[28] 2017 wird auf 60 Jahre Römische Verträge (Gründung insbesondere der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft – EWG) zurückgeblickt werden. Eines der Hauptziele der EWG sollte die Mehrung des Wohlstands für alle Bürger und Bürgerinnen und der Abbau von regionalen Wohlstandsgefällen in der EWG sein. In dieser Beziehung ist einiges erreicht worden, aber längst nicht alles.
Auf dem kürzlichen EU-Gipfel in Bratislava haben sich die Staats- und Regierungschefs ganz im Sinne dieser Tradition dafür ausgesprochen, mehrere Projekte in Angriff zu nehmen, die dem unmittelbaren Wohlstand (Abbau der Jugendarbeitslosigkeit), der Sicherung des Wohlstands (Digitalisierung der Wirtschaft) und der allgemeinen Sicherheit, ohne die es keinen Wohlstand gibt, dienen. Damit verbindet sich die Hoffnung, dass sich die Zustimmung der Bürger und Bürgerinnen zur EU erhöht.
[29] Nun definieren sich aber auch alle Mitgliedsstaaten der EU über ihre Sorge für den Wohlstand und die Wohlfahrt. „Wohlstand mehren“ als Aufgabe der EU entspricht also zwar einer zentralen Tradition seit 1957, deren Erfüllung steht aber faktisch im Wettbewerb mit den Mitgliedsstaaten. Ein allzu starkes Plus an Zustimmung zur EU sollte man sich daher realistischerweise nicht erwarten, so richtig und nötig die europäische Zusammenarbeit in Sachen Wohlstand auch ist.
[30] Dass die EU-Bürger und Bürgerinnen besser und genauer über die Leistungen der EU, die in der Tat jedem Einzelnen zugutekommen, informiert werden müssten, wird seit 30 Jahren gepredigt. Viele Informationskampagnen hat es gegeben, ohne dass dies etwas grundlegend geändert hätte. Die Antwort muss also anderswo gesucht werden.
[31] Ein konkreter Ansatzpunkt liegt bei dem Umfrageergebnis zum Wahlrecht der EU-BürgerInnen. Es ist eindeutig, dass eine Mehrheit mehr davon wünscht. Darin drückt sich die Dynamik der Europaidee aus, weil dies in dieser Form früher nicht so gedacht worden ist. Zu tun ist daher folgendes, wobei ich jetzt nur das Prinzip benenne, wohl wissend, dass die exakten Durchführungsbestimmungen sorgfältig abzuwägen sind: Für die EU-BürgerInnen, die ihren Hauptwohnsitz und ihren Lebensmittelpunkt in einem anderen EU-Land als ihrem Staatsbürgerschaftsland gewählt haben ist das aktive und passive Wahlrecht auf allen Ebenen einzuräumen.
[32] Die neuesten Zahlen von Eurostat beziehen sich auf 2014; im Durschnitt der EU-28 stammen 30% aller ImmigrantInnen aus den EU-Ländern selbst. Das entspricht 1,317.200 ZuwanderInnen aus EU-Ländern in 2014, die zu den bisherigen ZuwanderInnen hinzukommen. Am 1. Januar 2015 betrug diese Zahl 18,5 Millionen, also 18,5 Millionen potenzielle WählerInnen.
[33] Ich plädiere für radikale Einfachheit, das heißt, das umfassende Wahlrecht für EU-BürgerInnen gilt vom 1. Tag an. Das nötigt die politischen Parteien – wenn auch nur ein wenig angesichts der nicht sehr großen Zahlen –, sich um die EU-BürgerInnen zu bemühen und ihre Parteiprogramme auch für den nationalen Rahmen zu europäisieren. Und nur diese radikale Einfachheit des Prinzips signalisiert den EU-BürgerInnen völlig unmissverständlich, dass sie ernst und für voll genommen werden. Daraus entsteht ein Mehrwert, den es nur wegen der EU gibt und der in der logischen Konsequenz aller eingeräumten Freizügigkeiten liegt.
[34] Diesen Reformschritt können im Übrigen einzelne Mitgliedsstaaten sofort umsetzen. Es wäre gut, wenn sich erste Länder dazu bereit fänden, um den demokratischen Wettbewerb in der EU zu beleben.
[34] Zugleich sollte das Wahlrecht zum EU-Parlament reformiert werden. Die Abgeordneten werden derzeit national gewählt, was streng genommen ein Widerspruch in sich ist. Gäbe es europäische Listen, müssten sich die europäischen Parteifamilien im Wahlkampf ganz anders als bisher verhalten.
