[1] 2010 schrieb der 93jährige Stéphane Hessel (Februar 2013 verstorben) das Pamphlet („Pamphlet“ im besten Wortsinn) „Indignez-vous!“, auf Deutsch: „Empört Euch!“. Es handelt sich um eine Handlungsmaxime, die zivilgesellschaftliches Engagement leiten soll.
[2] Hessel zog diese Maxime aus seinem eigenen Leben. 1924 übersiedelte er mit seiner Familie aus Berlin nach Paris, 1937 erhielt er die französische Staatsbürgerschaft, 1941 schloss er sich der Widerstandsbewegung „France libre“ von Charles de Gaulle an. Er erlebte am eigenen Leib Gestapo-Folter, kam u.a. in das Konzentrationslager Buchenwald, 1946 wurde er französischer Diplomat und konnte direkt an der Entstehung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen teilhaben.
[3] Als Triebfeder seines Lebens nennt er das Sich-Empören, mit 93 trat er nochmals hierfür den Beweis an in Gestalt der kurzen und global erfolgreichen Schrift. Er plädiert für gewaltfreie Empörung gegen Missstände, sein Glaube an das eine große Ziel menschlicher Gesellschaften: Freiheit, Demokratie, Menschenrechte ist ungebrochen.
[4] Er vergleicht die Eindeutigkeit der Zielsetzung für Menschen wie ihn in seiner Generation und die geringere Eindeutigkeit heute, die die Orientierung erschwert. Hessel war einer der letzten Botschafter einer Zeit, die auch für Europa große Ziele formulierte.
[5] Nicht nur die französische Résistance, der Hessel angehörte und auf die er sich bezieht, wäre hier zu erinnern, sondern viele andere Widerstandsbewegungen in europäischen Ländern im Untergrund oder im Exil, die die Kraft fanden, Pläne für ein gemeinsames Europa nach dem Krieg zu formulieren und sich unter schwierigsten wie gefährlichsten Bedingungen zu treffen.
[6] Die Europapläne der Widerstandsbewegungen, an die nicht nur wegen Hessel und der kleinen runden Zahl von 5 Jahren nach Veröffentlichung des Pamphlets, sondern, aus deutscher Sicht, auch mit Blick auf den 20. Juli 1944, erinnert sei, gingen viel weiter als seit langem Europa überhaupt noch gedacht wird.
[7] Europa als Bundesstaat, eine gemeinsame Armee und vieles, vieles mehr, waren in den Widerstandsschriften ausgeführt worden. Die Frage, ob das gewollt werden soll, wurde intensiv diskutiert, ob „Europa“ angesichts der sich abzeichnenden neuen internationalen Organisation, die dann Vereinte Nationen genannt wurde, nicht zu klein und eng gedacht sei, war genauso ein Thema wie die Restauration des Nationalstaats als Demokratie. Letzteres hat sich durchgesetzt, alle anderen weitergehenden Pläne mögen idealistisch, aber zu wenig realistisch gewesen sein.
[8] Man kann Hessel Recht geben, dass sein eigenes Leben durchaus repräsentativ für jenen Teil seiner sowie älterer und jüngerer Generationen ist, der sich empört hat, um fundamentale Werte am Leben zu erhalten und ihnen wieder Geltung zu verschaffen.
[9] Hessel deutet den zivilgesellschaftlichen Sinn der Empörung so, dass einer unverbrüchlichen Wahrheit wieder zu ihrem Recht verholfen wird. Das steht implizit in der Tradition der Akteure der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789.
[10] Aber es lässt in den Hintergrund treten, dass dies den Umbau eines soziopolitischen und ökonomischen Gemeinwesens beinhaltet. Das ist nicht ohne Verwerfungen und Kosten zu haben. Damals, so bemerkt, Hessel, war der Feind eindeutig, die Nationalsozialisten und ihr menschenverachtendes massenmörderisches Regime. Anlässe zur Empörung gibt es viele, aber die Eindeutigkeit des Feindes fehlt, es ist nicht einmal klar, ob es einen „Feind“ im überlieferten Wortsinn gibt. Eher gleicht die Situation einer inzwischen in Science Fiction Filmen stereotypisierten Situation, in der sich ein allmächtiger unkontrolliert gewordener Computer zum strukturellen Herrscher einer Gesellschaft oder Welt entwickelt hat. Die Lösung besteht im Film eigentlich immer in der Zerstörung, nicht in der Re- oder Umprogrammierung.
[11] Die EU steht wohl vor einer solchen Aufgabe der Reprogrammierung. Es führt zu nichts, Erklärungen für das, was in den Medien verkürzt „Griechenland-Drama“ oder – bei ein bisschen mehr klassischer Bildung – „Griechenland-Tragödie“ genannt wird, in die vermeintlichen Persönlichkeiten von PolitikerInnen zu verlagern. Dies verschleiert nur, dass das Programm namens EU bei aller Berücksichtigung von Vielfalt – bis in die EU-Devise hinein – eine Variante von Vielfalt, wie sie Griechenland darstellt, nicht kennt.
