Mariupol gleicht Aleppo, die russische Armee zerstört vorrangig zivile Ziele und begeht permanent Kriegsverbrechen. Um das zu sagen, braucht es keinen Richterspruch, denn im 21. Jahrhundert sitzen wir am Fernseher und schauen im Internet nach und werden sehenden Auges Zeug*innen der Verbrechen.
Die Verbrechen sind und werden dokumentiert, viele Menschen beteiligen sich daran, Beweise zu sammeln, um sie dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag zur Verfügung zu stellen. Niemand weiß, ob und wann es zu Verurteilungen kommen wird, zumal die Russische Föderation dem UN-Abkommen nicht beigetreten ist. Trotzdem ist es bedeutend, dass sofort mit Ermittlungen und Beweissicherungen begonnen wurde, die sich klarerweise auf das gesamte Kriegsgeschehen beziehen.
Mit zivilen Mitteln – das schließt jede nicht-kriegerische Reaktion auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ein – gegen einen Krieg vorzugehen, erscheint wenig erfolgversprechend. Und es gibt daher genug Stimmen, die einfordern, andere Wege zu gehen, z.B. Angriffswaffen an die Ukraine zu liefern.
Eine kriegerische Eskalation bringt jedoch keine Lösung, da die Eskalationsspirale erst endet, wenn der Dritte Weltkrieg im Gange ist.
Die Bilder der Toten in den Straßen, die nicht mehr beerdigt werden können, Bilder von toten Kindern, von Ruinenstädten, von Millionen von Flüchtlingen, der Bericht über Boris Romantschenko, der den Holocaust überlebte und bei einem russischen Bombenangriff auf Charkiw getötet wurde – alles ist unerträglich und wird durch den Sadismus und Zynismus der Männer im Kreml noch unerträglicher gemacht. Und trotzdem bleibt eine Zivilstrategie gegen den Krieg die sinnvollste Reaktion.
Die Sanktionen wirken und es gibt Spielraum für weitere Sanktionen. Manche kritisieren, dass das alles Zeit brauche – aber eine militärische Eskalation verlängert den Krieg erst recht. Wenn Europa seine Abhängigkeit von russischem Gas, Öl und Kohle zügig reduziert, wird dies noch dieses Jahr auf Russland zurückwirken, da die Wirtschaft dieses Landes einseitig vom Export fossiler Energieträger und anderer Rohstoffe abhängt. Zu glauben, der Krieg wäre zu Ende, sobald Europa von sich aus den Import stoppt, ist naiv. Eher könnte auf der russischen Seite die Bereitschaft steigen, Phosphorbomben sowie biologische und chemische Waffen einzusetzen.
Die Kriegstreiber im Kreml haben sich davon täuschen lassen, dass die Sanktionen 2014 wegen der Annexion der Krim halbherzig gewesen waren und dass westliche Wirtschaftsbosse unermüdlich dafür warben, die Sanktionen wieder aufzuheben. Sie haben sich davon täuschen lassen, dass auch im Westen offenbar Viele das pseudohistorische Argument, dass die Krim ja eigentlich russisch sei, gerne akzeptierten und überhaupt ein solches Argument auch für andere Weltregionen (etwa für China in Bezug auf Taiwan) zu akzeptieren schienen. Sie haben sich davon täuschen lassen, dass in Syrien zahllose Kriegsverbrechen ungehindert begangen werden konnten und nicht verfolgt wurden.
So völlig entblößt jeder Moral ist der Westen dann doch nicht. Der Angriffskrieg gegen die Ukraine ist durch diese bisherige Moralferne nicht mehr gedeckt. Nicht nur die Politik hat massiv reagiert, sondern auch die Sportwelt, die Kultur, viele Firmen ziehen sich aus Russland zurück, obwohl die Sanktionen es nicht direkt verlangen, Tausende Menschen demonstrieren gegen den Krieg, noch mehr helfen den Flüchtlingen, es wird viel gespendet.
Millionen von Flüchtlingen entzweien Europa nicht.
Andere haben sich auf sozialen Medien zu Gruppen zusammengeschlossen, die dem meistens durch Offshore-Firmen verdeckten Vermögen der Oligarchen nachspüren und zur Aufdeckung beitragen, andere stellen ihre Accounts zur Verfügung, damit Nachrichten über den Krieg in der Ukraine auch Menschen erreichen können, die in Russland von allen objektiven Medien abgeschnitten sind.
Putin hat kurz vor dem Krieg „Memorial“ vernichtet. Glaubt er wirklich, dass er Gedächtnis und Erinnerung bestimmen kann? Das Wissen über diesen Krieg gegen die Ukraine und die Erinnerung daran werden über Jahrzehnte nicht nur den russischen Präsidenten und seine Regierung und alle dazu gehörigen Kleptokraten verfolgen, sondern das ganze Land.
Dazu tragen die Videoschaltungen des ukrainischen Präsidenten Selenskyj bei. Er sprach zu zahlreichen Parlamenten, war per Video bei Gipfeltreffen dabei, gestern (27.3.2022) konnte er zu den Besucher*innen des Benefizkonzertes für die Ukraine auf dem Wiener Heldenplatz per Videobotschaft sprechen.
Der russische Angriffskrieg hat Folgen weit über die Ukraine hinaus. Insbesondere für alle Europäer*innen. Der 24. Februar 2022 hat sehr viel geändert, niemand wird das vergessen können. Putin fokussierte auf das Angsteinflößen. Er übersah, dass Menschen nicht nur Angst, sondern auch Empfindungen haben, die einschneidende Ereignisse über Jahrzehnte präsent halten.
Ein Zurück zu einem guten Verhältnis zwischen Europa und der Russischen Föderation ist für sehr lange Zeit nicht möglich.
Das hat auch damit zu tun, dass ökonomische Argumente in Zukunft überwiegend wegfallen. Russland hat sich als unzuverlässiger Wirtschafts„partner“ erwiesen, Investitionen müssen in Milliardenhöhe abgeschrieben werden, der juristische Kontext ist schon vor dem Krieg unkalkulierbarer gemacht worden.
Russland führt nicht nur gegen die Ukraine Krieg. Der Kreml nimmt in Kauf, dass in Afrika Hungersnöte zunehmen, weil Getreide zu teuer und knapper wird. In den Augen der Kreml-Herren zählen Menschen nicht. Im Westen aber schon.