[1] Der 9. Mai ist der Europatag der Europäischen Union, in Erinnerung an die Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, die den Anstoß zur Gründung der späteren Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl gab. Am 8. Mai 1945, als die Kapitulation der Wehrmacht in Kraft trat, war kaum vorherzusehen, in welcher Weise eines Tages die beiden Gedenk- und Erinnerungstage, die im Kalender unmittelbar aufeinander folgen, auf einander bezogen sein würden.
[2] Überall wurde in Europa des 8. Mai 1945 gedacht. Siebzig Jahre Kriegsende bedeutet auch siebzig Jahre europäische Integration. Im Vereinigten Königreich wurde nicht nur erinnert, sondern auch gewählt (7. Mai). Die Konservativen gewannen die absolute Mehrheit und das für 2017 in Aussicht gestellte Referendum über den Verbleib des Vereinigten Königreichs in der EU darf damit als fix gelten. Wird der 8. Mai 2015, an dem dieses endgültige Wahlergebnis veröffentlicht wurde, einmal der Tag sein, an dem die Transformation der europäischen Integration in eine europäische Desintegration begann?
[3] Wir müssen uns daher fragen, was wir haben, wo wir stehen.
[4] Wo stehen wir? In Wien wurde am 8. Mai 2015 auf dem Heldenplatz, auf dem Hitler am 15. März 1938 seine Rede zum „Anschluss“ Österreichs vor einer jubelnden Menschenmenge gehalten hatte, ein „Fest der Freude“ veranstaltet, auf dem Beethovens 9. Symphonie aufgeführt wurde und Verfolgte des NS-Regimes sprachen – Freude über die Befreiung und die Freiheit, die möglich wurde. Diese Titelwahl – Fest der Freude – markiert besonders eindeutig den Wandel der Anschauungen, der sich in Mitteleuropa in den letzten dreißig Jahren seit Richard von Weizsäckers Rede zum 8. Mai im Jahre 1985 durchgesetzt hat: Tag der Befreiung, heute Tag der Freude. Deutlicher als in anderen Reden und Gedenkveranstaltungen in anderen europäischen Ländern drückt sich darin die schwierige Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte aus, die Bereitschaft zur Verantwortung, die positive Erfahrung mit einem selbstkritischen Geschichtsbild.
[5] Die Veranstaltung im Deutschen Bundestag in Berlin war hinsichtlich ihrer geschichtserzählenden Symbolik vielleicht noch eindringlicher als jene auf dem Wiener Heldenplatz. Was ehemals der Reichstag war – mit allen Konnotationen, die der Name in Bezug auf das Kaiserreich, den Ersten Weltkrieg und den Nationalsozialismus in sich trägt – wurde nach der Wiedervereinigung, repräsentiert durch die gläserne Kuppel, glaubhaft zum Ort des Parlamentes einer Demokratie. Und so wurde konsequenterweise, zur Unterstreichung der geschichtlichen Transformation, die Hauptrede einem Historiker anvertraut.
[6] In anderen Hauptstädten erfolgten vielfach Kranzniederlegungen an Orten, die während des gesamten 20. Jahrhunderts symbolische Orte des Vollzugs von Geschichte gewesen waren. Die militärische Parade in Moskau ist ein Kontrapunkt, der eine sehr viel tiefere Kluft anzeigt, als es jene der Ukrainekrise ist. Es ist nicht zu übersehen, dass das Gedenken im jeweiligen Ablauf nationalen Mustern, nicht einem europäischen Muster folgt, gleichwohl äußert sich in allem ein europäisches Narrativ, das verbindet und nicht mehr durch allzu nationale Erzählungen trennt. Russland ausgenommen, das an diesem Narrativ nicht teilnimmt. Wenn wir die Gedenkakte des 8. Mai 2015 vergleichen, sind diese ein Handlungsausdruck des europäischen Narrativs, das den Weg von einer 1945 unterstellten Wertegemeinschaft zur inkorporierten Wertegemeinschaft erzählt.
