[1] Seit der Veröffentlichung von „Europäische Integration Teil I“ am 21. März 2020 auf diesem Blog hat sich einiges getan. Bezüglich des Themas „Europäische Solidarität“ gibt es bemerkenswerte Fortschritte. Über Demokratie in Corona-Zeiten wird seit Wochen intensiver diskutiert.
Wenden wir uns zuerst der Frage der Solidarität zu, dann der der Demokratie und insbesondere der Grund- und Freiheitsrechte/Menschenrechte.
Solidarität
[2] Der deutsch-französische Vorschlag vom 18. Mai 2020, über das EU-Budget 500 Milliarden Euro an Zuschüssen zu aktivieren, die der wirtschaftlichen Erholung nach der Corona-Pandemie dienen sollen, ist mit einem gewissen positiven Erstaunen aufgenommen worden.
[3] Der deutsch-französische Motor scheint doch zu laufen – immerhin haben sich beide Länder dort angenähert, wo bisher Prinzipien einander entgegenstanden.
[4] Frankreich besteht nicht mehr auf Euro- oder Coronabonds, Deutschland hat keinen Einwand mehr gegen gemeinsame Schulden. Die Rücknahme der bisher prinzipiellen Einwände ist hier daran gekoppelt, dass nicht Eurobonds oder ähnliches eingeführt werden, sondern eine Durchführung der Unterstützungsmaßnahmen über das EU-Budget erfolgen soll.
[5] Kredite sind trotzdem aufzunehmen und letztlich von allen zu finanzieren. Zugleich sollen die 500 Milliarden als Zuschüsse ausgegeben werden, was dem Prinzip der faktischen Solidargemeinschaft, die die EU darstellt, entspricht.
[6] Nicht die beiden Länder bestimmen darüber, was tatsächlich sein wird, aber ihre Konzertierung ist die Voraussetzung für den Erfolg. Noch wichtiger für den Erfolg ist, dass sich beide bewegt haben. Die Botschaft ist deutlich: Die EU bedarf in der augenblicklichen Lage des Muts – und den gibt es, er wird eingesetzt.
[7] Die Bitte von Ländern wie Italien und Spanien nach Solidarität wurde gehört und positiv aufgenommen. Es wurde verstanden, dass jetzt nicht der Moment des kleinbürgerlichen Sparstifts ist, sondern das Ideelle zum Tragen kommen muss.
[8] Dass Frankreich und Deutschland nicht aus reinem Altruismus und reinem Idealismus handeln, ist ebenso wahr wie es kein Vorwurf sein kann. Die deutsche Bundeskanzlerin schätzt Win-Win-Situationen. Hier könnte eine entstehen.
[9] Sie könnte allein schon dadurch gegeben sein, dass es Salvini in Italien und Marine Le Pen in Frankreich erschwert wird, noch mehr Leute an sich zu binden. In Frankreich nutzt es dem Präsidenten, der innenpolitisch sehr unter Druck steht. In Deutschland entschärft es die vom Bundesverfassungsgericht aufgeworfene Problematik der EZB, und es ist nicht unnütz, dass das Image des doktrinären Sparefrohs, dem seine europäische Umwelt umso mehr egal ist wie er von ihr profitiert, nicht mehr so recht passen mag.
[10] Bisher gibt es nur ein begrenztes Gegengewicht in Gestalt von Österreich, den Niederlanden, Dänemark und Schweden, die lieber beim Prinzip, rückzahlbare Kredite zu gewähren, bleiben würden. Die EU Kommission macht nun das, was sie immer tun muss, einen Kompromiss entwerfen. Die Win-Win-Situation muss sich allen 27 Mitgliedern als solche darstellen. Das ist nun das nächste Etappenziel.
Demokratie, Grund- und Freiheitsrechte
[11] Eine andere Baustelle bleibt aber, die der beschädigten Demokratie. Seit April wird die Einschränkung der Grund- und Freiheitsrechte im Zuge der Bekämpfung der Ausbreitung des Virus intensiver diskutiert. Die Hoffnung ist, dass für die Zukunft etwas gelernt werden kann.
[12] Die überschießenden Maßnahmen der Polizei (in vielen Ländern) werden öffentlich, viele sind bereits vor Gericht gelandet. Hier ist viel aufzuarbeiten, weil der Verdacht, dass die Gelegenheit genutzt wurde, etwas rauszulassen, was in der Polizei eigentlich nicht drin sein sollte, berechtigt ist. Wer die Tweets der LDH (französische Liga für Menschenrechte) verfolgt hat, weiß, dass der Verdacht längst erhärtet wurde.
[13] Die Gelegenheit macht den Dieb – das gilt auch für Diebstähle, die an der Demokratie und den Grund- und Freiheitsrechten begangen werden. In Ungarn ließ sich Viktor Orbán eine Art Ermächtigungsgesetz ausstellen – und nun wurden die Rechte der Bürger*innen bezüglich ihrer sexuellen Identität zurückgebaut. Das in der Geburtsurkunde eingetragene Geschlecht darf nicht mehr geändert werden. Eine weitere Entmündigung der Bürger*innen. Dies läuft der Entwicklung des EU-Rechts entgegen.
[14] Generell wird in der Diskussion über die tatsächlichen Einschränkungen der Bürger*innenrechte darauf fokussiert, ob die verfassungsmäßigen Voraussetzungen dafür gegeben waren. Das zu klären, ist wichtig, reicht aber nicht.
[15] Vielmehr lautet die Frage, wie in Zukunft Politik gestaltet werden muss, damit eine Einschränkung der Rechte im geschehenen Umfang vermieden werden kann.
[16] Viel zu wenig, und zwar seit langer Zeit, wird Politik daran orientiert, die Voraussetzungen zu erhalten und zu verbessern, unter denen Grund- und Freiheitsrechte überhaupt praktisch gelebt werden können.
[17] Wenn all das, was die Wahrnehmung dieser Rechte ermöglicht, immerzu nur unter den Bedingungen von schönem Wetter gewährleistet wird, stimmt die Richtung nicht mehr.
[18] Es ist dasselbe Problem wie bei der Bekämpfung des Klimawandels, die immer wieder hintan gestellt wird, bis es womöglich zu spät ist. Dann werden wieder Grund- und Freiheitsrechte massiv eingeschränkt, die Begründung wird dieselbe sein – das Wohlergehen aller. Wer sollte dagegen etwas sagen können?!
[19] So wird schon heute so getan, als handele es sich bei Grund- und Freiheitsrechten, hier, und Wohlergehen aller, dort, um eine Aporie. Für das Wohlergehen aller darf man ja diese Rechte einschränken, sogar aussetzen; warum also darüber nachdenken?
[20] Es ist gut, das viele Geld, das nun zur Linderung der wirtschaftlichen Folgen der Pandemie-Bekämpfung eingesetzt wird, an Fortschritte bei der Digitalisierung und bei der Klimafreundlichkeit binden zu wollen.
[21] Es fehlt aber das übergeordnete Ziel, die Lebbarkeit der Grund- und Freiheitsrechte, der Menschenrechte, garantieren zu wollen. Hier findet ein Bruch mit der historischen Genese dieser Rechte statt, der keine Rechtfertigung hat.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäische Integration 2.0 – Diese muss nach der Corona-Krise kommen (Teil II). In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, https://wolfgangschmale.eu/europaische-integration-2-0-teil-ii [Absatz-Nr.]