Über Florian Greiners Buch: Wege nach Europa 1914-1945
[1] Die Tages- und Wochenpresse zählt zu den wichtigsten Massenmedien der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Als Quelle wird dieses Massenmedium in der Geschichtsforschung zwar häufig referenziert, aber eine systematische und dazu noch vergleichende Studie in Angriff zu nehmen, zumal über den Zeitraum der beiden Weltkriege, der von Florian Greiner im Sinne eines Programms als zweiter Dreißigjähriger Krieg bezeichnet wird, bedeutet, eine unvergleichliche Herausforderung anzunehmen. Diese Herausforderung hat eine quantitative, eine qualitative und eine, allgemein ausgedrückt, intellektuelle Seite.
[2] Florian Greiner untersucht für Deutschland die Frankfurter Zeitung (1935-1943), die Kölnische Zeitung (1914-1945), die Vossische Zeitung (1914-1934, inkl. Bildbeilage „Zeitbilder“, Auslandsausgaben Die Voss, Die Post aus Deutschland); für Großbritannien The Times (1914-1945) und den Manchester Guardian (1914-1945); für die USA die Chicago Daily Tribune (1914-1945) und die New York Times (1914-1945).
[3] Welches Unterfangen es bedeutet, diese Qualitätszeitungen auf „Europa“ hin zu befragen, verdeutlicht eine Tabelle (S.40f.), die „absolute Zahlen von Zeitungsartikeln mit Europabezügen“ liefert: The Times 1914-45: 135.344; New York Times 1914-45: 362.008; Vossische Zeitung 1914-31.3.1934: 39.181; usw. Für die Frankfurter und die Kölnische Zeitung existieren keine Online-Archive, sondern nur Mikrofilme. Das Data-Mining in den Onlinearchiven bedeutet einen wesentlichen methodischen Gewinn gegenüber früheren Vorgehensweisen. Grob vereinfacht hatten, je nach Blatt, zwischen 4 und 5% aller Artikel einen Europabezug.
[4] Diese methodische Vorbereitung ermöglicht Florian Greiner, das Material diskursiv zu strukturieren und auf große sowie detailliertere Themenstränge zu beziehen. Die großen Stränge entsprechen den Kapiteln: „Europa als Kontinent des ‚Zweiten Dreißigjährigen Krieges‘“ (Kap. 2); „Europa und das ‚Andere‘ – Identitäts- und Alteritätsdiskurse“ (Kap. 3); „Europa als Raum des Fortschritts – der Kontinent und die Moderne“ (Kap. 4). Die Kapitel werden leserfreundlich durch Zusammenfassungen und Zwischenfazits beendet!
[5] Bei allen Unterschieden zwischen den untersuchten Zeitungen und zwischen individuellen Verfassern, die freilich oft nicht namentlich eruierbar sind, liegen keineswegs Welten zwischen dem US-amerikanischen, britischen und deutschen Europadiskurs, auch wenn sich die großpolitischen Befindlichkeiten, die durchaus national geprägt sind, wiederfinden und auf die Europawahrnehmung wie Europabeschreibung bzw. -diagnose durchschlagen.
[6] Eine wichtige Erkenntnis der Untersuchung besteht darin, dass die Zeitungen einen thematisch umfassenden und stark ausdifferenzierten Diskurs repräsentieren, der, so legt es auch der Autor mehrmals nahe, zur Revision mancher Vorannahmen über den Europadiskurs dieser 30 Jahre bzw. seiner Abwesenheit anregen kann. Europa wurde politisch, ökonomisch, technisch-infrastrukturell, kulturell, geografisch, historisch-anthropologisch etc. als Europa angesprochen. Begriffe wie „Europäisierung“, „Vereinigte Staaten von Europa“ usw. waren häufig und weisen auf ein Europaverständnis hin, das weit über das hinausging, was die praktische Politik zuließ.
