[1] Nach dem Ersten Weltkrieg nahmen nahezu alle, auch die aus den untergangenen Reichen neu gebildeten Staaten in Europa eine demokratische Verfassung an. Das hielt nicht lange an, bevor die Demokratien richtig aufgebaut und in Schwung gekommen waren, setzte schon der Zerfall ein. Die in der Zwischenkriegszeit äußerst aktiven PazifistInnen und MenschenrechtsaktivistInnen hatten keine Zweifel, dass auch die nationalen Demokratien nur bestehen könnten, wenn ganz Europa demokratisch wäre. Demokratie ist in Europa europäisch – oder sie ist nicht bzw. hält nur eine Zeitlang an, bevor sie erodiert.
[2] Das hat mit der engen Verflechtung der europäischen Staaten und Regionen zu tun, die auch in Zeiten eines übersteigerten Nationalismus, der sich für autark hielt, fortwirkte. Wenn auf dem Balkan ein Finger gepiekst wurde, fühlte es Frankreich am großen Zeh…
[3] Nach annähernd 70 Jahren europäischer Integration hat die für Europa typische Verflechtung ein neues, historisch einmaliges, Ausmaß erreicht. Das gilt auch in Bezug auf die Länder, die einmal östlich jenseits des Eisernen Vorhangs lagen. Nicht nur, dass der Eiserne Vorhang keineswegs alle historisch etablierten Verflechtungen unterbunden hatte, sondern es wurde seit 1990 viel nachgeholt. Verdichtungen in historischen Teilräumen Europas wie Mitteleuropa, Ostmitteleuropa, ‚Balkan‘ etc. lebten zusätzlich wieder auf, sie waren nicht vergessen und hatten sich interessanterweise als unmittelbar wiederbelebbar erwiesen.
[4] Es wäre folglich sehr naiv zu glauben, die Aushöhlungen demokratischer Verfassungen in Ungarn und in Polen (dort bis jetzt in geringerem Ausmaß als in Ungarn) wären Angelegenheiten nur dieser beiden Länder, wenn auch höchst bedauerliche Angelegenheiten. Es ist nicht nur, dass die Mitgliedschaft in der EU dazu verpflichtet, den EU-Vertrag einzuhalten, der nur eindeutig demokratische Mitgliedsländer kennt, sondern es geht wieder um den Satz, dass in Europa nur dann Demokratie herrscht, wenn diese europäisch ist.
[5] Deshalb haben sich Laurent Fabius in Frankreich und Andreas Voßkuhle in Deutschland völlig zu Recht besorgt über die Rückentwicklung der Demokratie in Ungarn und Polen gezeigt, und völlig zu Recht haben weitere Persönlichkeiten dazu das Wort ergriffen. Und: Wer immer was – jedenfalls bisher – unbestreitbar herausragend Positives aus der polnischen Geschichte für die Entwicklung Europas zum demokratischen Verfassungsstaat zitierte, verwies auf den Umstand, dass Polen-Litauen noch vor dem revolutionären Frankreich am 3. Mai 1791 im Sejm eine Verfassung verabschiedete.
[6] Nicht, dass mit dieser Verfassung eine Demokratie modernen Zuschnitts begründet worden wäre; es ging um die Begrenzung von Macht, um Schlussfolgerungen aus der Rechtslehre der Aufklärung und vor allem um die Verschriftlichung der Verfassung, damit man sich auf ein Verfassungsgesetz berufen könne, wenn politischer Willkür zu begegnen wäre. Jene noch absolutistisch regierenden Herrscher, die dem Land die zweite polnische Teilung antaten, hoben diese Verfassung wieder auf. Dass diese sich diese Mühe machten kann, sozusagen gegen den Strich gebürstet, als Qualitätsausweis für die Verfassung vom 3.5.1791 gewertet werden.
[7] Mehr aber zählt, dass die weitgehend friedliche Revolution in Mittel- und Ostmitteleuropa 1989 der europäischen Demokratie einen dynamischen Schub verliehen hatte. Wie schon mehrfach in der Geschichte seit 1789 waren es BürgerInnen, die die Dynamik entwickelten und denen der entscheidende Schritt zu verdanken war.
[8] Was davon ist übrig?
[9] Das Verhältnis von Politik und Bürger erweckt aktuell nicht nur in Bezug auf die Europäische Union, sondern auch in Bezug auf die einzelnen Mitgliedsstaaten und deren demokratische Systeme den Eindruck, dass es nicht rund läuft.
