Das Europa der HistorikerInnen
[1] Als Historiker/in stellt man sich die Frage, ab wann eigentlich „Europa“ Thema der Historiografie geworden ist. Versteht man unter „Historiografie“ die wissenschaftliche Geschichtsschreibung, lohnt es sich kaum, vor der Mitte des 18. Jahrhunderts zu suchen. Fasst man den Begriff etwas weiter und hebt dabei vor allem auf die Fähigkeit zum reflexiven Umgang mit Geschichte ab, landet man ungefähr in der Mitte des 16. Jahrhunderts.
[2] Ein italienischer Autor lässt aufgrund eines Buchtitels aufmerken: Pierfrancesco Giambullari (1495-1555) verfasste 1546-1555 eine „Istoria d’Europa“, die 1566 erstmals in Venedig gedruckt wurde. Sie handelt vom 9. und 10. Jahrhundert, gewinnt ihre Betrachtungsschwerpunkte aber aus der Gegenwart des Autors. Es zeichnet sich bereits die Ziehung einer Trennlinie zwischen den „Anderen“ dort und dem zivilisierten Europa hier ab.
[3] In der Tat werden in solchen und zahlreichen anderen Schriften, die sich mit Geschichte und Politik und Kultur befassen, erste Darstellungsmuster entwickelt, die sich im Grundsatz vor allem auf empirisches Material stützen und dieses zugleich in Bezug auf seine unterstellte Bedeutung in einen Kanon europäischer Geschichte einbringen. Dieser Kanon wird in der Geschichtsschreibung der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts stark ausgeweitet.
[4] Nach wie vor sind aber Geschichtsdarstellungen, die sich schlicht „Geschichte Europas“ oder ähnlich betiteln, rar, denn Leitbegriffe der Aufklärungsepoche sind eher „Menschheitsgeschichte“ oder „Universalgeschichte“ oder die „Geschichte des Fortschritts des menschlichen Geistes“. Gleichwohl enthalten solche Bücher in der Regel das, was heute kurz und bündig Geschichte Europas genannt wird. Diese wird in einen weltgeschichtlichen Rahmen gestellt, in dem meistens hierarchisch-asymmetrisch Europa die höchste Stufe einer zivilisatorischen Entwicklung darstellt, aber diese Hierarchisierung war nicht zwingend; ausgewogenere Kultur- und Zivilisationsvergleiche waren möglich und zulässig.
[5] Nimmt man es mit den Wörtern ganz genau, ist das regelmäßige Betiteln von Geschichtsdarstellungen zu Europa als „Geschichte Europas“ (oder ähnlich) eher eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts, ab den 1940er-Jahren, und zeigt am ehesten eine zunehmende Verengung des Blicks an. Diese Verengung folgt den politischen Zeitläuften; je kleiner und unbedeutender „Europa“ in der Welt wurde, um so eindeutiger wurde es Gegenstand einer eigenen Historiografie, die sich am besten als „Europahistoriografie“ apostrophieren lässt.
[6] Diese Europahistoriografie setzt in den späten 1930er-Jahren an, die Produktion steigert sich nach dem Ende des Kriegs parallel zur ersten Phase der europäischen Integration. Der Umbruch von 1989 und die kommunikationsgeschichtlich interessante Vorbereitung des Vertrages von Maastricht, der den Namen „Europäische Union“ vertraglich festlegte, hatte eine ähnlich befruchtende Wirkung.
[7] Innerhalb dieser Entwicklung hat sich im Grunde eine eigene Subdisziplin herausgebildet, die sich dezidiert mit der Geschichte Europas im 20. Jahrhundert bzw. nach 1945 befasst. In diesem Zusammenhang scheint sich „Europa“ – im Gegensatz zu anderen Zusammenhängen – keineswegs einer klaren Definition zu entziehen. Andere Zusammenhänge erfordern multiperspektivische Zugänge, wie sie etwa Peter Pichler in Bezug auf die europäische Integration als „episodisches historiographisches Erzählen“ charakterisiert hat.
[8] Zieht man die allgemeine aktuelle Tendenz in der Geschichtswissenschaft in Betracht, dass zunehmend Individuen als Akteure, denen Geschichtsmächtigkeit eignet, anstelle der großen Kollektive (Nationen usw.) erforscht werden, zerlegt sich der Begriff „Europa“ noch mehr, denn jetzt gewinnt auch der subjektive Europa-Begriff von Menschen aus unterschiedlichen sozialen Schichten (das heißt nicht nur aus den Eliten) an Bedeutung und Gewicht. Dieser Zugang zu Geschichte beweist gerade auch hinsichtlich der letzten 25 Jahre seine Attraktivität.
