicht schnell aufgebaut werden können, es fehlt an Investitionswillen und wohl auch an Einsicht. Dass China technologisch Europa überholt hat, ist kein Drama, im Gegenteil, aber es reicht nicht, Zölle anzuheben, sondern es muss analysiert werden, was Europa tun muss, um nachzuziehen. Es geht um zahllose Arbeitsplätze und die Finanzierung unter anderem des Sozialsystems. Das geht nur mit Innovationsbereitschaft, Innovationsbereitschaft, und nochmals Innovationsbereitschaft.

Trotz aller Kritik sollte der Verlockung des Lamentierens „Ach, Europa!“ widerstanden werden. Die Vielfalt, die das Proprium Europas ist, verhindert, dass es nur eine Entwicklung in nur eine Richtung geben wird. Europa hat viel Potenzial. Vieles davon liegt in Ketten, weil nicht einmal das älteste Ziel der institutionell getragenen europäischen Integration, die Wirtschaftsgemeinschaft, erreicht ist. Wirtschaftsgemeinschaft ist hier weniger im völkerrechtlichen Sinn gemeint, sondern als Dachbegriff für die Integration aller Wirtschaftsbereiche. Als Stichwort sei nur „Bankenunion“ genannt. Eine europäische Kreislaufwirtschaft voranzubringen, wäre ebenfalls notwendig, schon allein, weil die Rückgewinnung wichtiger Rohstoffe für das Erreichen Europäischer Souveränität wesentlich ist. Dafür müssen z. T. noch Technologien implementiert werden, im Prinzip gibt es sie bereits.

2026 wird ein entscheidendes Jahr werden. Es wäre unklug, das demokratisch-humani(tar)istische Modell weiter zu schwächen. Es zu bewahren, wird viel Resilienz erfordern.

DokumentationVertiefende Artikel
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Europa Eröffnungsbilanz 2016
Europa Bilanz 2015

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa 2025 – eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, https://wolfgangschmale.eu/europa-2025-bilanz, Eintrag 11.12.2025 [Absatz Nr.].

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