„Gutes Regieren“ noch möglich?
[1] Am 3. Jänner 2025 verkündete die österreichische liberale Partei NEOS, dass sie aus den Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP und SPÖ aussteige. Vor über 90 Tagen war in Österreich gewählt worden, die alte Regierung ist nach wie vor geschäftsführend im Amt.
[2] Am Abend des 4. Jänner beendete auch die ÖVP die Verhandlungen mit der SPÖ, Karl Nehammer (ÖVP) kündigte seinen Rücktirtt als Bundeskanzler und ÖVP-Vorsitzender an. Die Aktion der NEOS hat, abgesehen davon, dass der Schritt in Österreich doch noch den Weg für die FPÖ in die kommende Regierung bereitet haben könnte, etwas Symptomatisches an sich, das das Regieren und die Demokratie in Europa insgesamt betrifft.
[3] In Deutschland hat die „Ampel“ aus SPD, FDP und Grünen nur knapp drei Jahre gehalten, in Frankreich hat die vorzeitige Auflösung des Parlaments durch Präsident Macron im Juni 2024 zu einer eher hoffnungslos erscheinenden innenpolitischen Lage geführt, da es seitdem keine Regierung mit verlässlicher Mehrheit gibt. Erst Mitte 2025 könnte erneut gewählt werden, bis dahin muss jede Regierung, ob eher rechts oder links orientiert, täglich mit dem Sturz durchs Parlament rechnen. Bisher gibt es kein ordentliches Budget für 2025. Auffällig ist, dass die Ampel in Deutschland am Budget gescheitert ist. Die drei genannten österreichischen Parteien konnten sich gleichfalls nicht über wesentliche Budgetfragen ins Einvernehmen setzen. Eine Grundobliegenheit von Legislative und Exekutive, das Budget, wird nicht (mehr?) gemeistert. Manche (relative) Wahlsiege ähneln eher Pyrrhussiegen.
[4] In Ländern wie den Niederlanden oder Belgien gibt es Vielparteienkoalitionen, in anderen Ländern gibt es Minderheitsregierungen (Dänemark, Schweden, Spanien). Zwei bis drei Koalitionäre sind längst die Regel. Die Fidesz in Ungarn kommt nur mit ihrem langjährigen Koalitionspartner „Christlich-demokratische Volkspartei“ auf eine Mehrheit, wobei das Wahlrecht die stärkste Partei überproportional begünstigt. Auf dem Kontinent erreichte lediglich die polnische PiS 2015 und 2019 absolute Mehrheiten, allerdings mit weniger als 40% bzw. weniger als 45%. Das britische Mehrheitswahlrecht sorgt in den meisten Fällen für eine absolute Mehrheit wie derzeit für die Labour-Partei.
[5] Absolute Mehrheiten für eine einzelne Partei deuten in Europa inzwischen eher auf eine „illiberale Demokratie“ hin, in der die Verfassung zugunsten autokratischer Strukturen geändert wurde, die Gewaltenteilung vor allem auf Kosten der Unabhängigkeit der Gerichte geschwächt und der Mediensektor von der Mehrheitspartei direkt oder indirekt nach Art von Klanstrukturen kontrolliert wird.
[6] Anders ausgedrückt: Minderheitsregierungen und Mehr- bzw. Vielparteienkoalitionen sind der in Europa heute übliche Zustand – und bedeuten keineswegs ein Übel. Darin spiegelt sich die gegenwärtige politische Vielfalt wider, die in den Gesellschaften herrscht. Ein simples Links-Rechts-Schema, ggf. mit einem liberalen Junior- oder Minipartner, ist überholt und entspricht nicht mehr der gesellschaftlichen Wirklichkeit. Diese wird durch vielfältige Orientierungen charakterisiert, die für „das gute Regieren“ zu berücksichtigen sind.
[7] Der Fähigkeit zum Kompromiss kommt daher eine besonders hohe Bedeutung zu. Die französische Politik verschließt sich vorerst dieser Einsicht, während das Nachbarland Belgien diese Kunst virtuos zu beherrschen scheint. Da macht es auch nichts, wenn ein Jahr seit den Wahlen vergeht, bis eine neue Regierung gebildet wird. Auch das ist eine immer alltäglicher werdende Erfahrung, dass die Regierungsbildung länger dauert und der Staat weiter ordentlich funktioniert. Das spricht grundsätzlich für die Solidität der europäischen Staaten und ein immer noch professionelles Beamt*innentum, das sich gegen die Inflation externer Beratungsaufträge bisher behaupten konnte.
