Die Rede zur Lage der Union wird vom Kommissionspräsidenten vor dem Europäischen Parlament gehalten. Das Parlament diskutiert die Rede im Anschluss. Über die Parlamenmtsdebatte haben die Medien dieses Jahr wenig bis gar nichts berichtet, während Statements von PolitikerInnen schnell eingesammelt wurden. Jean-Claude Juncker hebt die Rolle des Parlaments in seiner Rede mehrfach hervor und zielt auf dessen Stärkung. Gleichwohl fehlten viele EU-Abgeordnete, die Reihen waren nicht sehr dicht besetzt.
Juncker benutzt für seine Rede außer Englisch auch Deutsch und Französisch. Zum einen ist dies europäisch-beispielhaft, zum anderen wird so sicher gestellt, dass bestimmte Redeteile speziell von den deutsch- bzw. französischsprachigen Medien wörtlich aufgegriffen und z.B. in den Nachrichten eingespielt werden. Die Sätze über den Euro wurden auf Deutsch gesprochen.
Juncker bringt eine persönliche Note in die Rede, indem er auf die inzwischen Jahrzehnte verweist, in denen er, in welcher politischen Funktion auch immer, für das europäische Projekt gekämpft hat. Die EU, ihre Wohlergehen und ihre Krisen, sind sein Leben.
Es fällt auf, dass er sich mit dem Thema des Brexit nur höchst marginal befasst, kaum inhaltlich, sondern eher emotional. Schon jetzt spricht er von den 27 (statt derzeit noch 28) Mitgliedern, er regt einen EU-Gipfel der 27 für den 30. März 2019, den Tag nach dem Brexit, der auf den 29.3.2019 festgelegt wurde. Die Art, wie er das Thema Brexit behandelt bzw. ausdrücklich nicht behandelt, unterstreicht, dass das Vereinigte Königreich aus dem Spiel ist. Und im Grunde lässt das, was die Witzfiguren auf der englischen Regierungsbank bisher seit dem Brexit-Votum vorgelegt bzw. eben nicht vorgelegt haben, auch keine andere Wahl.
Entgegen manchen beinahe empörten politischen Statements etwa zur Ausweitung der Euro-Zone ist festzuhalten, dass sich der Präsident der EU-Kommission, die regelmäßig (und zutreffend) als „Hüterin der EU-Verträge“ tituliert wird – genau an diese Aufgabe hält. Juncker hat völlig Recht, wenn er darauf hinweist, dass mit Ausnahme von 2 Mitgliedern (Dänemark und UK) alle anderen bei Erfüllung der Voraussetzungen den Euro einführen müssen. Es ist Aufgabe der Kommission und der Mitgliedsländer darauf hinzuarbeiten, um den geschlossenen Vertrag zu erfüllen.
Die Komplettierung des Schengenraums, die Juncker empfiehlt, ist zwar kein Vertrags-Muss, aber der Vertrag lässt dies zu – und der Vorschlag ist absolut vernünftig.
Juncker positioniert sich mehrfach sehr eindeutig, ohne undiplomatisch zu werden. So stellt er fest, dass sich die Türkei (als Staat) immer weiter von der EU entfernt und ein Beitritt „in absehbarer“ Zeit nicht möglich sein wird, zugleich streckt er die Hand aus – aber nicht zu Herrn Erdogan, sondern zum „türkischen Volk“. Diese Unterscheidung ist richtig, selbst wenn man feststellen muss, dass Erdogan bisher immer noch eine mindestens knappe Mehrheit der WählerInnen hinter sich gebracht hat. Allerdings stellt die Wahlmehrheit keine Mehrheit der Bevölkerung dar.
Ohne den Namen zu nennen, setzt sich Präsident Juncker intensiv mit den im Laufe des Jahres vom französischen Kandidaten und dann Präsidenten Macron vorgebrachten ökonomischen Ideen auseinander. Er greift das Projekt eines europäischen Wirtschaftsministers auf, will dies jedoch mit dem entsprechenden Kommissarsposten verschmelzen. Ein eigenes Eurozonenbudget und ein eigenes Eurozonen-Parlament lehnt er (zu Recht) ab.
Er plädiert für eine weitere Verschmelzung, nämlich der der Ämter des Ratspräsidenten und des Kommissionspräsidenten. Dafür gibt es gute Argumente, aber es würde auch einen erheblichen Machtzuwachs für die Kommission bedeuten. Ohne es direkt zu sagen, entwickelt Präsident Juncker das Szenario einer europäischen Regierung. Seinen Ausführungen ist das klasssiche Gewaltenteilungsmodell unterlegt, auch wenn er es nicht direkt so formuliert. Aber er hebt die Bedeutung und Rolle des EU-Parlaments hervor, er unterstreicht die Verbindlichkeit der Urteile des Europäischen Gerichtshofs und er deutet die Umwandlung der Kommission in eine Regierung an.
Er spricht sich, zusammengefasst, für mehr partizipative Demokratie und für entschiedene Transparenz, insbesondere bei den zukünftigen Freihandelsgesprächen, aus. Er füllt Schlüsselwörter der EU-Verträge wie Solidarität und Subsidiarität sowie Effizienz inhaltlich aus.
Ein guter Teil seiner Rede zieht die Konsequenzen aus Missständen und Verwerfungen in der EU, die das Ziel der möglichst gleichen und ausgwogenen Lebensbedingungen in den EU-Ländern gefährden. Besonderes Augenmerk gilt der Einhaltung der Sozialstandards.
Juncker nennt eine Reihe von Behörden oder task forces, die gegründet werden, sagt aber zugleich, er wolle derzeit keine neuen Institutionen, ebensowenig einen neuen Vertrag. Er lobt die Tugend des Kompromissefindens, zugleich will er mehr Entscheidungen mit ‚lediglich‘ qualifizierter Mehrheit statt Einstimmigkeit. Diese Ziele alle unter einen Hut zu bringen, ist bisher in der EU nicht gelungen, obwohl in den Verträgen mehr Effizienz vereinbart wurde.
Präsident Juncker bewegt sich – klarerweise – im Rahmen der EU-Verträge, aber er stärkt darin durch seine Rede all die Elemente, die eine Annäherung der „Union“ an ein gewohntes Staatlichkeitsmodell erlauben. Zwar sagt er ausdrücklich, die Union sei eben kein Staat, jedoch ein Rechtsstaat, aber zwischen den Zeilen zeichnet sich die Idee eines europäischen Staats ab.
Präsident Juncker wird kaum als Visionär bezeichnet – aber vielleicht ist er es doch, wenigstens ein bisschen. Zumindest steht er eindeutig in der Tradition der Idee von Europäischer Einheit der Gründermütter und -väter der Union – was im Jahr 2017 schon wieder als visionär gelten muss.
Text der Rede zur Lage der Nation