[10] Doch zunächst: Alle Demokratien des EU-Europas sind bei allen verfassungsrechtlichen Varietäten, die es gibt, repräsentative Systeme, in denen der Souverän, das Volk, auf verschiedenen Ebenen, von der kommunalen bis zur nationalen, durch Parlamente repräsentiert wird, die aus Wahlen nach den heute gültigen Standards hervorgegangen sind. Nie in der Geschichte Europas waren diese Standards höher, nie gab es ein gesellschaftlich breiter angelegtes Wahlrecht, nachdem 1990 auch der Kanton Appenzell Innerrhoden als letzte Bastion eines exklusiv männlichen Stimmrechts bundesgerichtlich zur Einführung des Frauenstimmrechts gezwungen worden war.
[11] Trotzdem nimmt in allen europäischen Ländern der Protest auf der Straße zu, außerparlamentarische Bewegungen werden zahlreicher, regelmäßig werden Volksabstimmungen, die in manchen Ländern in bestimmten EU-Angelegenheiten entweder verfassungsrechtlich vorgeschrieben sind und/oder nach bestimmten Bedingungen erzwungen werden können, in Protestabstimmungen gegen die nationale Regierung transformiert. Ausprägungen der partizipativen Demokratie reichen offenbar als Erweiterung der repräsentativen Demokratie nicht aus, um zu garantieren, dass Bevölkerungen mit ihrem Protest- und Demonstrationsverhalten innerhalb der durchaus großzügigen Regeln des demokratischen Systems verbleiben. Antidemokratische Neigungen nehmen zu.
[12] Die Gründe für diese Fakten sind ebenso vielfältig wie komplex, einfache Antworten, wie es besser zu machen wäre, gibt es nicht. Der neue Populismus, der unter höchst verschiedenen politischen Farben in allen europäischen Ländern festzustellen ist, wird kaum die richtige Lösung sein, denn er ist entgegen seinen Behauptungen nicht das Mittel, das den Bevölkerungen eine Stimme gäbe und die europäische Demokratie in die Zukunft führen würde.
[13] Wenn man über die EU spricht, sollte man niemals vergessen, dass diese trotz gemeinsamer europäischer Institutionen eine Veranstaltung von (derzeit noch) 28 Staaten ist, die das, was man nationale Interessen nennt, mitnichten zur Seite gelegt, sondern seit dem Scheitern der Initiative für eine europäische Verfassung 2005 wieder intensiviert haben. Identifizierungsprobleme zwischen EU hier und EU-BürgerInnen dort, haben nicht nur mit dem sogenannten Demokratiedefizit der EU zu tun, sondern mit dem Nationalismus der Mitgliedsstaaten.
[14] „Nationalismus“ verwende ich hier nicht als Kampfbegriff. Der Begriff soll lediglich klar ausdrücken, dass die Mitgliedsstaaten der EU sich als National-Staaten verstehen, die nationalen Interessen den Vorzug einräumen – obwohl es nicht zwingend wäre, dass sich ein Staat als Nationalstaat versteht. Im Begriff der Subsidiarität, der seit Maastricht im EU-Vertrag fungiert, liegt eigentlich ein nicht-nationales Staatsverständnis.
[15] Wie auch immer: Demokratieprobleme in den Mitgliedsstaaten wie bezüglich der EU stehen wie viele andere Probleme in Wechselwirkung und müssen bei einer Problemlösung gemeinsam gelöst werden.
[16] In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in der Zwischenkriegszeit, im europäischen Widerstand gegen die Faschismen, in der Nachkriegszeit, war es allen, die sich für die Idee europäischer Vereinigung und Einheit stark machten und, beginnend mit dem Europarat 1948, gemeinsame Institutionen schufen, immer klar, sonnenklar, dass eine friedliche Zukunft in sozialer Wohlfahrt nur in der über dem Nationalen stehenden europäischen Gemeinsamkeit erreicht werden könne.
[17] Das war 1849 (erster internationaler Pazifistenkongress) richtig, das war 1930 richtig, das war 1948 richtig, und das ist 2016 immer noch richtig. Aber man muss sehr ernüchtert feststellen, dass diese mindestens 160 oder 170 Jahre richtige Erkenntnis nur einmal umgesetzt wurde, und zwar unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs. Dies verblasst aber zunehmend, je mehr Jahre zwischen den Krieg und das Heute treten, diese Idee Europa hat es zunehmend schwerer.
[18] Der Grund dafür ist meines Erachtens, dass diese Idee immer schon eine dynamische war, die sich mit den Zeitläuften fortentwickelt. Dies gehört zur Essenz der Idee Europa, sie ist keine Idee, die man irgendwann umgesetzt hat und wo man nur noch schauen muss, dass alles läuft wie gedacht.