[35] Ein rein fiktives Beispiel: Ein ungarischer Kandidat auf der EVP-Liste, der folglich von Fidesz käme, müsste dann wohl auch den deutschen WählerInnen Ungarns „illiberale Demokratie“ und „flexible Solidarität“ erklären – oder eine andere Position einnehmen, um den Erfolg der EVP-Liste nicht zu gefährden. Möglicherweise würde er aber als getreuer Orbán-Mann gar nicht auf die Liste kommen, weil er ein zu großes Risiko darstellen würde. Er könnte versuchen, auf eine der rechtspopulistischen Listen zu kommen, also dahin, wo er hingehört.
[36] Und die Wählerinnen und Wähler müssten ihr Wahlverhalten ändern, sprich, die Wahl zum Europaparlament ernst nehmen.
[37] Schließlich wird es mehr direkte Demokratie brauchen, um EU und BürgerInnen näher zueinander zu bringen. Wesentliche Fragen sollten in einem „Europäischen Referendum“ EU-weit abgestimmt werden. Wesentliche Fragen sind der Beitritt eines Landes oder der Austritt eines Landes, da beides jeweils alle EU-Mitglieder betrifft.
[38] Die Brexit-Abstimmung hätte dann nicht im nationalen britischen Rahmen stattgefunden, sondern wäre EU-weit durchgeführt worden. Es ist nicht wahrscheinlich, dass Brexit-Anhänger EU-weit eine Mehrheit erreicht hätten.
[39] Nehmen wir das andere Beispiel eines Beitritts zur EU, so müssten Kandidaten wie Serbien oder die Türkei sich den Bevölkerungen der EU-Staaten erklären, um eine Mehrheit zu erreichen. Sie müssten freilich auch durch eine demokratische Politik überzeugen, da ist das A und O.
[40] Wenn sie wirklich aus Überzeugung beitreten wollen, werden sie sich die Mühe machen müssen und dann sicher gewinnen. Taktisches Kalkül oder Halbherzigkeit werden ziemlich sicher im Misserfolg enden.
[41] Dass ein Land Mitglied der EU ist, hat tiefgreifende Konsequenzen, das muss allen klar sein, diese Konsequenzen müssen tatsächlich gewollt werden. Ein Europäisches Referendum würde das ganz unmissverständlich klar machen. Zumal dann ebenfalls klar wäre, dass zum Verlassen der EU eines Tages wieder die Mehrheit beim Europäischen Referendum gebraucht würde.
[42] Zu den wesentlichen Fragen, die Gegenstand des Europäischen Referendums sein müssten, zählt die Neufassung des EU-Vertrages. Schon aus der letztendlich gescheiterten Prozedur zur EU-Verfassung – damit meine ich nicht nur die beiden negativen französischen und niederländischen Referenden im Jahr 2005 – hätte man einiges lernen können.
[43] Das Drumherum um Ceta und TTIP bietet wieder Lernmöglichkeiten: Transparenz von Anfang an, vollständige Information der EU-Bevölkerung ist alternativlos als Prozedur.
[44] Am Schluss sollte das Europäische Referendum stehen und nicht das „non“ oder „oui“ eines Regionalparlamentes. Der nächste EU-Vertrag sollte entsprechend transparent verhandelt und der öffentlichen europäischen Debatte anheimgestellt werden.
[45] All diese Maßnahmen würden relativ schnell auch zur Realisierung einer „europäischen Öffentlichkeit“ führen, die wir bisher nur in rudimentären Ansätzen haben und die nicht vom Fleck kommt. Entstehen würde auch jener „europäische Demos“, dessen Fehlen seit langem diagnostiziert ist.
[46] All dies führt sicher zu einer weiteren Europäisierung der nationalen Öffentlichkeiten und der nationalen politischen Demoi, es würde aber nicht zur von vielen befürchteten Entkernung des – sei’s drum! – National-Staats führen, sondern diesen in eine neue positive Dynamik führen, sprich ihn vor dem Abgleiten in einen neuen Nationalismus bewahren.
[47] Das Abgleiten in einen neuen Nationalismus ist aber bereits heftig im Gang, viel Zeit bleibt nicht.
Dokumentation:
Teile des Textes wurden für eine Veranstaltung der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste zusammen mit den Salzburger Nachrichten am 27. Oktober 2016 im Rahmen des Projektes Next Europe® hergestellt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäische Demokratie – wohin? Teil II. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaeische-demokratie-teil-2, Eintrag 06.11.2016 [Absatz Nr.].