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Europa 2021 – Eine Bilanz

Datum: 28 Dez. 2021
Von: Wolfgang Schmale
Tags: Europa Bilanz 2021
Kommentare: Comments are off

China, Russland und die Türkei füllen die Lücken, die das Desengagement der USA hinterlässt. Die EU tut sich schwer, den Schritt zur Verteidigungs- und Außenpolitikgemeinschaft zu vollziehen.

[1] Zum Ende des Jahres 2021 beherrschten die Themen Ukraine/Russland sowie Covid-19/Omikron-Variante die Schlagzeilen. Kurz zuvor war noch die Situation der Flüchtlinge vor allem an der belarussisch-polnischen Grenze ein Hauptthema gewesen, hinter dem andere wie die Planungen für die französische EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 2022 zurücktraten. Über das Jahr verteilt vergrößerten sich die Sorgen um den Erhalt des Rechtsstaatlichkeitsprinzips, nachdem die polnische Regierung, mit Unterstützung der ungarischen und gelegentlich weiterer Regierungen (u.a. Slowenien und Tschechische Republik), eine offensive Strategie zur Veränderung der EU-Prinzipien eingeleitet hatte.

[2] Viele weitere Aspekte waren und sind zukunftsrelevant wie die Mindestbesteuerung großer Konzerne, der Klimaschutz, die Digitalisierung des Alltags, eine Migrationspolitik, die Pandemiebekämpfung im Zusammenhang der Gewährleistung der Grundrechte, Erhalt und Modernisierung der Demokratie, die Chinapolitik, die sicherheitspolitischen Veränderungen in der direkten geografischen Nachbarschaft Europas, der Rückzug aus Afghanistan, etc.

[3] In Summe muss festgestellt werden, dass Kriege nicht nur nicht verhindert werden konnten, sondern die Gefahr weiterer Eskalationsstufen wie in der Ostukraine gewachsen ist. Die Ukraine erscheint wie eine Obsession Präsident Putins, bar jeder Rationalität – außer jener, die der Wiederkehr von Großmachtpolitik innewohnt. Dies betrifft ebenso die Türkei, deren Präsident mit und gegen Putin, mit und gegen die EU arbeitet und versucht, nicht nur in der direkten Nachbarschaft, sondern auch in Afrika eine breite Einflusszone zu schaffen, in der er mit China, Russland und mehreren europäischen Ländern konkurriert.

[4] Der Rückzug der USA setzt sich fort, die nachfolgende „Ordnung“ wird unter unser aller Augen geschaffen, überwiegend durch China, Russland und die Türkei. Ein außenpolitisches Konzept der USA über die eigenen Sicherheits- und Versorgungsbedürfnisse hinaus, ist weiterhin nicht zu erkennen, Europa, vor allem in Form der EU, tut sich schwer, den Schritt zur Verteidigungs- und Außenpolitikgemeinschaft zu vollziehen. Die NATO ist sicher nicht „hirntot“, wie der französische Präsident in seinem Ärger einmal meinte, aber die Interessen der USA und anderer Mitglieder wie dem Vereinigten Königreich haben sich verlagert. Ein stärkerer EU-europäischer Pfeiler in der NATO ist notwendig.

[5] Derweil wird in Europa, namentlich der EU, den herkömmlichen Hobbies nachgegangen: Beschäftigung mit sich selbst, Nabelbeschau, Stilisierung der EU-Organe zu Feinden des Nationalstaats, Desinteresse an allem, was nicht kommerziell rentabel gemacht werden kann, Ausbau der EU zur Festung. Nirgendwo sonst wird Kakophonie so hoch geschätzt und mit Hingabe gepflegt wie in Europa.

[6] Migrationsforscher*innen werden nicht müde, auf von der Politik in allen europäischen Ländern ignorierte kontraproduktive Zusammenhänge hinzuweisen: Seit mehr als vier Jahrzehnten werden die legalen Reise- und Zuwanderungsmöglichkeiten nach Europa eingeschränkt. Menschen migrieren trotzdem, zumal sie viele sehr gut nachvollziehbare Gründe haben.

[7] Da es weniger legale Möglichkeiten gibt und keine abgestimmte europäische Zuwanderungspolitik existiert, wirkt dies wie ein ökonomisches Förderprogramm für Schlepper und Schleuser – auf das mit weiterem Ausbau der Festung Europa reagiert wird, ohne dass es zu einer Verteidigungs- und Außenpolitikgemeinschaft kommen würde. Symptome werden kurzerhand zu Ursachen erklärt, um falsche Politik zu begründen.