[7] Anders ausgedrückt: Die Europapläne und -diskurse der Zeit nach 1945 besaßen in Wirklichkeit zigtausende Anknüpfungspunkte in dieser Zeitungsöffentlichkeit und nicht nur beispielsweise in den Plänen der Widerstandsgruppen oder etwa der Europabewegungen der Zwischenkriegszeit, die in der bisherigen Forschung eine zentrale Rolle spiel(t)en. Auch scheint sich nach 1933 keine einfache klare Trennungslinie zwischen der Europarhetorik der Nationalsozialisten und den Europadiskursen der untersuchten Zeitungen ziehen zu lassen. Dies verweist auf die Streitfrage, ob die Europarhetorik der Nazis im Kern antieuropäisch war oder ob sie nicht Teil eines breiteren, auch transnationalen, Europadiskurses war.
[8] Das vom Autor gehobene Text- und Diskursmaterial regt dazu an, die Durchlässigkeit zwischen den Europadiskursen der Zeit stärker zu berücksichtigen.
[9] Vergleichbares bietet sich für den Kolonialdiskurs und seine Verschränkung mit dem Europadiskurs an, soweit es um europäische Zeitungen geht. Florian Greiner ist zuzustimmen, dass beide derselben Vorstellungswelt angehören. Aufschlussreich ist die Untersuchung der beiden US-amerikanischen Zeitungen, denn die Differenziertheit der Europabetrachtungen dort sowie die oftmaligen Detailkenntnisse der Probleme und Befindlichkeiten überrascht – jedenfalls den, der die amerikanische Presse des 20. Jahrhunderts nicht zu seinem Hauptaugenmerk gemacht hat.
[10] Sowohl die ‚externe‘ amerikanische Sicht wie auch der koloniale Kontext der europäischen Europadiskurse hält das Selbstbild von der technisch wie kulturell höchst entwickelten Zivilisation Europa aufrecht. Dies trägt durch den Krieg hindurch und scheint im Integrationsdiskurs nach 1945 deutlich durch. Geht man zum Ersten Weltkrieg zurück, kommt Florian Greiner zu der Schlussfolgerung, dass der Krieg Europa nicht enteuropäisierte, sondern das Europa ein Selbstbild eines Ganzen namens Europa verblieben war. Dieses Selbstbild wurde durch die Zeitungen verbreitet und aufrechterhalten. Dazu trug sicherlich die kritische Betrachtung der Verträge von 1918/19 bei, der die Zeitungen in der Zwischenkriegszeit sehr viel Raum widmeten.
[11] Schwierig zu entscheiden – der Autor legt das dar – ist immer die Frage der Repräsentativität: Qualitätszeitungen können nicht für das Ganze öffentlich wirksamer Medien stehen, auch nicht in Bezug auf die eigene Gattung. Die dargelegten Diskurse sind Teil jenes europäischen diskursiven Hypertextes, an dem sich nicht nur die ausdrücklichen Europabewegungen, sondern auch viele Jugendvereinigungen mit unterschiedlichen religiösen, sportlichen oder kulturellen Zielsetzungen beteiligten, zu denen auch das Thema Europa zählte. Man kann auch auf die Menschenrechtsligen [s. Dokumentation unten] hinweisen, die in der Zwischenkriegszeit ihre Hochzeit erleben, etc. Deren Diskurse sind über die Personen vernetzt, es gibt allerdings keinen zentralen publizistischen Ort hierfür. Insoweit muss es offen bleiben, ob es etwas bedeutet, wenn beispielsweise Europabewegungen wie die Paneuropabewegung in den untersuchten Zeitungen im Europadiskurs kaum präsent erscheinen.
[12] Wertvoll sind die Zitate aus den Zeitungsartikeln, schon die Artikeltitel, die zahlreich in den Fußnoten genannt werden, sind aufschlussreich. Als Bildmaterial sind Karikaturen und andere Visualisierungen, die die Zeitungen druckten, in den Text eingebunden. Ein Lob außerdem der Diszipliniertheit und Konsequenz, mit der die Studie durchgeführt und geschrieben ist, dasselbe gilt in Bezug auf die Breite, mit der der Ozean der Europaforschung abgefischt wurde – sozusagen inklusive Beifang, der ebenfalls verwertet wurde (z.B. zum Thema Nationalismus).
