Fakten
[1] Äußerlich betrachtet sieht die Bilanz 2017 [Bilanz 2016; Bilanz 2015 / Eröffnungsbilanz 2016] für EU-Europa ganz ordentlich aus: Die wirtschaftliche Lage ist alles in allem gut. Der Euro hält sich gut, scharfe Augen entdecken in Griechenland außerdem Licht am Ende des Tunnels. In der Verteidigungszusammenarbeit ist man weitergekommen. Der Druck in der Flüchtlingsfrage hat nachgelassen, sodass die unterschiedlichen Standpunkte, die unverändert weiter bestehen, immerhin weniger aggressiv vorgetragen werden.
[2] 2017 war ein intensives Wahljahr, die Bilanz ist gemischt, es gab Licht und Schatten, aber alles in allem ist Europa nicht so häufig nach rechts gekippt, wie es zunächst befürchtet werden konnte.
[3] Mit Emmanuel Macron gibt es endlich wieder einen französischen Präsidenten, der klare politische Vorstellungen und Pläne hat, die Frankreich ökonomisch, die EU politisch voranbringen werden und der ein unverkrampftes Verhältnis zu Deutschland hat.
[4] Deutschland hat zwar noch keine Regierung, aber die Instabilität, auf die die rundum aufgerissenen Argusaugen warten, will sich einfach nicht einstellen. Das Land funktioniert auch so.
[5] Österreich hat gewohnheitsmäßig sowohl als auch gewählt – zuerst einen Grünen und überzeugten Europäer als Präsidenten, dann eine rechte Regierung, wohl weniger aus Überzeugung denn aus Überdruss an der GroKo.
[6] Die spanische Minderheitsregierung ist trotz Katalexit-Krise immer noch im Amt, aus der Katalexit-Krise wurde kein EU-Thema.
[7] Überhaupt sind Minderheitsregierungen im EU-Europa keine Ausnahmeerscheinung mehr, ohne dass die EU deshalb schlechter (aber auch nicht) besser funktionieren würde.
[8] Die Brexit-Sache schwankt, wie gehabt, hin und her, es herrscht wenig Klarheit, ohne dass irgendwo irgendwas zusammenbricht.
[9] Die EU-Kommission hat erstmals von einem Rechtsstaatsverfahren nach Artikel 7 EU-Vertrag gegen Polen Gebrauch gemacht, ohne dass die kleine EU-Welt ins Wanken geraten wäre. Gegen die Länder, die einen Mehrheitsbeschluss des Rats in Sachen Flüchtlingsverteilung nach Quoten in der EU ungeniert missachten, wurden Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet, und auch diesbezüglich gilt, dass die kleine EU-Welt nicht zusammengebrochen ist.
[10] All diese letzteren Aspekte sind sicher nicht schön, aber man könnte auch sagen: Willkommen EU in der Normalität einer Veranstaltung dieser Größenordnung mit 28 Staaten!
[11] Das erste Jahr Donald Trump wurde leidlich überstanden. In der Ostukraine wurde erstmals ein umfangreicher Gefangenenaustausch in Erfüllung des Minsker Abkommens von 2015 realisiert – und etwas sarkastisch könnte man anfügen, dass es immerhin zu keinen weiteren Annektionen durch Herrn Putin gekommen ist.
[12] Die Türkei lässt erstmals wieder den Willen erkennen, Spannungen abzubauen. Die Anerkennung Jerusalems durch die USA als Hauptstadt Israels hat vorerst nicht zu einem Flächenbrand geführt. Das Ziel, den IS in Syrien und Irak nachhaltig zu schwächen, wurde erreicht.
[13] Mit Libyen konnte Italien ein Abkommen schließen, das in der offiziellen Diktion den Menschenhändlern das Handwerk erschwert, die Zahl der ertrunkenen Flüchtlinge im Mittelmeer stark reduziert und insgesamt Flüchtlinge von der gefährlichen Mittelmeerüberquerung in seeuntauglichen Booten abhält.
[14] Die EU und zusätzlich einige Mitgliedsländer wie Frankreich, Deutschland, Spanien und Italien haben eine proaktivere Nordafrikapolitik eingeleitet, zu der die Schaffung legaler Wege, nach Europa zu kommen, gehört.
[15] Alle diese Fakten lassen sich freilich in die eine oder eben in die andere Richtung interpretieren. Vor allem ist vieles in der Schwebe mit ungewissem Ausgang.