[8] Es handelt sich keineswegs um einen Anachronismus, wenn man sich auf „Staatstugenden“ stützt, die seit der Aufklärung im 18. Jahrhundert entwickelt wurden. „Der Staat“ ist für das da, was Alle brauchen, nicht nur Lobbygruppen. Er ist da für Menschenrechte, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie, für Freiheit und Sicherheit, für Wohlstand, für Rechtsgleichheit, für Menschlichkeit etc. – im nationalen Rahmen, im europäischen Rahmen, im Rahmen der Vereinten Nationen und des Völkerrechts.
[9] Das Alles und mehr hängt zusammen und ist nicht ersetzbar durch eine „multipolare Ordnung“. Der demokratische Rechtsstaat entwickelt sich am besten in einem völkerrechtlich grundgelegten Netzwerk, während „polare Ordnungen“ (mono-, bi- oder multipolar) autokratisch oder diktatorisch funktionieren.
Völkerrechtlich grundgelegtes Netzwerk versus multipolare „Ordnung“
[10] Man könnte versucht sein, das multipolare Szenario durchzuspielen. Was käme heraus? China, die Russländische Föderation (abgekürzt: Russland) und andere favorisieren eine multipolare Ordnung, wobei „Ordnung“ eigentlich falsch ist, es geht am Schluss nur um Vorherrschaft. Wäre Russland genauso stark wie China, würde es beim Streben nach Multipolarität zu einer wachsenden Zahl von Konflikten um den stärkeren Einfluss gehen, am Ende käme es zum Krieg. Nun hat sich Russland durch den Überfall auf die Ukraine selber geschwächt; je länger dieser Zustand andauert, desto größer wird die Abhängigkeit von China. Darin glüht schon der nächste große Konflikt vor sich hin. Zum Ausgleich der eigenen Schwäche verbündet sich Russland mit Nordkorea und dem Iran und unterhält Söldnertruppen in Afrika (u.a. in Libyen und der Sahelzone). Seine Art der Präsenz und seine Ziele sind ziemlich anders als die Chinas.
[11] Indien will hingegen keine multipolare Ordnung, sondern scheint eher dem Netzwerkkonzept zuzuneigen, weil dies den eigenen Interessen am besten entspricht. Indien ist also daran interessiert, von China und Russland zu profitieren, wo es sinnvoll ist, aber nicht, sich in irgend einer Weise für irgendwas unterzuordnen. Ein Hegemoniestreben ähnlich dem Chinas oder Russlands macht im laufenden Jahrhundert für Indien keinen Sinn.
[12] Alle drei betätigen sich in der Vereinigung der BRICS-Staaten; China will dort mindestens Primus inter pares sein, Russland auch, Indien hat kein Interesse, diesen beiden dabei zu helfen. Auch hier gilt, dass Indien mit den BRICS als Netzwerkkonzept mehr auf seine Rechnung kommt als mit einem hierarchischen Modell à la China oder Russland. Indien will BRICS nicht als Opposition zum sog. Westen verstehen.
[13] Bisher spricht nichts dafür, dass das Konzept der Multipolarität bessere Ergebnisse bringen würde als die nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaute internationale Ordnung mit den Vereinten Nationen, deren Teilorganisationen, dem aus den UN hervorgegangenen Völkerrecht und dem ebenso aus den UN hervorgegangenen Humanitarismus als Herzstück.
[14] Die EU (und ihre Vorgängerinnen EWG und EG) haben sich immer vergleichsweise eng an der UN und ihren Idealen orientiert. Mit gutem Grund, denn diese Ideale wurden als Antwort auf Weltkriege, Genozide, Massenmorde, Entmenschlichung, Folter, Entwürdigung des Menschen und so fort formuliert. Das ist weiterhin richtig und notwendig und durch nichts ersetzbar.
[15] Die EU ist gut beraten, nicht aus den Augen zu verlieren, was sie historisch wie gegenwärtig ausmacht, sie ist gut beraten, einem wachsenden Drängen zu mehr „Brutalität“ in geopolitischen Zusammenhängen nicht nachzugeben. Sie muss wehrhafter werden, um sich vor Aggressoren wie gegenwärtig Russland zu schützen, das nicht nur einen Cyberkrieg gegen die EU führt, sondern durch Sabotageakte möglichst viel Unruhe ins System bringen möchte und alle digitalen Mittel der Meinungsmanipulation nutzt. Wehrhafter werden bedeutet aber etwas anderes als politische Brutalität. Die EU kann keine „Macht“ werden, wie es China, Russland und im Übrigen auch die USA mit ihren ökonomischen Herrschaftsmethoden sind, ohne für sie wesentliche und konstitutive Prinzipien zu verraten.
