[1] Österreich plant, die Höhe der Familienbeihilfe (=Kindergeld in Deutschland) bei ArbeitnehmerInnen aus EU-Ländern den dortigen Lebensstandards anzupassen. In der Praxis heißt das, die Familienbeihilfe zu senken. Dies diskriminiert EU-BürgerInnen, die im Zuge der Personenfreizügigkeit, eine der vier Säulen des Binnenmarkts, in Österreich arbeiten, während ihre Familie, insbesondere Kinder, im Herkunftsland geblieben sind.
[2] Dasselbe Land plant, Firmen die Hälfte der Lohnnebenkosten zu erstatten, wenn sie bereits im Land ansässige ArbeitnehmerInnen einstellen. Auf den ersten Blick stellt das keine Diskriminierung dar, da die Herkunft/Nationalität der ArbeitnehmerInnen keine Rolle spielt, Kriterium ist, dass sie bereits in Österreich leben. Mittelbar diskriminiert es aber EU-BürgerInnen, die neu ins Land kommen im Zuge der Personenfreizügigkeit, da es für diese Gruppe keine Subvention für die Arbeitgeber geben soll.
[3] Beide Maßnahmen richten sich faktisch gegen ArbeitnehmerInnen aus den ostmitteleuropäischen Ländern sowie Bulgarien und Rumänien. Dahinter steht der in anderen Zusammenhängen deutlich erhobene Vorwurf an diese Länder, dass sie in der EU gerne nehmen, aber ungerne geben, also sich unsolidarisch verhalten.
[4] Österreich ist nicht das einzige EU-Land, das solche Maßnahmen plant. Freilich geht es stramm voran, während anderswo kontrovers um ähnliche Ideen gestritten wird. Insgesamt zeichnet sich bei den Nettozahlern unter den Mitgliedsländern die Tendenz ab, Sozialleistungen für EU-BürgerInnen an Bedingungen zu knüpfen, die für die eigenen StaatsbürgerInnen nicht gelten.
[5] Wie der Europäische Gerichtshof in Bezug auf entsprechende britische Regelungen, die Cameron vor dem Brexit-Votum eingeführt hatte, festgestellt hat, verstoßen die Restriktionen nicht zwingend gegen EU-Recht bzw. sind bestimmte Einschränkungen, die objektiv betrachtet EU-BürgerInnen gegenüber den StaatsbürgerInnen diskriminieren, zulässig, wenn ein anderes Rechtsgut – im konkreten Fall die Finanzen der öffentlichen Hand – höher zu bewerten ist.
[6] Österreich (und eventuell weitere Länder wie Deutschland) wird es daher im Zweifelsfall darauf ankommen lassen, ob jemand – die Kommission oder jemand anderes – vor dem EuGH klagen wird oder nicht.
[7] Die juristische Bewertung auf der Grundlage des Unionsvertrages und des europäischen Rechts ist die eine Sache. Statt allfällige Spielräume im EU-Recht auszureizen bzw. auszutesten, sollte das Projekt einer europäischen Sozialunion ernsthaft voran getrieben werden.
[8] Eine andere Sache ist die Bewertung unter dem Gesichtspunkt europäischer Werte. Das Diskriminierungsverbot lässt sich eben nicht nur juristisch betrachten, sondern es drückt auch eine Grundhaltung aus, nämlich innerhalb der EU allen BürgerInnen die exakt selben Rechte zukommen zu lassen. Davon ist auch im EU-Recht ohnehin das Wahlrecht weitgehend ausgenommen mit Ausnahme des kommunalen Wahlrechts und des Wahlrechts für die EU-Parlamentswahlen.
[9] Konsequenterweise müsste die Werthaltung von keinerlei Diskriminierung auch auf das Wahlrecht ausgedehnt werden. Es geht um eine prinzipielle Einstellung und um praktizierte europäische Solidarität. Ziel der Römischen Verträge von 1957, die die EWG begründeten, war insbesondere, die Lebensstandards innerhalb der Gemeinschaft immer weiter anzugleichen. Es ging daher von Anfang an um eine bestimmte europäische Solidarität, die letztlich im Binnenmarktprojekt ihren konsequentesten Ausdruck gefunden hat.
[10] In einem Binnenmarkt zahlt sich allgemeiner Wohlstand mittel- und langfristig für alle aus. Und zweifellos ist die Zahlung von Familienbeihilfe/Kindergeld, um beim konkreten Beispiel zu bleiben, eine solidarische Transferleistung, wenn die Kinder im Herkunftsland geblieben sind, die einen bescheidenen Beitrag zum idealistischen Ziel der Union leistet.
[11] Die Tendenz zur Diskriminierung zeigt sich außerdem in sehr unterschiedlichem Gewand. Die polnische Regierung beispielsweise möchte ursprünglich polnische Unternehmen (Bankensektor, Mediensektor, etc.), die inzwischen Eigentümer aus EU-Ländern haben, wieder in polnischen Besitz oder Mehrheitsbesitz bringen. Unterstellt wird, dass ausländische Eigentümer gegen polnische nationale Interessen handeln, während nationale Eigentümer sich national-ethischer verhalten.
[12] Dass das so ist, ist zwar mitnichten beweisbar, aber viele Polen glauben das. Die PiS-Regierung hat relativ leichtes Spiel. Dass bei ihr in Wirklichkeit der Wunsch nach politischer Umfärbung der wichtigere ist, wird von vielen als nachrangig betrachtet. Vorgemacht hat es Ungarn, „Budapest“ ist der PiS Vorbild.
[13] Nahtlos fügt sich daran die Weigerung vieler EU-Länder, mehr Flüchtlinge aufzunehmen. Diese Weigerung betrifft nicht nur die ostmitteleuropäischen Länder, sondern auch westeuropäische, gleichwohl kumulieren sich in manchen ostmitteleuropäischen Ländern unsolidarische Haltung, scharfe Verbalattacken auf die EU-Kommission, Nationalismus und Abschottung, Blicke nach Moskau, bei Inanspruchnahme der Vorteile der EU, während in westlichen Ländern die Bereitschaft zur solidarischen Umverteilung abnimmt.
[14] Die neue Kluft zwischen West und Ost ist bereits da. Die Bindeelemente gemeinsamer Interessen werden schwächer. Der neue Nationalismus macht die Interessen divergenter.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Die Diskriminierung in der EU nimmt zu. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/diskriminierung, Eintrag 24.02.2017 [Absatz Nr.].