Baustelle europäische Demokratie
[16] Ungewiss erscheint die Zukunft der Demokratie in Europa. Für Europa gilt, dass die Demokratie entweder europäisch ist, oder sie ist nicht. Das heißt, dass sich die jeweilige konkrete Ausprägung von Demokratie in jedem europäischen Staat einerseits problemlos in mancher Hinsicht von den anderen unterscheiden kann. Das gehört zur verfassungsrechtlichen Vielfalt innerhalb des Demokratie-Rahmens dazu, die auch durch den EU-Vertrag gedeckt ist. Die Erschütterung von Grundfesten der Demokratie wird andererseits durch nichts gedeckt. Und wenn sie zunächst national geschieht wie in Polen, zieht sie dennoch die Demokratie insgesamt als Staatsform Europas in Mitleidenschaft.
[17] Wie ich im Blogeintrag zur Bilanz Europas 2016 schrieb, ist diesbezüglich das 20. Jahrhundert noch nicht zu Ende, das heißt, die Gefahr einer Kettenreaktion wie in der Zwischenkriegszeit besteht. Polen hat praktisch die Gewaltenteilung ausgehebelt und die Judikative der Exekutive unterstellt. Dazu kommt der Kampf der Regierung gegen die Institutionen und Medien der vierten Gewalt. Ungarn führt denselben Kampf, der öffentliche Bereich inklusive Kulturinstitutionen wurde zur Versorgung linientreuer Fidesz-Soldaten gekapert, Kritiker werden kaltgestellt. Die rumänische Regierung weicht im wohlverstandenen Interesse der eigenen korrupten Leute die Antikorruptionsgesetzgebung auf und fällt den Staatsanwaltschaften in den Rücken. Was es genau bedeuten wird, dass der neue tschechische Regierungschef sein Land wie ein Unternehmen führen möchte, lässt sich noch nicht sagen, aber eine Demokratie ist ganz sicher etwas anderes.
[18] In anderen Ländern funktioniert die Demokratie formal betrachtet korrekt, sie zeigt aber Anzeichen wachsender Gefährdung. Zum einen haben die Rechtsparteien in Europa kein demokratisches, sondern autoritäres Rechts- und Menschenverständnis, was sich nicht nur auf die demokratische Verfassung, sondern allgemein das Recht und die Stellung des Menschen darin bezieht. Zum anderen verlieren die bisherigen Volksparteien (Sozialdemokraten, Volksparteien/Christdemokraten) ihre breite Basis, wenn es sie nicht gleich zerlegt wie in Frankreich und in Italien. Früher stabile wenn auch kleine politische Orientierungen wie Liberale und Grüne werden durch höhere Volatilität charakterisiert.
[19] Hierauf wurden noch keine dauerhaften stabilisierend wirkenden Antworten gefunden. Nochmals wählen, Minderheitenregierung, Koalitionsmehrheiten, die nur so lange halten, wie keiner der Partner glaubt, bei Neuwahlen gewinnen zu können, Expertenregierungen, mehr sogenannte ‚direkte‘ Demokratie, und was es an Rezepten mehr im politischen Kochbuch gibt.
[20] Einzig Macrons Strategie scheint den Gordischen Knoten durchgehauen zu haben: Regierung verlassen, Bewegung gründen, ehrlich reden, das heißt, Überzeugungen auch gegen den Strom vertreten und diese durch Faktenkompetenz, die nachprüfbar ist, untermauern, auf die Menschen zugehen, dabei parteipolitische Zuordnungen ablehnen, Charisma besitzen, jung sein, den Willen zur Macht haben, ungeniert pro-europäisch sein, zeremoniell begabt sein, ein wenig ein philosophischer Kopf sein… Nicht wenig, und in Wirklichkeit natürlich kein „Rezept“, da das Ganze noch mehr, als es ohnehin in der Politik der Fall ist, von der Persönlichkeit abhängt.
[21] Es konnte gut beobachtet werden, dass Sebastian Kurz in Österreich aus Macrons Beispiel erfolgreich Lehren gezogen hat, trotzdem war von Anfang klar, dass er, ganz anders als Macron, mindestens eine zweite Partei brauchen würde, um Kanzler zu werden. Damit dies nicht die SPÖ sein müsste, sondern die FPÖ sein könnte, sind Kurz und ÖVP weit nach rechts gezogen, was wiederum Macron mitnichten getan hat. Im Gegenteil, er hat das Kunststück geschafft, den Front National zu entzaubern (dieser hat sich nach der Präsidentschaftswahl gespalten), er hat in der direkten Fernsehkonfrontation Marine Le Pen dazu gebracht, ihr wahres Gesicht, das einer hasserfüllten Politikerin, die keinerlei Fakten beherrscht, zu zeigen, ohne selber Ausfälligkeiten oder Beleidigungen zu begehen.
