[1] Der EU-Gipfel von Bratislava ist durchgeführt, viele Gruppentreffen waren ihm vorausgegangen. Die EU-27 wollen bei konkreten politischen Projekten wie Schutz der EU-Außengrenzen, Verbesserung der Sicherheitslage durch bessere Zusammenarbeit und Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit handfeste Erfolge erzielen, die für die EU-BürgerInnen spürbar sind. Soweit das Prinzip Hoffnung.
[2] Bei den Treffen im Vorfeld wurden bewusste Bezüge zur Frühgeschichte der europäischen Integration hergestellt. Der italienische Regierungschef Renzi stellte Altiero Spinelli und das Manifest von Ventotene in den Vordergrund, als er Bundeskanzlerin Merkel und Präsident François Hollande zu Gast hatte.
[3] Dieses Manifest aus dem Jahr 1941, das von drei inhaftierten italienischen Widerstandskämpfern gegen Mussolini, nämlich Altiero Spinelli, Ernesto Rossi und Eugenio Colorni verfasst wurde, steht symbolisch für hunderte ähnlicher Manifeste und Schriften, die im europäischen Widerstand gegen Faschismus, Nationalsozialismus und weitere Formen der Gewaltherrschaft entstanden sind. Walter Lipgens hat diese Texte akribisch gesammelt und publiziert. Sie zeigen, wie weit die Überlegungen zu europäischer Zusammenarbeit und Einheit, ja zu europäischer Bundesstaatlichkeit, im Widerstand im Zweiten Weltkrieg vorangekommen waren. Bis heute bleibt das, was die EU darstellt – nach dem Willen ihrer Mitglieder – weit hinter dem zurück, was vor 70 und mehr Jahren gedacht und für praxistauglich gehalten worden war.
[4] Andere erinnern sich zur Zeit wieder an die Europaideen eines Winston Churchill. Churchill setzte sich für die „Vereinigten Staaten von Europa“ (VSE) ein und erzielte zwischen 1946 und 1950 damit eine geradezu globale publizistische Aufmerksamkeit. Der nicht zuletzt durch seine Initiativen gegründete Europarat entspricht in etwa dem, was Churchill unter VSE verstand, es hatte wenig mit einem europäischen Bundesstaat zu tun und sollte die Sonderstellung des Vereinigten Königreichs mit dem Commonwealth nicht antasten.
[5] Diese Rückbezüge auf die 1940er-Jahre sind lehrreich, denn man lernt, dass sich viele Menschen im Widerstand, oft unter Einsatz ihres Lebens, für europäische Einheit einsetzten. Viele andere, besonders nach Kriegsende, schlossen sich diesen Überzeugungen an und engagierten sich in den verschiedenen Europabewegungen. Ihre Motivation war ebenso rational wie emotional, wer die Reden, Schriften und Briefe dieser ersten Jahre nach dem Krieg liest, weiß sofort: Herz und Gefühl waren bei Europa wesentlich dabei, Europa hatte eine Seele – trotz oder womöglich gerade wegen des Kriegs.
[6] Das EU-Europa des Jahres 2016 ist davon Welten entfernt. Emotionen gibt es zuhauf, sie sind aber vielfach negativ und destruktiv, sie richten sich gegen „Europa“ und hängen mit Abschottungsreaktionen zusammen, die sowohl verbal wie physisch erschreckend gewaltgeladen sind. Ältere Menschen scheuen sich nicht, Angst vor einem neuerlichen Krieg zu äußern.