[7] Wenn 1945 die europäische Welt in Trümmern lag, kontrastierte dies mit einer kulturellen Selbstgewissheit, auf die man sich stützte und aus der der ideelle Optimismus bezogen wurde, den es brauchte, um nicht zu verzweifeln, sondern sehr zügig den Weg in die europäische Integration beschreiten zu können. Letztere ist zwar ebenso das Resultat sehr pragmatischer nationaler Interessen wie auch der USA und das Resultat internationaler Nachkriegskrisen, aber der kulturelle, historisch aufgeladene Idealismus spielte eine in den Reden und Texten der Nachkriegszeit sehr präsente Rolle. Das Wertegerüst entsprach im Wesentlichen der Menschen- und Bürgerrechtsphilosophie der Aufklärung sowie der Überzeugung vom hohen Entwicklungsstand der europäischen Kultur und Zivilisation, die – immer noch! – der Welt etwas zu geben habe. Diese idealistische Haltung war stärker als zweihundert Jahre europäischer Kriegs- und Gewaltgeschichte. Aber es handelte sich nicht um eine real nach diesen Werten gestaltete Welt.
[8] In dieser Beziehung ist Europa heute sehr viel weiter, und diese Aussage kann trotz Einschränkungen [Blogeintrag 25.4.2015: https://wolfgangschmale.eu/europa-und-die-menschenrechte-im-jahr-2015/] Geltung beanspruchen. Die politische und institutionelle Praxis ist sehr viel mehr wertegeleitet, als es in den letzten 200 Jahren vorstellbar gewesen geschweige denn angestrebt gewesen war.
[9] Das ist nicht das Einzige, was auf die Frage, wo wir stehen und was wir haben, geantwortet werden kann, aber es ist wichtig – und dauerhaft, denn es ist nicht über Nacht geworden, es ist nicht zufällig geworden, sondern Resultat beharrlicher politischer, zivilgesellschaftlicher und kommunikativ-öffentlicher Anstrengungen. Das wird nicht einfach und schnell verschwinden oder durch einzelne Ereignisse erschüttert werden können. Damit soll die Bedeutung, die politisch-institutionellen und ökonomischen Verflechtungen zukommt, die ja einen gewichtigen Teil der europäischen Integration ausmachen, nicht unterschätzt werden. Aber niemand wird behaupten können, das Vereinigte Königreich würde mit einem eventuellen Austritt aus der EU – den ich selber für unwahrscheinlich halte – diese inkorporierte Wertegemeinschaft aufgeben, die es selber glaubhafter und realer als viele andere europäische Länder in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelebt hat.
[10] Warum sollte man „Angst“ vor einer Volksabstimmung haben? Sicher wirkt das „nein“ der Franzosen und Niederländer vor rund einem Jahrzehnt zur Europäischen Verfassung, über die sie ablehnend abstimmten, nach, aber die EU ist daran nicht gescheitert. Der juristische Mehrwert einer Verfassung wäre gegenüber dem damaligen und heutigen Rechtsstand ohnehin nicht das entscheidende Argument dafür gewesen, es ging eher um ein starkes Symbol, das allerdings wohl die tatsächlichen Verhältnisse eher geschönt als verändert hätte – aber das ist Spekulation, da man nie weiß, wie Symbole auf Dauer vielleicht doch verändernd wirken. Zweifellos wurde verhindert, dass die EU ihr symbolisches Kapital vermehrte hätte. Doch hat die Zuerkennung des Friedensnobelpreises dieses symbolische Kapital erhöht? Anders ausgedrückt: Es ist besser, kritisch zu analysieren, statt emotional zu reagieren. Natürlich würde ein Austritt einiges ändern, aber wenn man der Überzeugung ist, dass Volksabstimmungen als Element direkter Demokratie zur Demokratie im 21. Jahrhundert dazugehören, wären die EU und ihre Mitgliedstaaten gut beraten, einen entsprechenden Ausgang des Referendums konstruktiv aufzufangen. Beispiele für enge Verflechtungen von Nicht-EU-Mitgliedern mit der EU gibt es einige (Schweiz, Norwegen etc.), selbst wenn zu berücksichtigen ist, dass diese niemals EU-Mitglieder gewesen waren, die Voraussetzungen also andere Vorzeichen tragen. Gleichwohl gab es Volksabstimmungen, ob man Mitglied werden sollte oder nicht. Fordern muss man, dass sich die zu erwartenden Debatten im Vereinigten Königreich wie in der EU auf der Höhe des Niveaus des Erreichten bewegen. Es sollte ein Bewusstsein von der Bedeutung gemeinsamer europäischer Narrative gegenüber nationalen Narrativen herrschen. Erst, wenn ein Austritt vor allem auf das Verlassen des gemeinsamen europäischen Narrativs zurückzuführen wäre, wäre es alarmierend.