[22] Was hat Kurz gemacht? Er hat den österreichischen Rechtsausleger, die FPÖ, in die Regierung geholt und dieser Partei praktisch alle Ministerien, die in der einen oder anderen Weise mit Sicherheitsagenden zu tun haben, überantwortet. Was bedeutet das für Ausländer? Was bedeutet das für die Grundrechte? Was bedeutet die Unerfahrenheit der Minister(innen) mit umfassenden Leitungsfunktionen im Dienst des Landes und nicht nur der Partei?
[23] Im Vereinigten Königreich hat die Demokratie formal korrekt funktioniert, das Brexit-Votum ist bei rein formaler Betrachtung ordnungsgemäß zustande gekommen. Wen aber außer den Hartbrexitern, die in absoluten Zahlen eine Minderheit darstellen, überzeugt das? Schließlich zieht der Brexit nicht nur den Nationalstaat Vereinigtes Königreich in Mitleidenschaft, sondern alle anderen 27 EU-Mitglieder auch, die nicht darüber abstimmen durften, ob sie das wollen oder nicht.
[24] Anders gesagt: Es muss dringend diskutiert werden, was demokratisch ist, wenn man zu einer Gemeinschaft wie der EU gehört. Und diese Gemeinschaft ist und bleibt einzigartig, das heißt, die Antwort auf die Frage kann nur EU-spezifisch gefunden werden, nicht durch Hinweis auf andere Gemeinschaften wie den Europarat oder die UNO oder die OSZE.
[25] Im Juni 2016 stimmten 17,4 Millionen WählerInnen für den Brexit. In der EU gibt es rund 380 Millionen Wahlberechtige. 17,4 Millionen entspricht aufgerundet 4,6% aller Wahlberechtigten in der EU, die darüber entschieden haben, dass alle über 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger in der EU, alle Altersstufen zusammengerechnet, im Zuge des Brexit Schädigungen in Kauf zu nehmen haben.
[26] Schon früher haben nationale formale Mehrheiten, die selbst in absoluten nationalen Zahlen Minderheiten waren, die EU eingebremst und die Millionen anderen, die in anderen Mitgliedsländern mit Ja gestimmt hatten, dumm dastehen lassen: So geschehen 2005, als in Frankreich und in den Niederlanden gegen den Vorschlag zu einem europäischen Verfassungsvertrag gestimmt wurde, was den gesamten bis dahin sehr erfolgreichen Referenden- und Ratifizierungsprozess abrupt beendete.
[27] Als in den Niederlanden 2016 über das Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine abgestimmt wurde, beteiligten sich national nur 32% der Abstimmungsberechtigten; davon stimmten 60% gegen das Abkommen. Diese 60% entsprachen 0,007% der EU-Wahlberechtigten [Absatz 7].
[28] Es ist überdeutlich, dass die Demokratietheorie in der EU entwickelt werden muss, denn solche Verhältnisse haben nichts mit Minderheitenschutz zu tun. Bisher liegt es bei jedem einzelnen Staat, festzulegen, wann Referenden stattfinden können bzw. müssen und welche Regeln gelten. Es wäre überaus sinnvoll, unter den EU-Mitgliedstaaten eine Debatte darüber zu führen, ob nicht Referenden über EU-Angelegenheiten gleichen Regeln folgen sollten hinsichtlich Quorum und Verbindlichkeit.
[29] Die Debatte müsste aber weitergehen, wenn verhindert werden soll, dass eine Minderheit über die ganze EU bestimmt, wie in der Vergangenheit mehrfach geschehen.
[30] Bisher hat sich die Diskussion über das vermeintliche oder tatsächliche Demokratiedefizit immer nur auf EU-Institutionen bezogen, das eigentliche Demokratiedefizit liegt aber ganz offenkundig darin begründet, dass man sich beharrlich weigert, darüber zu diskutieren, wie die nationalen Verfassungen der Tatsache, dass der jeweilige Staat zugleich einer Union angehört, gerecht werden können. Das wird ausschließlich in der Perspektive der Wahrung nationaler Rechts- und Verfassungsbesitzstände diskutiert.
[31] Diese Fragen nach mehr gemeinsamen Verfassungsgrundsätzen bei den Mitgliedsstaaten der EU bilden ein eigenes Feld, das mit dem Hinweis auf den gemeinsamen EU-Rechtsbestand (acquis communautaire), wo manchmal nationale Verfassungsanpassungen nötig sind, nicht erledigt ist.
[32] Zu diskutieren ist also das heikle Thema der Grenzen der nationalen Souveränität da, wo bisher rein nationales Rechtshandeln (z. B. Volksabstimmungen) Auswirkungen auf die gesamte EU besitzt, denn dies widerspricht dem Unionsprinzip entschieden. Das Unionsprinzip besagt, dass Maßnahmen, die sich auf die gesamte EU auswirken, nur von den dafür vorgesehenen Organen – (Minister-)Rat und Parlament sowie, je nachdem, Europäischer Rat und Kommission – zu beschließen sind. Und zwar in einer Vielzahl von Fällen einstimmig, manchmal mit (qualifizierter) Mehrheit.
