Am Dienstagmorgen, 21. Juli, stellten sich zunächst alle teilnehmenden Staats- und Regierungschef*innen vor die Mikrofone, um ihre Sicht auf die Ergebnisse des langen EU-Gipfels darzulegen, dann reisten sie nach Hause und taten dasselbe noch einmal.
Manche rückten die Verteidigung der nationalen Interessen, ja, des „nationalen Stolzes“ (etc.) ganz in den Vordergrund, andere betonten die Fortschritte bezüglich europäischer Solidarität.
Der polnische und ungarische Regierungschef frohlockten gemeinsam, dass die Vergabe von EU-Mitteln weiterhin kaum wegen Verstößen gegen rechtsstaatliche Prinzipien unterbunden werden wird, der österreichische Kanzler feierte einen Sieg der vier Geizigen gegen das deutsch-französische Diktat, das man dieses Mal nicht abgenickt habe; usw.
Es ist das übliche Schauspiel, zu Hause nur das herauszustellen, von dem geglaubt wird, dass es den ‚eigenen‘ Wähler*innen besonders gefällt. Aber ein wenig absonderlich ist es heuer dann doch.
Es wundert, warum es Polen und Ungarn so wichtig war, vor aller Welt dagegen aufzutreten, dass etwas Selbstverständliches festgehalten wird, nämlich, dass alle EU-Mitglieder an die Rechtsstaatlichkeit gebunden sind. Im Prinzip haben die beiden Regierungschefs erstmals in aller Offenheit zugegeben, dass sie die Rechtsstaatlichkeit nicht interesssiert. Um eine elegante Verpackung haben sie sich nicht einmal mehr bemüht. Soweit ist es also gekommen. Und vor Kameras und Mikrofonen kann man das dann feiern.
Nun, es ist Sache der der polnischen und ungarischen Wähler*innen bei der nächsten landesweiten Wahl zu entscheiden, ob sie diesen Kurs weiter unterstützen.
Ein Problem, das hier den beiden Akteuren in die Hände spielte, ist freilich, dass ein in der EU rechtsverbindlicher Katalog, was exakt Rechtsstaatlichkeit ausmacht, fehlt. Man hat sich immer auf einen stillschweigenden Konsens verlassen. Die gegen Polen und Ungarn eingeleiteten Vertragsverletzungsverfahren treten auch deshalb auf der Stelle.
Der österreichische Bundeskanzler schwelgt in zwei zweifelhaften Erfolgen: Ein deutsch-französisches Diktat verhindert, den Rabatt für Österreich kräftig erhöht. Verrät das eine konstruktive Europaidee? Nein, die gibt es nicht mehr.
Der viel beschworene deutsch-französische Motor hat ab Mai erstmals seit langem wieder funktioniert, bis dahin wurde regelmäßig beklagt, dass dieser Motor viel zu sehr stottere und es für die EU keinen starken Antrieb mehr gebe. Dass die Initiative von Macron und Merkel kein Diktat war, sondern den in der EU vorgesehenen Geschäftsgang nahm, darf durchaus erwähnt werden. Der österreichische Kanzler weiß das alles, aber warum fühlt er sich veranlasst, die Dinge öffentlich falsch darzustellen? Die ÖVP war einmal eine ansehnliche Europa-Partei, davon ist nichts übrig geblieben.
Mit Staatengruppen und -allianzen innerhalb Europas hat Europa schlechte Erfahrungen gemacht. Die vier Geizigen/Frugalen/Sparsamen hier, die Visegrád-Staaten dort, ein polnisch-ungarisches Bündnis gegen Rechtsstaatlichkeit – was kommt noch?
Wer eigentlich tut noch etwas für die gemeinsame europäische Sache und brüstet sich nicht mit davidisch-nationalen Erfolgen gegen den Goliath Brüssel/EU?
Nun werden die Staaten, die es als großen Erfolg ansehen, dies und das verhindert zu haben, von der EU abhängiger, als ihnen lieb sein kann. Denn solche „Erfolge“ können nur solange eingefahren werden, solange der EU eine immer noch herausfordernde Dynamik zu eigen ist, wo man sich auch dagegenstellen kann. Aber was machen diese Mitglieder, wenn die EU mangels konstruktiven Inputs vertrocknet ist? Gegen wen wollen sie dann kämpfen, um vor den nationalen Mikrofonen Erfolge zu verkünden? Im Moment lautet das Kalkül, dass die EU so schnell nicht vertrocknet und längst nicht alle Zumutungen schon ausprobiert wurden.
Es ist ja ohnehin eine Zeit, wo die Schengengrenzen schnell, ohne Abstimmung, geschlossen werden, während die Grenzen des Sagbaren und des einseitigen Tuns immer weiter hinausgeschoben werden.
Die Zeiten, wo ein Helmut Kohl in der Gewissheit der Zustimmung des Landes, das er regierte, die „heilige D-Mark“ auf dem europäischen Altar opfern konnte, um die Europäische Union zu gründen, die mit dem Vertrag von Maastricht 1992 an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft trat, sind weit, weit, weit entfernt.
Was wird sein, wenn die 750-Corona-Milliarden nicht die an sie geknüpften Erfolgserwartungen erfüllen werden? Wird dann der innovative Aspekt, der im Moment hervorgehoben wird – die EU selbst wird Geld aufnehmen, sie soll eigene Steuereinnahmen bekommen – tragfähig genug sein? Reicht das zur Fortentwicklung der EU? Diese Entwicklung folgt ja keinem Plan, sondern ist aus der Situation heraus entstanden, die noch im Januar (2020) niemand sehen konnte (oder wollte).
Freilich liegt ein wenig die Vermutung nahe, dass die EU bisher deshalb durchaus erfolgreich war, weil die Frage nach der Finalität (Bundesstaat) offen gelassen wurde und man sich darauf verlassen konnte, dass immer wieder Krisen ausbrechen, die nur gemeinsam bewältigt werden können, und dass dies die Situation abgibt, in der zur Krisenbewältigung etwas weiter entwickelt werden muss.
Doch niemand weiß, wann sich diese Methode erschöpft und nicht mehr funktioniert.
Insoweit bleibt alles beim alten: Kein „historisches Datum“, sondern der nächste Augenblick der Wahrheit kommt, zunächst im Europäischen Parlament, wenn es über die Gipfelergebnisse debattiert und abstimmt, dann mit der Umsetzung des EU-Budgets 2021-2027 und dem Erfolg oder Misserfolg des Corona-Pakets, nicht zu vergessen die globalen politischen Bedrohungen, die schnell wieder in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit eintreten werden müssen.
Das Europäische Parlament hat in seiner Sitzung am 23.7.2020 bereits den Finger in die Wunde der faulen Kompromisse gelegt, die auf dem Gipfel eingegangen wurden.
„Aber was machen diese Mitglieder, wenn die EU mangels konstruktiven Inputs vertrocknet ist? Gegen wen wollen sie dann kämpfen, um vor den nationalen Mikrofonen Erfolge zu verkünden?“ – Eine berechtigte Frage, wenngleich die Geschichte viele Beispiele parat hat, dass Sündenböcke allerorts auffindbar sind. Seien es einzelne Bevölkerungsgruppen, andere Staaten, oder einfach nur die Globalisierung.