[11] Müsste nicht in politischen Reden und Handlungen wieder mehr europäischer Idealismus ausgedrückt werden? Dem Begriff des Idealismus haftet die Unterstellung an, es ginge um zwar schöne, aber realitätsferne und -fremde Dinge. Doch stimmt dies nicht. Der europäische citoyen, der so vieles an politischen und institutionellen Versäumnissen in Bezug auf humanes und humanitäres Handeln ausgleicht, ist Idealist. Wo stehen wir, was haben wir? Zum Beispiel einen praxisnahen zivilgesellschaftlichen Idealismus. Den hatte es ebenfalls in den ersten rund fünfzehn Nachkriegsjahren gegeben, die Politik wusste sich bei der europäischen Integration davon getragen. Danach haben sich beide zunehmend entfremdet, während heute die Chance besteht, dass die zivilgesellschaftliche Grundlage der europäischen Integration wieder mehr Gewicht bekommt und Einfluss auf die Entwicklung Europas nehmen kann.
Dokumentation:
Das Foto zeigt ein 1949 entworfenes Europasymbol, das heute keine offizielle Verwendung mehr hat, aber von einzelnen Europaorganisationen weiterhin verwendet wird. Die abgebildete Flagge ist im Schloss von Duino (Nähe Triest), einem europäischen Erinnerungsort, ausgestellt. Foto: Wolfgang Schmale, August 2004.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: 8. Mai 1945 – 8. Mai 2015 – 9. Mai 2015 (Europatag): Wo stehen wir in Europa? In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/8-mai-1945-9-mai-2015-wo-stehen-wir-in-europa, Eintrag 09.05.2015 [Absatz Nr.].
Lieber Prof. Schmale,
haben Sie besten Dank für diesen kritischen und tiefschürfenden Beitrag – ich gehe im Grunde weitgehend mit Ihnen d’accord; das erinnerungshafte Doppelereignis von Befreiung vom Nazi-Joch sowie der einige Jahre später folgenden Begründung Integrationseuropas scheint heute in vielen Punkten auch von vielen EuropäerInnen als zusammengehörig empfunden und gedacht zu werden.
Eben habe ich im ORF-Fernsehen noch die ritualhafte Beschwörung, Inszenierung und auch das Theaterstück des Gedächtnisses der Erinnerungspolitik zur Befreeiung Mauthausens 1945 verfolgt; wenn ich hier von „Beschwörung“, „Inszenierung“ und „Theaterstück“ spreche, ist dies in keiner Weise pejorativ wertend zu lesen, sondern als positive Qualität eines Gedenkens, das sich – so denke ich – breit im kulturellen Gedächtnis Österreichs und Europas niedergeschlagen hat. Erinnerung braucht immer Performanz, ein Bild, eine Aufführung im weitesten Sinne, um im Leben des Gedächtnisses wirksam zu werden, wenn es darum geht, dass wir im Alltag etwas mit der Geschichte dieser Zeit „anfangen“ können. Daher ist es in meinen Augen gut, dass diese Form des Gedenkens heute – fachlich gut begleitet von Prof. Oliver Rathkolb im ORF – so anschaulich war.
Was sofort ins Auge stach und auch von Rathkolb aufgegriffen wurde, ist jene Dimension des Europäischen von 8. und 9. Mai. Was macht das Europäische hier aus, wie können wir über diesen Weg stärker noch als bisher nach Europa „vordringen“? (Und mit Europa ist hier vor allem EUropa gemeint.) Wenn ich die Gedenkanlässe und ihr Zelebrieren im heurigen Gedenkjahr betrachte und reflektiere, und sie mit der Situation vor etwa einem Jahr im Sommer 2014 vergleiche, als auch schon in betont europäischer Weise des Ausbruch des „Großen Kriegs“ gedacht wurde, kommt mir das heute wahrgenommene und erzählte noch um einen starken Grad „europäischer“ vor.
Gerade der friedliche (und auch geordnete) Zug der Delegationen aus verschiedenen Nationen EUropas am Erinnerungsort Mauthausen, zwar immer noch jeweils als Einzelnation erkennbar, aber im Grunde vor allem ein das einseitige und totale Betonen der Einzelnation relatvierende und reflektierende Gesamte und Ensemble dieser zusammenden gedenkenden Nationen, machte mich nachdenklich und betroffen; ich war nahe daran, europäisch zu fühlen, was ja im Potential EUropa und Europa noch immer auslösen zu können abgesprochen wird. Sei es einerlei, ob dies meine subjektiv-individuellen Privatwahrnehmungen waren oder auch geteilte Prozesse, der Punkt für die Historie besteht wohl darin, auch diese Vorgänge methodisch und reflexiv zu begleiten.