[33] Zum Unionsprinzip gehört auch, dass die gemeinsamen Entscheidungen keinen schädigen, am allerwenigsten die UnionsbürgerInnen. Beim Brexit-Votum haben jedoch lediglich 4,6% aller in der EU Wahlberechtigten für alle anderen entschieden, dass sie sich schädigen lassen müssen. Der Widerspruch zum Unionsprinzip ist hier eklatant, selbst wenn man einräumt, dass gelegentlich Entscheidungen, die im Ministerrat ‚lediglich‘ mit qualifizierter Mehrheit, was ja keine kleine Hürde ist, getroffen wurden, aus subjektiv-nationaler Sicht als Schädigung empfunden werden können. Ob eine solche Empfindung (wie bei den mit Mehrheit abgestimmten Flüchtlingsquoten) etwas mit rationalen oder Sachgründen zu tun hat, steht auf einem anderen Blatt.
[34] Gerade die UnionsbürgerInnen haben vom Unionsprinzip, niemanden zu schädigen, massiv profitiert, hinsichtlich ihrer Rechte, hinsichtlich des Konsumentenschutzes, hinsichtlich ihrer Freiheit und Freizügigkeit, hinsichtlich des Friedens und des ökonomischen Wohlstands, um nur ein paar Aspekte zu benennen. Im Vergleich: Die Regierungen in den Nationalstaaten folgen mindestens teilweise Parteiinteressen, dass dabei ein Teil der BürgerInnen geschädigt werden kann (wenn nicht soll), ist Alltag.
[35] Die bisherige nationale Volksabstimmungspraxis in der EU, um das zu wiederholen, „darf“ dazu führen, dass dieselben UnionsbürgerInnen sich schädigen lassen müssen. Es ist bei genauer und kritischer Betrachtung eine absurde Situation. Es wäre gut 2018 darüber endlich unionsweit zu debattieren. Hier versteckt sich das Demokratiedefizit der EU, nicht dort, wo es bisher immer vermutet wurde.
Baustelle Außenpolitik
[36] Außenpolitisch scheint die EU in Nordafrika etwas besser Fuß zu fassen, vorausgesetzt, dies hält an und versandet nicht wie seinerzeit der Barcelona-Prozess, der die Mittelmeerregion und die EU näher hätte zusammenführen sollen.
[37] Im Nahen Osten hat die EU kaum Einfluss. Weder konnte sie die Kehrtwende der amerikanischen Politik verhindern noch kann oder will sie ihr etwas entgegensetzen. Dasselbe gilt in Bezug auf den Iran, der seinen politisch-militärischen Einfluss im Irak, in Syrien und im Libanon solide ausgebaut und in Personennetzwerken fest verankert hat. Russland hat sich vorerst in Syrien festgesetzt und benutzt das Mittelmeer für seine U-Boote als Operationsbasis.
[38] Die in der EU 2017 vereinbarte stärkere Verteidigungszusammenarbeit ändert an all dem überhaupt nichts, nicht zuletzt, weil diese nicht direkt auf diese Gebiete zielt.
[39] Saudi-Arabien steht in einem kaum mehr verdeckten Konflikt mit dem Iran; beide wollen regionale Vormächte sein. Zumindest derzeit kann die EU nur zusehen – und hoffen, nicht gefordert zu sein. Das wäre der Fall, wenn der Iran mit der Unterstützung all der Kräfte, die an einem Krieg gegen Israel arbeiten, Erfolg haben würde.
[40] Auch bezüglich der Türkei kann die EU im Wesentlichen nur zusehen. Die Beitrittsverhandlungen nicht aktiv zu betreiben, ist noch keine aktive Türkeipolitik. Den Demokratieabbau dort zu kritisieren, ist auch noch keine aktive Türkeipolitik, so richtig die Kritik ist. Das einzige, was die EU außenpolitisch beherrscht, ist mit stabilen zuverlässigen vertragstreuen Partnern umzugehen. Leider reicht das schon länger nicht mehr aus.
[41] Die EU versteht sich gut auf Handelsabkommen rund um die Welt. Das hat damit zu tun, dass die meisten europäischen Staaten darin seit Jahrhunderten Erfahrungen besitzen und gemeinschaftlich in der EU etwas tun, was sie schon immer getan haben. Das ist nicht gering zu schätzen, aber funktioniert eben auch nur mit Partnern, die genauso denken und handeln.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa 2017 – eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-2017-bilanz, Eintrag 03.01.2018 [Absatz Nr.].