[9] Dessen ungeachtet bleibt der Wunsch, „Europa“ seit 1989 zu „verstehen“, erhalten. Makrogeschichtliche Analysen und Erklärungen sind nicht obsolet, gerade wenn es darum geht, das Jahr 2015 zu verstehen, in dem sich viele fragen, was mit „den EuropäerInnen“ los ist.
[10] Philipp Ther gibt mit seiner „Geschichte des neoliberalen Europa“, die im Haupttitel „Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent“ heißt und im März auf der Leipziger Buchmesse den Sachbuchpreis erhielt, makrohistorische Erklärungen, die im Übrigen durch einen guten Blick für die Detailsicht von Individuen unterfüttert werden.
[11] Ther führt auf der Grundlage des Interpretaments des Neoliberalismus die Geschichte von Ost- und Westeuropa zusammen. Das ist deshalb hervorzuheben, weil dies bis 1989 selten geschah, und seit 1989 sich als äußerst mühsames Unterfangen herausstellte. Die universitäre Europahistoriografie litt unter der Institutionalisierung von osteuropäischer Geschichte in Fachinstituten sowie westeuropäischer Geschichte in wiederum anderen Fachinstituten. Die angloamerikanische „Western Civilization“ leistete dem zusätzlich Vorschub. Dies zementierte auch den Umstand, dass man entweder westeuropäische oder slawische Sprachen bzw. Ungarisch oder auch Rumänisch lernte und so die Rezeption von Forschung zusätzlichen Hindernissen ausgesetzt wurde.
[12] Thers Buch signalisiert das Ende dieser Teilung nicht nur in der Europahistoriografie, sondern auch in Bezug auf die Grundhaltung, wenn er die westeuropäische „Kotransformation“ anspricht. Ökonomische und andere Faktoren spiegeln faktische Unterschiede zwischen Ost und West wider, aber das Interpretament der Kotransformation ermöglicht es, die Zusammenhänge und gegenseitigen Abhängigkeiten besser freizulegen. Es könnte überhaupt ein nützliches, zum Beispiel auch kulturgeschichtliches Interpretament sein, um die implizit oft doch noch starre mental map eines zonalen Europas (Ost, West, Nord, Süd) aufzulockern.
[13] Dass man zu wenig über die europäischen Nachbarn wisse, diese HistorikerInnen sehr vertraute Erkenntnis, hat seit August/September die Medien erreicht und wird damit öffentlich. Eine Verbreiterung dieses Wissens täte Not, ja. Es täte jedoch auch Not, ein paar Voraussetzungen dafür anzusprechen: Werden die näheren oder ferneren Nachbarn von vorneherein als die „Anderen“ betrachtet, über die man jetzt doch einmal mehr wissen müsste, um zu verstehen, warum die Einen einen Zaun bauen, die Andern genau das Gegenteil tun und die Dritten sich weigern, Flüchtlingsquoten zuzustimmen, dann kann man sich die Übung sparen.
[14] Nur ein selbstreflexiver Zugang würde Sinn ergeben. Ohne dies auf den zitierten Zugang über das Interpretament von Kotransformation, das Philipp Ther unter anderem einsetzt, zu verkürzen, eröffnet dies den einzuschlagenden Weg: Die Hierarchien im Blick und unterstellten kulturellen Asymmetrien müssen überwunden werden. Es handelt sich nicht um eine „Sisyphus-Arbeit“, aber um eine erhebliche Anstrengung, die den EuropahistorikerInnen nur allzu bewusst ist.
Dokumentation:
Der Titel des Blogeintrags lehnt sich an: René Girault: Das Europa der Historiker, in: Rainer Hudemann; Hartmut Kaelble; Klaus Schwabe (Hrsg.): Europa im Blick der Historiker, München: Oldenbourg Verlag, 1995, S. 55-90.
zu Pierfrancesco Giambullari: Volker Reinhardt: Pierfrancesco Giambullari (1495-1555), in: Heinz Duchhardt; Małgorzata Morawiec; Wolfgang Schmale; Winfried Schulze (Hrsg.): Europa-Historiker. Ein biographisches Handbuch. Band 1, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2006, S. 1-28.
Pichler, Peter (2011): Acht Geschichten über die Integrationsgeschichte. Innsbruck.
Ther, Philipp (2014): Die neue Ordnung auf dem alten Kontinent. Eine Geschichte des neoliberalen Europa. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Das Europa der HistorikerInnen. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/das-europa-der-historiker-innen, Eintrag 13.10.2015 [Absatz Nr.].