[1] Die EU-Kommission unter Jean-Claude Juncker hat ein Weißbuch zur Zukunft der EU vorgelegt. Darin werden Errungenschaften, Herausforderungen und mögliche Handlungsszenarien vorgestellt. Es gibt bezeichnende Lücken, manches ist ohne Not verzerrt.
[2] Die Einleitung gibt einen kurzen historischen Rückblick. Angeknüpft wird an das Manifest von Ventotene als Anfangsvision eines einigen Europas, die gegen das faschistische Europa entstand. Dies ist gleich die erste unnötige Verzerrung. Weder soll das Manifest unterschätzt noch seinen Autoren Altiero Spinelli und Ernesto Rossi Unrecht getan werden, aber es gab im europäischen Widerstand eine Fülle von Manifesten und Schriften, auf die sich der Nachkriegsidealismus stützen konnte. Außerdem begannen solche Visionen in der Zwischenkriegszeit, die wiederum auf Europapläne zurückgriff, die im Ersten Weltkrieg entstanden und zum Teil sogar schon vor 1900 skizziert worden waren. Richtiger wäre es, sich breiter auf das von einer demokratischen Zivilgesellschaft getragene Europaprojekt zu beziehen.
[3] Dies wird deshalb gleich hier zu Beginn kritisch angemerkt, weil in dem Weißbuch nur marginal an die Rolle der Zivilgesellschaft für Europa gedacht wird.
[4] Die Epoche der Europäischen Union (=abgekürzte Ausdrucksweise für rund 70 Jahre europäische Integration) wird als Friedensepoche dargestellt. Dazu gibt es ein Schaubild mit einer Zeitleiste seit dem 16. Jahrhundert. Blau steht für Friedensjahre, die letzten 70 sind einfach blau. Auch das beinhaltet unnötig eine Verzerrung. Ausgeblendet wird z.B. der Algerienkrieg – Frankreich war EGKS/EWG-Mitglied. Ausgeblendet wird der Falklandkrieg – das Vereinigte Königreich war EG-Mitglied.
[5] Richtig ist, dass die Mitgliedsstaaten untereinander keinen Krieg führten, aber gemessen an der Gesamtzahl europäischer Staaten bildeten sie eine Minderheit. Die Niederschlagung der Aufstände 1953 in der DDR, 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei hatte kriegsähnliche Bedingungen zur Folge. In Polen galt 1981-83 Kriegsrecht; als Jugoslawien zerfiel, gab es mehrere Kriege 1991-1995 sowie den Kosovokrieg 1999. Usw.
[6] Warum die Schönfärberei? Was bringt sie ein außer dem Vorwurf, einen umfassenden Frieden auf das Konto der EU zu buchen, den es nicht gegeben hat? Damit wird nicht gesagt, dass das die Verantwortung der EU sei, aber die Aufgabe, Frieden zu schaffen, ist geblieben: Serbien-Kosovo, Mazedonien, insbesondere Ukraine – die Aufgabe, Frieden zu schaffen, besteht fort. Zypern – ist der Zustand Frieden?
[7] Dass auf anderen Feldern viel erreicht wurde, bleibt dennoch Verdienst der EU. Zurecht wird das im Weißbuch aufgelistet, zurecht wird damit daran erinnert, wieviel aufgegeben würde, würde man sich von der EU abwenden.
[8] Der Hauptteil besteht aus den fünf Szenarien für die Zukunft der EU. Szenario 1 schreibt die derzeitigen Verfahrensweisen fort; Szenario 2 beinhaltet einen Rückbau der EU auf die Veranstaltung des Binnenmarktes, Szenario 3 beschreibt eine EU der zwei oder mehr Geschwindigkeiten, Szenario 4 mischt 2 und 3: alle nehmen in bestimmten Bereichen gemeinsam mehr Zusammenarbeitsgeschwindigkeit auf, alle reduzieren in bestimmten Bereichen die EU-, sprich Gemeinschaftskompetenz. Szenario 5 stellt den Gegensatz zu 2 dar und bedeutet eine substanzielle Vertiefung der Union durch alle.
[9] Vier von fünf Szenarien setzen auf gemeinsames Handeln aller, nur Szenario 3 sieht mehr Union bei denen, die das wollen, vor, und status quo bei den anderen, die das wollen. Szenario 3 funktioniert aber nur, wenn die ‚langsameren‘ tatsächlich irgendwann nachfolgen.
[10] Ein Leitmotiv der Überlegungen ist, dass die EU sich wieder in die Lage versetzen muss, tatsächlich ‚zu liefern‘ – was derzeit oft nicht der Fall ist. Das liegt jedoch nicht an architektonischen Mängeln der EU, sondern an den mangelnden Gemeinsamkeiten der Mitgliedsländer.
[11] Die in praktisch jedem Szenario angesprochenen Aufgaben wie Verteidigung, Sicherheit, digitale Wirtschaft, Umweltschutz und alternative Energien, Migration und Flucht, sind ohne Zweifel zentral. Was aber völlig fehlt, ist der Bereich der Demokratieentwicklung in der EU und der Stärkung der politischen Rechte der EU-BürgerInnen.
[12] Es ist notwendig, daran zu erinnern, dass „europäische Einigung“ zuerst ein zivilgesellschaftliches Anliegen gewesen ist, das die institutionelle Integration nach 1945 bis in die 1960er-Jahre getragen hat. Im Moment ist ein Wiederaufleben dieses zivilgesellschaftlichen Engagements für und in der Europaidee zu erleben. Dies muss in den Szenarien aufgegriffen werden, weil es Chancen bietet.
[13] Was dem Weißbuch – und nicht nur diesem – fehlt, ist, dass die EU etwas von den BürgerInnen ist. Der zentrale Gedanke beschränkt sich eigentlich darauf, dass die EU etwas für die BürgerInnen ist. Das ist wichtig und soll so sein, aber die EU muss mehr werden, etwas von den und durch die BürgerInnen.
Dokumentation:
Download der deutschen Version: http://europa.eu/rapid/press-release_IP-17-385_de.htm; Dateiname: Weissbuch zur Zukunft Europas.pdf.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Das EU-Weißbuch 2017. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/eu-weissbuch-2017, Eintrag 02.03.2017 [Absatz Nr.].