[12] Sollte das Programm namens EU sie nicht aber kennen? Das Problem besteht darin, dass in der EU „Vielfalt“ eigentlich ausschließlich in Bezug auf „Einheit“ vorkommt, nicht aber als Wert und Ziel für sich. Es gibt im EU-Diskurs durchaus die Worte „Kohärenz“ und „Kohäsion“, aber sie werden nicht so eingesetzt, wie sie eigentlich zu verstehen sind: Kohärenz und Kohäsion sollen und können nicht in Einheit münden, sondern sie sollen – und können auch nur das – Vielfalt so vernetzen, dass die Elemente der Vielfalt für sich bestehen bleiben und trotzdem ein Funktionszusammenhang entsteht.
[13] Die tatsächliche Bedeutung von Vielfalt sollte Gegenstand von mehr Diskussion sein und in eine allfällige Reform der EU einfließen.
[14] Aber: Es gibt ja nicht nur die EU auf der Welt, über die nachzudenken ist! Aktuell empören sich japanische WissenschaftlerInnen gegen eine Verfassungsänderung, die die japanische Armee stärkt, ohne Rücksicht auf den Geist der japanischen Nachkriegsverfassung und ohne eine Aufarbeitung der japanischen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg (Unterschriftenseite).
Dokumentation:
Hessel, Stéphane (2011): Empört Euch! Übersetzt von Michael Kogon. Berlin: Ullstein Buchverlage (Ullstein Streitschrift). (Originalausgabe französisch u.d.T. „Indignez-vous!“, Montpellier 2010, Indigène éditions)
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: „Empört Euch!“ – Stéphane Hessel vor 5 Jahren. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/empoert-euch-stephane-hessel-vor-5-jahren, Eintrag 20.07.2015 [Absatz Nr.].
Vielen herzlichen Dank, dass Sie am Ende des Artikels die Situation in Japan erwähnt haben. Ich hatte es etwas seltsam gefunden, dass die Medien in Europa, vor allem die im deutschsprachigen Raum, über die große Bewegung in Japan in der letzten Woche wenig berichtet haben. Natürlich ist das Problem Griechenland sehr wichtig für die EU. Doch könnte auch die Veränderung der japanischen Armee viel mit der EU zu tun haben, weil es sich auf den Frieden in Ost- und Südostasien bezieht, von dem heutzutage die Wirtschaft in der Welt abhängig ist. Außerdem geht es dieses Mal um die Gefährdung der Demoktarie, wie der folgende Artikel eines renommierten Soziologen in Japan erläutert:
https://www.opendemocracy.net/shujiro-yazawa/crisis-of-democracy-in-japan
Mit der neuen Gesetzgebung wird die japanische Armee das Recht der „collective self-defense“ besitzen, so dass sie die Alliierten von Japan auch außerhalb Japans unterstützen kann, wenn die japanische Bevölkerung gefährdet wird. Dies allein klingt zwar nicht so problematisch, weil heutzutage viele Länder ihre Soldaten insh Ausland schicken. Doch will die japanische Regierung diese Gesetzgebung durch die Veränderung der Interpretation der Verfassung ermöglichen, obwohl die Regierungspartei (und auch andere Parteien) früher der Meinung war, dass die Ausübung des Rechtes von „collective self-defense“ gegen die Verfassung verstößt. Diese Änderung der Meinung sieht die Regierung heute als notwendig an, „weil die Umstände um Japan herum sich geändert haben“, dem Premierminister zufolge. Aber was konkret dies bedeutet, erklärt die Regierung kaum, obwohl sie die neuen Gesetze anscheinend sofort in Kraft setzen will.
Aus diesen Gründen protestieren gerade in Japan nicht nur eine große Anzahl von Wissenschftlern und Teile der Bevölkerung, sondern auch z.B. die „Japan Federation of Bar Associations“ (JFBA), die sich für Menschenrechte usw. einsetzt:
http://www.nichibenren.or.jp/activity/document/assembly_resolution/year/2015/2015_1.html
Darüber hinaus äußerten sich bis heute 235 Verfassungsrechtler, dass die Maßnahme der Regierung dieses Mal gegen die Verfassung verstößt.
Doch will die Regierung immer noch die betreffende Gesetzgebung verwirklichen und dies auch noch sofort. Sie behauptet, dass die Politiker anders als die Verfassungsrechtler die aktuellen Umständen berücksichtigen und Maßnahme treffen müssen, wenn sie dies für Japan und die Japaner erforderlich halten. Dies provoziert die Wissenschaftler dort sehr.