[8] Vor Menschenrechtsverletzungen durch EU-Mitgliedsstaaten an den EU-Außengrenzen werden die Augen verschlossen, die vielen Flüchtlinge, die gestorben sind, müssten zum Umdenken führen; müssten …

[9] Derweil haben im Innern etlicher Mitgliedsstaaten der EU die Staatsanwaltschaften alle Hände voll zu tun, weil Korruption nicht nur ein Phänomen in Rumänien und Bulgarien darstellt, sondern in allen Ländern. Besonders konservativ bzw. rechts orientierte Parteien scheinen anfällig dafür zu sein, Staat und öffentliche Haushalte als ihr Eigentum zu betrachten, aus dem sie schöpfen können, wie sie gerade wollen. Die österreichische ÖVP bietet hier ein Lehrbeispiel, aber sie ist nur ein Beispiel. Die polnische PiS und die ungarische Fidesz bilden Lehrbeispiele dafür, wie sich konservative bzw. rechte Parteien gleich alle drei Gewalten aneignen.

[10] Was am Ende z.B. in Österreich strafrechtlich übrig bleibt, wird man sehen, doch schon jetzt ist die Abwesenheit jeglicher Moral und jeglicher Befähigung, einzusehen, dass das Handeln unmoralisch war, schockierend. In Frankreich, wenigstens, wurde vor kurzem ein hoher Mitarbeiter des früheren Präsidenten Sarkozy zu Gefängnis verurteil, Sarkozy selber wurde verurteilt, wenn auch noch nicht rechtskräftig. Die Kehrseite, in Frankreich wie Österreich (usw.!): massive und einschüchternde Angriffe auf Justizorgane und einzelne Staatsanwält*innen bzw. Richter*innen. Der Respekt vor der justiziellen Gewalt ist nicht mehr gewährleistet. Welche Staaten in Europa können denn noch als Demokratien ohne den Zusatz „sogenannte“ bezeichnet werden?

[11] Schaut man genauer hin, muss festgestellt werden, dass sich die EU-Staaten rechtlich offenbar mehr auseinander entwickeln, als sich zu integrieren, aller EU-Gesetzgebung zum Trotz. Dänemark etwa hat sich ein Gesetz gegeben, um straffällig gewordene und verurteilte Ausländer*innen in ein Gefängnis außerhalb des eigenen Hoheitsbereichs, nämlich in Albanien, zu verschieben. Das ist rechtlich höchst problematisch und fragwürdig, politisch ist es Nonsens.

[12] Für die sukzessive Integration von Gemeinwesen und Gemeinschaften ist die Vereinheitlichung von Recht unverzichtbar, sie ist wesentlich. Funktioniert sie nicht mehr, kommt es zur Desintegration der Gemeinschaft. Am 15. September 2015 stellte ich in diesem Europablog die skeptische Frage, ob die EU noch eine Rechtsgemeinschaft sei? 2021 muss die Antwort nicht nur skeptisch, sondern pessimistisch sein.

[13] Felder, in denen die Rechtsentwicklung immer mehr auseinanderklafft, sind Justiz im allgemeinen und Verfassungsgerichtsbarkeit im besonderen, der rechtliche Schutz vor jeglicher Diskriminierung im allgemeinen und die Rechte von Frauen im besonderen (negativ: u.a. Abtreibungsverbot in Polen), die Beachtung und Einhaltung der Grund- und Menschenrechte, die rechtliche Absicherung humanitären Handelns (Negativbeispiele für die Kriminalisierung humanitären Handelns sind/waren Italien, Frankreich, Ungarn etc.).

[14] Wenn es wenigstens so wäre, dass man sagen könnte, es gibt trotz allem einige Staaten, die den Geist des Vertrags über die Europäische Union, insbesondere in Form der Präambel und der Artikel 2 und 3, NICHT verraten, sondern motiviert hinter diesen ehrgeizigen Zielen stehen, dann könnte man sich intensiv mit der Frage auseinandersetzen, ob nicht diese Staaten gemeinsam der jetzigen EU, die von mehreren Mitgliedern untergraben wird, den Rücken kehren und einen europäischen Bundesstaat gründen sollten oder könnten.

[15] Leider ist derzeit nichts auszumachen, das einen solchen Neugründungsoptimismus rechtfertigen würde.

Dokumentation:

Europa Bilanz 2020

Europa Bilanz 2019

Europa Bilanz 2018, Teil I

Europa Bilanz 2018, Teil II

Europa Bilanz 2017

Europa Bilanz 2016

Europa Eröffnungsbilanz 2016

Europa Bilanz 2015

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):

Wolfgang Schmale: Europa 2021 – Eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-2021-bilanz, Eintrag 28.12.2021 [Absatz Nr.].

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