Über die Kontraproduktivität EU-europäischer Selbstverliebtheit
[1] Steht die Europäische Union für Irgendetwas? Diese Frage ist so alt wie die Europäische Integration – jener Prozess, der nahezu unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg in Gang gesetzt worden ist. Der stetige Vorwurf lautete und lautet, dass es unklar sei, wofür die EU stehe.
[2] Gelegentlich ist es hilfreich, den Blickwinkel zu ändern und sich zu fragen, was wäre, wenn die EU für etwas eindeutig Definierbares, Formulierbares stünde? Wäre das besser oder würde das nicht erst recht zu Konflikten führen?
[3] Es wäre Unsinn, sich eine Staatengemeinschaft – eben Union – konfliktfrei und ohne Zielkonflikte vorzustellen, obwohl oftmals in Medien suggeriert wird, es müsse eitel Einigkeit herrschen. Anders gesagt, es muss möglich und zulässig sein, über Ziele zu debattieren, ohne Tabus und ohne den Druck von Harmonie. Ziele sollten am Ende einer harten Debatte formuliert werden. Das erste Ziel, das sich die EU setzen müsste, wäre derzeit wohl, harte Debatten um die Sache zu führen und nicht alles von vorneherein in nationale Schubladen, mit allen daraus resultierenden und wirksamen Stereotypen und Klischees, einzuordnen.
[4] Grundsätzlich steht die EU für sehr viele Gemeinsamkeiten, allerdings werden die für den Einzelnen wichtigsten gar nicht von allen geteilt: Das freizügige Reisen, ohne an jeder Grenze seinen Pass vorzeigen zu müssen, gilt für den Schengenraum (und die Schweiz), nicht aber für die Mitgliedsländer, die diesem Abkommen nicht beigetreten sind. Die ‚gemeinsame‘ Währung wirkt sich zwar auf die ganze EU aus, aber rund ein Drittel der Länder nimmt nicht teil. Und so ließe sich die Liste fortsetzen. Alles, was nicht nur einen praktischen, sondern einen hohen symbolischen Wert hat, ist genau besehen nicht Unionsgemeinschaft.
[5] Anderes wie das Erasmus-Programm geht sogar über die EU hinaus. Die größte Leistung ist sicher die Schaffung eines Friedensraumes, aber dieser garantiert nicht allen Menschen, die in diesem Raum leben, Frieden. Eine Ausstrahlung, nicht einmal auf die unmittelbare Nachbarschaft (Ukraine, Balkan, soweit noch nicht EU-Mitglied), wird nicht erzielt. Die Art und Weise, wie mit Flüchtlingen innerhalb des EU-Friedensraumes umgegangen wird, kann nicht als Ausdruck einer Friedensphilosophie verstanden werden. Ein Land wie Ungarn baut BürgerInnenfreiheiten zurück und entfernt sich deutlich von europäischen demokratischen ‚Standards‘. Ist das Frieden? Nein. An immer mehr EU-Außengrenzen wurden und werden Zäune hochgezogen. Ist das ein Ausdruck von Frieden? Nein, nur von Hilflosigkeit.
[6] Es stellt sich die Frage, ob die bisherigen Ziele an Gemeinsamkeit noch auf der Höhe der Zeit sind oder ob nicht das, was sehr viel wichtiger wäre, verschlafen bzw. sehenden Auges vernachlässigt wird? Regelmäßig entsteht der Eindruck, als sei in der EU ein Großteil der Energie darauf zu verwenden, Kompromisse zwischen den sich sehr national gerierenden Mitgliedsstaaten zu finden. Historisch war das einmal ein enormer Fortschritt, nationale Ziele offen zu formulieren und sich am europäischen Tisch zusammenzusetzen, um das Gemeinsame in all dem herauszufinden und daraus dann ein gemeinsames Handeln entstehen zu lassen. Aber die europäische Integration befindet sich im siebten Jahrzehnt und kann nicht mehr bei einem historisch zweifellos essentiellen Ziel stehenbleiben. Das ist 2015 eindeutig zu wenig.
[7] Gängige Überlegungen konzentrieren sich auf Vertiefungen der Union nach Innen oder auf das Gegenteil, auf die Reduzierung der Bereiche, in denen laut Verträgen immer mehr Gemeinsamkeit angestrebt werden soll. Die Europäische Union ist also sehr mit sich selber beschäftigt – zu sehr, denn die Welt in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft befindet sich in Auflösung.
[8] Die Außenbeauftragte der EU war sehr sichtbar bei den Atomverhandlungen mit dem Iran; niemand würde in Abrede stellen, dass das wichtig war und ist. Aber im Ukrainekonflikt? Sie ist nicht abwesend, aber die EU ist kein ernstzunehmender Akteur, denn sie bringt nichts zustande, mag sie sich auch im Stillen und im Hintergrund bemühen.
[9] Der ‚EU-Blick‘ nach Südosten ist erschreckend selektiv. Es mag sein, dass in den Außenministerien Zusammenhänge, die in den Medien nicht diskutiert werden, bekannt sind und gesehen werden, aber es bedarf öffentlicher Debatten um die Ziele der EU. Es geht nicht nur darum, dass der Blick auf Griechenland nicht ausschließlich im weitesten Wortsinn ‚ökonomisch‘ sein darf, Griechenland liegt in einer Großregion, in der sehr unterschiedliche Interessengruppen zum Teil gewaltsam agieren. Die Türkei ist dabei ein politischer Akteur sowohl in den südosteuropäischen Raum hinein wie auch im Nahen Osten – und im Innern wird die türkische Demokratie demontiert.