[16] An Syrien wird sich zeigen, ob die EU in der Lage ist, ihren ideellen Grundlagen treu zu bleiben und trotzdem eine wichtige geopolitische Akteurin zu sein. Wird sie auch klug sein können? Gemeint sind damit die in den Ländern, die ihnen Zuflucht geboten haben, gut integrierten Syrer*innen, die zum Teil systemrelevant geworden sind (Gesundheitssektor, Handwerk etc.) und die trotzdem nicht vor Aufhebung des Schutzstatus und anschließender Abschiebung nach Syrien nach dem Sturz al-Assads geschützt sind, wenn sie nicht die Staatsbürgerschaft des Aufnahmelandes erworben haben. Gemeint ist darüber hinaus der grundsätzliche Umgang mit Menschen, die durch Flucht und anders bedingte Migration nach Europa gekommen sind.
Mit Humanismus tut sich Europa immer schwerer
[17] Seit langem verschärft sich in den Mitgliedsländern die Rhetorik, zunehmend auch auf EU-Ebene, vor allem, seitdem rechtskonservative und nationalpopulistische Parteien bei den letzten EU-Wahlen deutlich zugelegt haben und ggf. mit der EVP eine Mehrheit im EU-Parlament bilden können. Nach jedem Gewaltakt von Flüchtlingen wird die Rhetorik grundsätzlich gegenüber nicht-europäischen Ausländer*innen verschärft, statt sich auf die Verbesserung der Sicherheit, auf Vorbeugung, auf die Klärung der Ursachen und die daraus zu ziehenden Konsequenzen zu konzentrieren. Es geht darum, den Maßstab für Menschlichkeit zu behalten und nicht Gruppen für Einzeltaten verantwortlich zu machen, wenn es keine Gruppenverantwortlichkeit gibt. Daraus folgt mitnichten, blind gegenüber Missbrauch zu sein oder Gewaltakte zu verharmlosen, doch der Rechtsstaat beruht nun einmal darauf, dass Fakten, die zu beurteilen sind, nicht propagandistisch hergestellt werden, sondern nach festgelegten Methoden ermittelt werden, bevor die Konsequenzen gezogen werden, die das Gesetz vorsieht.
[18] Der Rechtsstaat beruht auf Gesetzen, doch als die französischen Revolutionäre 1789 und bspw. Immanuel Kant 1797 in seiner „Metaphysik der Sitten“ die Grundsätze von Rechtsstaatlichkeit formulierten, dachte niemand daran, dass einmal Jahr für Jahr Hunderte von Gesetzen bzw. Gesetzesänderungen in einem Staat verabschiedet werden würden. Gedacht war an eine hochqualitative Gesetzgebung, nicht an eine Gesetzgebung mit dem Rhythmus einer täglich erscheinenden Zeitung. Die Sache ist längst unübersichtlich geworden, zumal Dekrete, Verordnungen usw. dazu kommen. Der Rechtsbestand ist gewaltig, unübersichtlich, er wird intellektuell nicht mehr beherrscht. Umso schneller wird der Lautsprecher für scharfe Rhetorik eingeschaltet. Diesbezüglich befindet sich Europa auf dem falschen Weg.
[19] Wie eine Zeitung (Le Monde) kürzlich fast süffisant, mit Blick auf die kommende Funktion des Elon Musk in der künftigen Trump-Regierung, bemerkte, kommt der Bürokratiewust, an dessen Anfang eine überbordende Gesetzgebung steht, nicht nur aus der Politik, sondern von den zahllosen Lobbyisten im Auftrag nicht zuletzt „der Wirtschaft“, Leuten wie E. Musk, die sich mit ihren Forderungen durchsetzen. Pikant zu lesen, dass Musk also, wenn er seinen Job richtig machen will, weniger Behörden denn Seinesgleichen bekämpfen müsste. Allgemein formuliert: Viele müssten in sich gehen, gerade auch in Europa, nicht nur Politiker*innen, sondern alle, die welche Interessen auch immer vertreten und versuchen, auf die Politik und ihre Entscheidungen einzuwirken. Das ist keineswegs illegitim, aber der Blick fürs „Große Ganze“ fehlt den Meisten. Die bestflorierende Branche ist die Scheuklappenproduktion. Ausgeblendet wird meistens die humanistische Sicht auf den Menschen.
Vom deutsch-französischen Motor zum polnisch-baltischen Motor der EU
[20] Es ist beinahe schon ein geflügeltes Wort, dass sich der Schwerpunkt der EU nach Osten verschiebt. Der deutsch-französische Motor stottert, auch wenn das deutsch-französische Verhältnis nicht schlechter geredet werden sollte, als es tatsächlich ist. Aber starke Initiativen wie zuletzt (!) am 18. Mai 2020 von A. Merkel und E. Macron für den milliardenschweren Wiederaufbau nach Covid-19 sind nicht mehr zu erwarten.