[7] Dass sich die Staaten Europas wieder bekriegen werden, ist gleichwohl unwahrscheinlich, aber wenn noch mehr rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien an die Macht gewählt werden, wird die EU zerfallen und das Zerreißen der Millionen von Verbindungen und Fäden, die heute Europa ausmachen, wird extrem schmerzhaft werden. Ein Brexit wäre im Vergleich zu dem, was da droht, ein Honigschlecken. Es wird die Arbeitslosigkeit rapide ansteigen lassen, aus Armutsgefährdung wird tatsächliche Armut werden, es wird die Gesellschaften spalten und zunehmend, zusätzlich zur verbalen Gewalt, physische Gewalt in die Öffentlichkeit tragen. Terrorattacken werden zunehmen, weil Minderheiten stärker repressiv behandelt wenn nicht verfolgt werden, zugleich wird die Terror-Bekämpfung oder Verhinderung empfindlich schwieriger werden, weil die europäische Zusammenarbeit von den Nationalisten weder gewollt noch gekonnt wird. An jeder Grenze wird man wieder kontrolliert werden, der Euro als gemeinsame Währung wird sich nicht halten lassen, weil die Volkswirtschaften im Zuge der nationalen Abschottung auseinandertriften werden, aus Demokratien werden autoritäre Systeme.
[8] Wie man dazu kommt, zeigen Putin, Orbán und Erdoǧan und Duterte auf den Philippinen, wie man sich das wünscht, zeigen Marine Le Pen, der österreichische Präsidentschaftskandidat der FPÖ, Norbert Hofer, der eine Diskussion darüber, dass Schwerstbehinderte eventuell nicht mehr wählen dürfen sollen, lanciert (diese Art von Angriff auf die Demokratie beginnt immer bei den schwächsten Minderheiten), die polnische Regierung, die zwischen Wunsch und Tat steht, in Deutschland die AfD (nur die AfD?), in den Niederlanden Geert Wilders usw. Sollte in den USA Donald Trump gewählt werden, droht ein Dammbruch auch in Europa.
[9] Welche Krisen-Diagnose ist denn eigentlich die zutreffende? Haben wir es tatsächlich mit einer Krise der EU zu tun oder steckt die Krise ganz woanders? Die EU ist sehr vieles, was gut oder sehr gut funktioniert und von der Finanz-, Flüchtlings- und Sicherheitskrise nicht direkt betroffen ist. Was lautlos funktioniert, ist die institutionalisierte europäische Solidarität, als die man die aus dem EU-Budget stammenden vielfältigen Förderungen, die generell auf dem Projektwege vergeben werden, bezeichnen kann. Die Austausch- und Mobilitätsprogramme funktionieren sehr gut, die Wettbewerbsförderung und -kontrolle erbringt klare Resultate, insgesamt profitieren die EU-Länder von einer historisch einmaligen Qualität an Rechtssicherheit, zu der die gemeinsamen europäischen Institutionen wesentlich beitragen. Der Binnenmarkt mit seinen vier Hauptfreiheiten ist von der Wirtschaft sehr gut angenommen worden – und nicht minder gut von den BürgerInnen. Genau an letzterem nehmen die rechten Parteien und PolitikerInnen Anstoß.
[10] Es sollte nicht vorschnell von einer EU-Krise gesprochen werden. Richtig ist, dass die Abstimmung in zentralen Fragen wie der Sicherung der EU-Außengrenze und der Aufnahme von Flüchtlingen schlecht funktioniert und jeder eher für sich handelt als gemeinsam. Dahinter stehen ideologische Gegensätze, die jedoch nicht EU-spezifisch sind, sondern sich weltweit beobachten lassen. Der ideologische Gegensatz, der auch die Gesellschaften der EU-Mitgliedsländer zunehmend kennzeichnet, besteht zwischen freier, demokratischer und offener Gesellschaft, die auf Diversität, Gender Balance und Toleranz gegenüber vielfältigen Identitäten aufgebaut ist, auf der einen Seite, und einem nationalistischen, autoritären Konzept von Gesellschaft, das von einer ethnisch und religiös und national-kulturell essentialisierten Gesellschaft ausgeht, die im Kern durch als „natürlich“ behaupteten Geschlechtsidentitäten regiert wird, auf der anderen Seite.