[13] Aus der Studie lässt sich für weitere Forschungen mitnehmen, dass man sich vom Zäsurdenken in Bezug auf Europadiskurse bis 1945 verabschieden muss. In der Presse wurde alles gesagt und gedacht, und das jederzeit. Die Politik zog nicht mit, darin muss man nach wie vor eine Zäsur in der zweiten Hälfte der 1940er-Jahre sehen, als praktische politische Schritte ergriffen wurden, die allgemein als Prozess der europäischen Integration bezeichnet werden.
Dokumentation:
Florian Greiner, Wege nach Europa. Deutungen eines imaginierten Kontinents in deutschen, britischen und amerikanischen Printmedien, 1914-1945. (Medien und Gesellschaftswandel im 20. Jahrhundert, 1), Göttingen, Wallstein Verlag, 2014.
Außerdem empfehlenswert: Eugen Pfister: Europa im Bild. Imaginationen Europas in Wochenschauen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Österreich 1948–1959. (Schriften zur politischen Kommunikation, 14), Göttingen, V & R unipress 2014.
Menschenrechtsligen: Wolfgang Schmale, Christopher Treiblmayr: Human Rights Leagues and Civil Society (1898-ca. 1970s), in: Historische Mitteilungen (HMRG) 27 (2015), S. 186-208.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Über Florian Greiners Buch: Wege nach Europa 1914-1945. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/wege-nach-europa-1914-1945, Eintrag 25.07.2015 [Absatz Nr.].
Herzlichen Dank für die Besprechung, Herr Schmale, und schön, dass ich auf diesem Wege sogar die Gelegenheit zu einem Kommentar habe.
Ich denke, Punkt 11 trifft genau ins Schwarze: Mediale (Teil-)Europadiskurse sind nicht losgelöst von dem, was Sie treffend als „diskursiven Hypertext“ bezeichnen. Dies gilt gleichfalls für die (textuellen) printmedialen Debatten wie für die (visuellen) Europabilder in den Wochenschauen der 1950er Jahren – dies lernen wir aus dem schönen Buch von Eugen Pfister, auf das Sie verweisen.
Und wenn man diesen Gedanken konsequent weiterdenkt, stellt sich tatsächlich die Frage, inwiefern die Europaorganisationen und andere transnational agierende Verbände der 1920er Jahren oder auch die EGKS-Politiker und -Mitarbeiter, deren direkte Einwirkung auf die Wochenschau-Berichterstattung nach Pfister sehr gering war, nicht doch mittelbar Einfluss hatten, indem sie am Agenda-Setting teilhatten sowie Symboliken und Begrifflichkeiten mitprägten (ich denke für die Zwischenkriegszeit etwa an die „europäische Zollunion“).
Tatsächlich können auch nach strenger theoretischer Auslegung Teildiskurse nie repräsentativ sein – eine (Europa-)Diskursanalyse müsste daher eigentlich die Gesamtheit der öffentlich verhandelten Europavorstellungen erfassen und insofern ein viel breiteres Quellenspektrum aufgreifen. Aus forschungspragmatischer Sicht ist dies natürlich keine Aufgabe für eine Qualifikationsarbeit, sondern eher für ein Opus magnum, wäre aber sicherlich lohnend, weil sich dadurch zusätzliche inhaltliche, personelle und zeitliche Zusammenhänge aufzeigen ließen. Hierüber könnten, so zumindest mein Verdacht, vermeintliche Zäsuren und Divergenzen (z.B. zwischen antiliberalen und liberalen Europavorstellungen) im Europadiskurs vor und nach 1945/50 weiter relativiert werden.
Mit Blick auf mein Urteil zu den Europaorganisationen der Zwischenkriegszeit würde ich jedoch an einem Punkt festhalten wollen: Eine massenmediale Breitenwirkung der Paneuropa-Union, die von der älteren, aber zum Teil auch noch jüngeren Forschung hartnäckig postuliert wird (was mir im Wesentlichen eine Nachwirkung der Selbststilisierung Coudenhove-Kalergis zu sein scheint), lässt sich für die Zwischenkriegszeit jenseits der öffentlichkeitswirksamen Paneuropa-Kongresse schlichtweg nicht feststellen.
Mit bestem Gruß,
Florian Greiner