[10] Der gesamte Mittelmeerraum, historisch so eng mit Europa verbunden, erfährt einen Umbruch, in dem es wenig Stabilität gibt, schon gar nicht demokratische Stabilität. Die Mittelmeeranrainerstaaten sind Vermittlungs- und Migrationszonen für die gesamte nördliche Hälfte Afrikas, die damit zur Nachbarschaft der EU gehört.
[11] Die eigentliche Herausforderung der EU liegt in der Entwicklung in diesen Räumen – und angesichts dessen erscheint die Mühseligkeit, mit der nach ‚Lösungen‘ für Griechenland gesucht wurde, als Ausdruck von Blindheit gegenüber der Bedeutung, die die Stabilität Griechenlands hat – oder hätte, muss man wohl sagen. Lässt sich diese in Milliarden aufrechnen? Das große Thema der Solidarität wurde allzu sehr verkürzt. Aber übt denn die EU mit der ungarischen Zivilgesellschaft, die die Demokratie nicht immer mehr durchlöchern lassen möchte, Solidarität? Hat das vielgenutzte Wort von der Solidarität überhaupt einen konkreten Inhalt? Wie glaubwürdig waren die ‚Solidaritäts’bekundungen des französischen Präsidenten und des italienischen Regierungschefs in Bezug auf Griechenland angesichts der jeweiligen eigenen Schuldenlast und Höhe der Haftungen für die bisherigen Kreditpakete an Griechenland? Bedeutet Solidarität nicht, im Ernstfall für einander Opfer bringen, auch wenn vorher die einen vielleicht weniger Fehler und die anderen vielleicht mehr Fehler gemacht haben? EU als Solidargemeinschaft wäre zweifellos ein Ziel, aber das ist nicht zum Nulltarif zu haben und verlangt Opfer füreinander. Es verlangt Einsicht in den Umstand, dass die europäische Vielfalt eben nicht nur eine kulturelle ist, sondern auch eine soziale, ökonomische, politische, religiöse.
[12] Die Situation ist bedenklich: Die EU hat kaum eine Identität, aus der heraus sie als wirkungsvoller politischer Akteur handeln könnte. Zum Teil hat das damit zu tun, dass die EU eine durch die Verträge, die die Nationalstaaten gemacht haben, begrenzte Unternehmung ist, die sich andauernd, sozusagen ohne eigenes Verschulden, an dem Umstand stößt, dass die politische Situation keineswegs nur in ihrer oben skizzierten näheren Nachbarschaft mehr und weitreichenderes Handeln verlangt, als ihr zugestanden wird. Diese willentlich durch die Mitgliedsstaaten herbeigeführte aktuelle Aporie ist nur dann auflösbar, wenn die gemeinsamen Zielsetzungen fortentwickelt werden.
[13] Allerdings ist die in den Kulturwissenschaften längst erwachsen gewordene Erkenntnis von der ‚Provinzialisierung Europas‘ nicht bis in diesen EU-Diskussionsraum vorgedrungen, sodass eine zeitgemäße Einordnung der anstehenden Probleme nicht erfolgt. Europa (nicht nur die EU) ist nur eine Weltregion, nicht mehr, nicht weniger. Die Renaissance und Restauration des Nationalen in Europa ist eine falsche politische Strategie.
[14] Als operativer Maßstab der ‚Zusammen‘arbeit in der EU/Europa sind im Grunde immer noch und wohl fatalerweise weitgehend nationale (konstruierte) Geschichtsräume inklusive ihrer seinerzeit kolonialen Erweiterungen relevant. Und natürlich spielt der Zweite Weltkrieg unverändert eine zentrale Rolle in den aufeinander gerichteten Blicken. Das wirkt sich in dem Umstand aus, dass die in der EU organisierten Länder noch immer keine Grundlage für eine gemeinsame Außenpolitik gefunden haben, die den Namen Politik verdient, so als würde ein anderer Umgang mit Geschichte gleichbedeutend mit Geschichtsvergessenheit sein müssen. Was – zum Beispiel – in jenem Teil der nördlichen Hälfte Afrikas passiert, der zu Kolonialzeiten französisch-Westafrika bildete, muss im Jahr 2015 für ein baltisches Mitgliedsland genauso Bedeutung besitzen wie für Frankreich. Eine aus der Geschichte der letzten 200 Jahre ableitbare Aufgabenteilung scheint eine ebenso falsche wie aber meistens unausgesprochen doch wirksame Maxime vieler Regierungen bzw. der politischen Parteien, die diese Regierungen bilden, zu sein. Dahinter steckt eine Selbstverliebtheit in bestimmte Ausprägungen europäischer Geschichte, die sich kontraproduktiv auswirkt.
[15] Die Mitgliedsstaaten der EU sind der aktuellen Aufgabenstellung als individuelle Akteure in ihrem historischen Nachbarschaftsumfeld nicht gewachsen. Infolgedessen stimmt zusätzlich der Satz, dass auch die EU dem nicht gewachsen ist.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Über die Kontraproduktivität EU-europäischer Selbstverliebtheit. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/ueber-die-kontraproduktivitaet-eu-europaeischer-selbstverliebtheit, Eintrag 12.08.2015 [Absatz Nr.].