Ist die EU noch eine Rechtsgemeinschaft?
[1] Der Präsident der EU-Kommission, Jean-Claude Juncker, hat in seiner Rede vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 9. September 2015 die nationalen Egoismen bloßgelegt. Diese höhlen die EU als Rechtsgemeinschaft aus.
[2] Insgesamt hat er deutliche Worte gefunden, vieles muss aber noch schärfer kritisiert werden, als es ein Kommissionspräsident tun kann.
[3] Laut Juncker ist die EU in einem schlechten Zustand, es gebe zu wenig Europa in der Union, zu wenig Union in der Union. Anders ausgedrückt: Es fehlt nicht viel und man wird das Scheitern der EU als Projekt feststellen müssen.
[4] Das Projekt der EU beruhte bisher insbesondere auf der Schaffung eines gemeinsamen Rechts, auf dem alles Weitere aufruht. Daher ist ein Satz, der von den Medien wenig aufgegriffen wurde, in Junckers Rede bedeutsam: „Die europäischen Rechtsvorschriften müssen von allen Mitgliedsstaaten angewandt werden – dies sollte in einer Union, die auf Rechtsstaatlichkeit basiert, eigentlich selbstverständlich sein.“
[5] Schon bisher war die Umsetzungsgeschwindigkeit oder Langsamkeit, mit der die Mitgliedsstaaten europäisches Recht umsetzen, sehr verschieden, Säumigkeiten gab es immer. Inzwischen hat dies Problem aber eine Dimension erreicht, die eine Infragestellung der Union bedeutet.
[6] An der Union teilzuhaben, heißt eben nicht nur, von den Geldflüssen und sonstigen Vorteilen zu profitieren, sondern auch für die gemeinsamen Ziele Verpflichtungen einzugehen und sich daran zu halten. Eine Union, die grundlegend eine Rechtsgemeinschaft ist, scheitert, wenn ihr Recht nicht mehr ernst genommen wird.
[7] So müssen auch die Organe der EU ihre Rechte wahrnehmen können: Präsident Juncker ‚verteidigt‘ seine aktive Rolle bei den Griechenlandgesprächen mit Verweis auf die europäischen Verträge. Er nennt keinen Namen, aber es ist klar, dass er sich auf die Kritik von Minister Schäuble an ihm bezieht.
[8] Historisch ist die Einigung auf eine Rechtsgemeinschaft – von der EGKS bis zur EU heute – die wichtigste Errungenschaft, die früher immer wieder ideell angedacht worden war, aber am Nationalismus scheiterte. 2015 gilt die erschütternde Erkenntnis, dass Nationalismus in Europa (EU) nicht überwunden werden konnte, sondern inzwischen mehrere Regierungen beherrscht und vielfach in die politische Mitte vorgerückt ist.
[9] Die EU als rechtsstaatliche Rechtsgemeinschaft bleibt als erste auf der Strecke, weil nicht nur vereinbartes Recht ignoriert wird, sondern zunehmend auch die Fähigkeit, die Rechtsgemeinschaft zu entwickeln im Hinblick auf die Megaprobleme, abhanden zu kommen scheint. Speziell ist die Bewältigung der Flüchtlingsfrage gemeint.
[10] Die verbreitete Meinung, vor allem die 2004 beigetretenen ostmitteleuropäischen Länder würden sich hier besonders unsolidarisch verhalten, trifft nicht den Punkt. Die nationalen Rhetoriken unterscheiden sich, die Haltungen aber nur wenig. Auch Deutschland und Österreich haben nur unter dem Druck der nicht aufhaltbaren Flüchtlingsströme ihre Politik vorübergehend geändert und weil sich herausgestellt hat, dass die Zivilgesellschaft das leistet, was ‚die‘ Politik nicht geleistet hat.
[11] Bedenklich ist die Schwäche der Zivilgesellschaft in einer Reihe von EU-Mitgliedsländern. In Ungarn wurde sie seit Orbán unterdrückt, sie ist schwach geworden. Aber weder in den baltischen Ländern, noch in Polen, noch in der Tschechischen Republik kann von einer Unterdrückung der Zivilgesellschaft die Rede sein; ebenso wenig im Vereinigten Königreich oder den Niederlanden.
[12] Kann daher das, was Präsident Juncker verteilt über seine Rede zu EU und Bürger/innen sagt, auf fruchtbaren Boden fallen? Es fällt auf, wie oft er, eigentlich zu Recht, den direkten Bezug zwischen EU und Bürger/innen herstellt, gewissermaßen unter Auslassung der nationalen Regierungen. Prinzipiell kommt dies dem Gedanken, die EU stärker zu demokratisieren, entgegen, aber oft wird vergessen zu fragen, ob es diese Adressat/inn/en in der Realität auch gibt.
[13] Vielleicht ist es zu einfach, Zivilgesellschaft und Bürger/inn/en im Zusammenhang des Ausmaßes an Demokratie in der EU gleichzusetzen, allerdings kann nicht übersehen werden, dass die Demokratisierung in Europa seit der Französischen Revolution niemals ohne zivilgesellschaftliche Schübe funktioniert hat.
[14] Am Ende der Rede setzt sich der Kommissionspräsident für einen „fairen Deal“ mit Großbritannien ein. Großbritannien genießt allerdings schon Ausnahmen, wie auch Dänemark, die die Rechtsgemeinschaft außer Kraft setzen. Früher heißen Ausnahmen von der Rechtsgemeinschaft „Privilegien“. Eine Entwicklung der EU noch mehr zu einem rechtlichen Fleckerlteppich wie in der frühen Neuzeit und im Mittelalter höhlt die Rechtsgemeinschaft erst recht aus.
[15] Ein Austritt/Ausschluss aus der EU sollte daher nicht tabuisiert werden. Gewiss hätte dies keine Chance, in einen reformierten Europäischen Vertrag aufgenommen zu werden – denn dies würde voraussetzen, dass die Sache mit der Rechtsgemeinschaft von allen ernst genommen werden müsste.
Dokumentation:
Rede des Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker, 9.9.2015: http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-15-5614_de.htm
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Ist die EU noch eine Rechtsgemeinschaft?. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/ist-die-eu-noch-eine-rechtsgemeinschaft, Eintrag 15.09.2015 [Absatz Nr.].