[19] Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich aber spätestens mit dem Vertrag von Lissabon aus dieser essentiell zur Europaidee gehörenden Dynamik ausgeklinkt. Das Subsidiaritätsprinzip wurde nationalistisch aufgeladen, die Europäisierung vieler Bürgerinnen und Bürger im Gebiet der EU aufgrund von recht eigentlich EU-Leistungen nicht ernst genommen.
[20] Reden wir kurz über diese Europäisierung der Bürgerinnen und Bürger, denn es spricht einiges dafür, dass die essentiell zur Idee Europa gehörende Dynamik bei den Bürgerinnen und Bürgern zu finden ist. Dies war auch schon so in den ersten zehn bis zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.
[21] Die Mütter und Väter der europäischen Integration handelten keineswegs als von der Bevölkerung losgelöste Elite, die zu wissen glaubte, was für Alle gut sei, sondern sie wusste sich von einer breiten emotionalen Zustimmung getragen. Wie schon in der Zwischenkriegszeit schossen Europavereine aus dem Boden wie im Frühling und gaben hunderttausenden von Menschen Betätigungsmöglichkeiten für die europäische Sache. Meinungsumfragen seit den späten 1940er-Jahren zeigen die sehr hohe Zustimmung zu einer institutionell verfestigten europäischen Einheit.
[22] Berühmt sind die Szenen vom 6. August 1950 an der deutsch-französischen Grenze bei Sankt Germanshof, als europäische Föderalisten aus mehreren Ländern von beiden Seiten her die Schlagbäume beseitigten.
[23] Es hat lange gedauert, bis mit dem Schengen Abkommen vom 15.6.1985 dieses Prinzip umgesetzt wurde, zunächst zwischen sechs, heute 22 EU- und 4 nicht-EU Staaten. Diese Freizügigkeit wird von den Europäerinnen und Europäern hoch eingeschätzt, zumal sie rein praktisch die mit dem EU-Binnenmarkt verpflichtend eingeführte Personenfreizügigkeit sinnvoll unterfüttert. Auch die anderen drei Freiheiten des Binnenmarktes (Dienstleistungsfreiheit, freier Warenverkehr, freier Kapital- und Zahlungsverkehr) erhalten im Schengenraum einen Mehrwert, weil sie in der Regel – am wenigstens freilich beim Kapital- und Zahlungsverkehr – mit im Raum mobilen Menschen verbunden sind.
[24] Die Analysen zur Brexit-Abstimmung in Großbritannien haben gezeigt, dass vor allem für jüngere Menschen die europäische, wenn nicht globale Mobilität, zum Leben dazu gehört und dass sie für einen Verbleib des Landes in der EU waren. Richtig ist, dass längst nicht alle EU-Bürgerinnen und Bürger ein Leben führen, in dem sie diese Freizügigkeiten unmittelbar für sich nutzen, aber mehr Menschen denn je in der an Mobilität und Migration überreichen europäischen Geschichte nutzen diese Freizügigkeiten unmittelbar.
[25] Man kann hier, übertrieben ausgedrückt, ganze Güterzüge voller Statistiken anrollen lassen, um zu belegen, dass das so ist. Und hinter jeder einzelnen Mobilitätsbewegung steht eine individuelle Entscheidung einer Bürgerin oder eines Bürgers.
[26] Dazu passt folgender Umstand: Das Flash Eurobarometer 430, im März 2016 veröffentlicht, dokumentiert unter anderem, dass 71% der Befragten die Effekte der Personenfreizügigkeit als positiv beurteilen, dass 64% der Befragten dafür sind, dass EU-Bürger, die in einem anderen EU-Land leben, dort neben den Kommunal- und Europawahlen auch an den nationalen Wahlen teilnehmen können sollen. 60% sagen, dass EU-Bürger bei Wahlen auf der Ebene von Regionen oder Bundesländern auch kandidieren können sollten. Und: Eine Mehrheit laut Eurobarometer sieht in der bisher von den Regierungen der Mitgliedsländer abgelehnten Sozialunion ein ganz wichtiges Instrument von mehr europäischer Gemeinsamkeit.
[27] Darin sind eindeutige „Bekenntnisse“ zu einem vereinigten Europa und zu dessen Fortentwicklung zu erkennen. Welche Konsequenzen sollten daraus gezogen werden?
Fortsetzung folgt in Teil II.
Dokumentation:
Teile des Textes wurden für eine Veranstaltung der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste zusammen mit den Salzburger Nachrichten am 27. Oktober 2016 im Rahmen des Projektes Next Europe® hergestellt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäische Demokratie – wohin? Teil I. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europaeische-demokratie-teil-1, Eintrag 01.11.2016 [Absatz Nr.].