Und hier stellt sich für mich die entscheidende Frage, WIE wir das leisten können und OB wir das können. Ich denke, der Einstieg in die Frage stellt sich in einem Blog auf auf gute Weise: Sie titeln in ihrem Blog mit „Mein Europa“. Ich möchte als kritischen Gedankenimpuls genau diese Formulierung aufgreifen und die Gedanken etwas schweifen lassen. Sie schreiben also von „Ihrem Europa“. Dies bedeutet in Folge, dass ich – in welcher Form auch immer, ob als ForscherIn in Bücher, anderen Beiträgen, sicherlich auch im fachlichen und privaten Gespräch – „mein Europa“ beschreibe bzw. erzähle. Und – ich wähle bewusst die provokante Form – dieses „besitzanzeigende“ „mein“ in „mein Europa“ wird doch auch leicht zum Problemfall.
Bei allen Relativismen, die auch ihr gutes innehaben, GEHÖRT uns Europa, kann ich methodisch gut von „meinem Europa“ sprechen? Oder ist es vielleicht so, dass wir ZU Europa gehören und Europa ZU uns gehört – ohne, dass Europa wieder zu unserem kullturellen Alleinbesitz wird? War nicht immer schon die die Nation in modernistischem Sinne genause diese „meine Nation“, für die ich auch Schlimmes zu tun bereit war (ohne dies in irgendeiner Form unterstellen zu wollen; ich will nur herausstreichen, wie wir denken und über Europa als Identität auch sprechen). Sprich, was ich meine, vielleicht liegt ein Weg zu mehr Europa auch noch darin, die Selbstreflexivität noch zu stärken und die Vielfalt des Bezugs auf EUropa, ohne Hinweis auf WESSEN Europa es nun ist, voranzutreiben. eben, dass EUropa zu und uns und wir zu EUropa gehören? Sicherlich, gerade ein Blog, das ja auch die individuellen und methodischen Aspekte verbinden und überbrücken kann, ist hierzu ein denkbar guter Ort des Diskurses.
Ich wünsche Ihnen ein bestes Restwochenende und herzliche Grüße aus Graz,
Peter Pichler
„Wir müssen uns daher fragen, was wir haben, wo wir stehen?“
Ja, das ist eine wirklich wichtige Frage. Wobei zu fragen ist, wer mit Wir gemeint ist, wie so oft bleibt das wir wage. Nur die Deutschen oder auch die Österreicher? Das vereinnahmende wir fürchte ich, wie auch das vereinnahmende „die Deutschen sind“.
Abgesehen von dieser Kleinigkeit stelle ich fest, die alte Dame – die 7 Jahrzehnte seit der Kapitulation – hat die Zeit gut genutzt. War Deutschland (West-und Ost-D.), in Rechtsfolge mit der ganzen Welt verkracht, mit a l l e n direkten Nachbarn, abgesehen von der besonderen Situation der Eidgenossen, so steht dieses wiedervereinigte Deutschland heute, in so einem günstigen Licht, wie es niemand vorher sehen konnte.
Was würde Thomas Mann heute schreiben, er würde wohl seine Texte zu Deutschland überdenken und fest stellen, die Deutschen sind nicht spießiger, engstirniger und provinzieller als die anderen und seinen von ihm so hoch gelobten US-Amerikaner haben inzwischen, bei näherer Betrachtung auch ihre Unschuld verloren.
Deutschland kann Demokratie und sie scheint dem Land wie auf den Leib geschrieben zu sein.
Deutschland ist nicht „primus inter pares“, aber eine Größe an der auch die anderen nicht vorbei schauen können und nicht mehr vorbei schauen wollen. Der Weg der in Bonn begonnen wurde und dann in Berlin heute weitergeführt wird, hat Deutschland aus der Isolation geführt und zum integralen Teil der EU.
Die Deutschen haben ihre Chancen genutzt – das zukünftig auch am 8 Mai zu feiern, mit Beethoven finde ich nicht unangemessen, auch wenn ich weiß, dass meine Eltern den Tag immer anders in Erinnerung behalten werden – als Erlösung und als „Vernichtung“, wie es Theodor Heuss zusammen gefasst hat.