[11] Die Krise besteht in erster Linie darin, dass die politischen und gesellschaftlichen Kräfte, die große Teile der Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg rückgängig machen wollen, seit vielen Jahren immer stärker geworden sind. Durch die Migration, in der Flüchtlinge nur eine Variante aber nicht die gesamte Migration darstellen, hat sich ein konfrontatives Dreieck gebildet. Die freie europäische Nachkriegsgesellschaft kann mit sozialen Gruppen, die wenig oder nicht ihren Prinzipien entsprechen, wenig bis gar nichts anfangen, während die Rechtspopulisten diese Menschen, bei denen eine nicht-christliche religiöse Identität und der Familienverbund über Kontinentgrenzen hinweg eine entscheidende Rolle spielen, zum Feindbild machen und jeden Fehltritt gleich mit religiösem Extremismus und Terrorismus in Verbindung setzen.
[12] Hier macht der oben erwähnte Blick zurück durchaus Sinn, denn der erste Punkt in einem Text wie dem Manifest von Ventotene lautet „Die Gesellschaftskrise der Gegenwart“. Die haben wir auch, und mit der müssen wir uns auseinandersetzen.
[13] Die EU im Sinne von Europaidee ist in der Krise. Aber nicht, weil diese fehlen würde. Der EU-Vertrag von Lissabon enthält genug an Europaidee (Demokratie, demokratische Werte, Rechte, Freiheiten, europäische Solidarität, Friede und vieles mehr). Die Krise rührt daher, dass die Kernbestandteile der Europaidee, wie sie im EU-Vertrag gemeinsam verschriftlicht wurde, nicht konsequent verteidigt werden. Zu groß ist der ‚Respekt‘ vor den Nationalismen der einzelnen Mitgliedsstaaten und zu gering die Bereitschaft, Verstöße gegen Grund-, Menschen- und Freiheitsrechte laut beim Namen zu nennen.
[14] Hier fehlt eine europäische Öffentlichkeit, die diese Themen kontrovers verhandeln könnte und dies tun würde. Solange die Institutionen der EU so konzipiert sind, dass sie die Entstehung einer europäischen Öffentlichkeit und einer stärkeren Mitbestimmung der EU-BürgerInnen vermeiden, wird sich daran nichts ändern. Eine institutionelle Reform der EU wird hier ansetzen müssen – sie wird es müssen, sobald die in Bratislava erörterten Projekte nächstes Jahr in Rom, wenn 60 Jahre Römische Verträge gefeiert werden, an den Start gehen können und vielleicht wieder mehr positive Dynamik hervorbringen.
[15] Der französische Präsident François Hollande hat in einem aktuellen Gespräch, das Pierre Nora und Marcel Gauchet mit ihm für die Zeitschrift Le Débat führten, die Idee der Brüderlichkeit hervorgehoben, die ein Gefühl des Zusammenseins als Brüder im Schicksal besage. Brüderlichkeit (fraternité) ist im Französischen seit der Französischen Revolution bedeutungsgeschichtlich eng mit dem Begriff Solidarität (solidarité) verbunden. Die bürgerlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts, die sich bereits für „Vereinigte Staaten von Europa“ einsetzten, appellierten an die Brüderlichkeit der Nationen und Nationalstaaten. Wenn wenigstens das im Jahre 2016 eine gesicherte Werthaltung wäre!
Dokumentation:
Auszug aus dem Gespräch zwischen François Hollande, Pierre Nora und Marcel Gauchet in: Le Monde, 16. September 2016, S. 20-21. Original und vollständiges Gespräch: Le Débat, Nr. 191, September-Oktober 2016.
Weiterführende Lektüre: Claus Leggewie
Gastkommentar Wolfgang Schmale in Wiener Zeitung 23.9.2016 zu „Die Krise der Europa-Idee“.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: EU-Gipfel von Bratislava: Welche Krisen-Diagnose ist denn eigentlich die zutreffende?. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/bratislava, Eintrag 18.09.2016 [Absatz Nr.].
Ich habe diese Seite nochmal nach der US-Wahl gelesen. Diese Essay leuchtet nachher um so mehr ein.
Die Wahl – und jetzt die Unfähigkeit, sich als „echter“ Präsident zu geben, steigert die Besorgnis, weil „Breitband“ und „Alt-Right“ Auftrieb erhalten.