[21] Für einige Zeit herrschte die Befürchtung, dass die relative Schwäche des deutsch-französischen Tandems den „illiberalen“ Demokratien in Ostmitteleuropa (PiS-Polen, Orbán-Ungarn, Fico-Slowakei) zu viel Entfaltungsspielraum geben würde. Unterdessen hat sich Polen unter dem neu-alten Regierungschef Donald Tusk zusammen mit den baltischen Staaten zu einer treibenden politischen Kraft entwickelt. Der Überfall der Ukraine durch die Russländische Föderation und die Diskussion um die richtigen Antworten darauf spielt dabei eine wichtige Rolle, aber auch der Umstand, dass Tusk Präsident des Europäischen Rats gewesen war und seine Initiativen mit der EU und nicht gegen die EU wie die PiS-Regierung vor ihm angeht.
[22] Tusk und andere machen deutlich, dass die EU ihre Prioritäten überdenken muss. Innerhalb kurzer Zeit hat sich die geopolitische Lage massiv geändert. Während die Finanz- und Euro-Krise noch ‚traditionelle‘, also durchaus gewohnte, Krisentypen darstellten, änderte sich das mit der Sars-CoV-2-Pandemie, und erst recht mit dem 24. Februar 2022. Die Lage im Nahen Osten hat sich dramatisch verändert und bleibt vorerst unberechenbar. Niemand hat eine überzeugende Antwort auf die Frage, welche konstruktive Rolle die EU spielen könnte. Doch sind das nicht die Probleme, die D. Tusk in Angriff nehmen möchte. Er wird sich auf die freilich zahlreichen inneren Angelegenheiten inklusive Wehrhaftigkeit der EU konzentrieren. Einig weiß er sich mit den baltischen Staaten, dass wesentlich mehr für die Wehrhaftigkeit der EU getan werden muss und dass es dazu treibender Kräfte bedarf, die derzeit nicht in Mittel- oder Westeuropa zu finden sind. Am 1. Juli 2025 übernimmt Dänemark die Präsidentschaft von Polen, dann wird sich zeigen, ob sich die Gewichte in der EU schon nach Ostmitteleuropa verschoben haben.
Europa droht die Musealisierung
[23] Auch das gleicht beinahe schon einem geflügelten Wort, dass Europa immer mehr zum Museum statt zu einem Raum dynamischer Innovation wird.
[24] In Deutschland und Frankreich wurde in den letzten Jahren viel falsch gemacht, beide Länder sind ökonomisch und politisch geschwächt. Innovationsschübe kommen nicht von dort, aber auch nicht aus anderen Ländern. Die europäische Wirtschaft ist bei traditionsreichen Techniken gut, die Digitalisierung und KI-Entwicklung sowie KI-Anwendungen wurden in ihrer Bedeutung für die Gesamtwirtschaft unterschätzt. Der Lobbyismus für überholte Techniken – auch in der Landwirtschaft – ist weiterhin stark und einflussreich, das wirft Europa weiter zurück.
[25] Die Parteien des rechten Spektrums hängen einer identitären Interpretation von Kultur nach und setzen diese überall dort, wo sie in der Regierung sind, konkret um. Aber auch identitäre Rhetorik ist praktische Politik und übertönt die Stimmen für kulturelle Vielfalt, Üblicherweise ist Vielfalt eine Innovationstreiberin, überall, und das gilt auch für die Kultur. Ohne eine Kultur der Vielfalt, um es so zu wenden, wird Europa nicht nur demografisch immer älter. Das mit der Demografie ließe sich ändern, aber Zuwanderung aus demografischen Gründen wird in keinem europäischen Land gewollt, wider bessere Einsicht.
[26] Man muss sich in Europa dazu bequemen, von anderen, außerhalb Europas, zu lernen. Das ist wohl das Schwierigste, insofern sich darin die Transition von der postkolonialen Phase, in der Europa eine starke, historisch geerbte Stellung halten konnte, in eine neue zeigt, in der Europa eine andere Stellung haben wird. Dabei handelt es sich um einen anderen Vorgang als das Durchdrücken einer multipolaren „Ordnung“, das wird leicht übersehen.
Empfohlene Zitierweise: Wolfgang Schmale: Europa 2024 – Eine Bilanz. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/ europa-2024-bilanz/, Eintrag 4.1.2025 [Abs. Nr.].
Aktuelles Buch zum Thema „Demokratie“: Wolfgang Schmale (Gastherausgeber): Demokratiegeschichte (= Historische Mitteilungen Band 34) (Franz Steiner Verlag, Stuttgart, 2025).
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