II: Eine Handvoll Münzen
[1] Eine kleine Teebüchse aus Weißblech in Rot und Silber diente mir schon als Kind als Schatztruhe für Münzen. In der Länge misst sie 11,5 cm, in der Breite 4 cm und in der Höhe 6.5 cm. Sie enthält inzwischen einhundert Jahre Geschichte, das gesamte 20. Jahrhundert (und nicht nur das europäische). Sie hat die Jahrzehnte und viele Übersiedlungen unbeschadet überstanden, da sie stabil und praktisch war und sich immer noch ein Platz für ein weiteres Münz-Überbleibsel fand.
[2] 2001, im Jahr bevor der Euro eingeführt wurde, machte der Euro-Train in Österreich Werbung für die neue europäische Gemeinschaftswerbung. Der Zug kam auch nach Wien an den Westbahnhof, wo ich mir in der zweiten Dezemberhälfte 2001 ein Euro-Startkit kaufte – das ich nicht gesammelt, sondern im Jänner 2002 zum ersten Bezahlen mit dem Euro genutzt habe.
[3] Aus dem Schatzkästchen habe ich willkürlich zwölf Währungen ausgewählt und mir auf den zwölf Sternen der Europaflagge verteilt. Ergeben hat sich eine Geschichte des 20. Jahrhunderts. Der Zufall also führte in das harmonische Sternenrund einige gar nicht harmonische Länder zusammen. Die Münzen sind allesamt stark abgegriffen und aus billigem Material.
[4] Einige Münzen verweisen auf vergangene Reiche – das Deutsche Reich und das British Empire. Beide Reiche gibt es nicht mehr, diese Art von Staatlichkeit ist vergangen. Aber der weiter existierende British Commonwealth evoziert natürlich das Empire, und liest man die Brexit-Reden der britischen Premierministerin Theresa May, so spürt man eine wunderliche Empire-Nostalgie.
[5] Das Deutsche Reich ist hingegen endgültig vergangen, aber es bleibt bzw. wurde wieder ein Anknüpfungspunkt: Nach der Wiedervereinigung zog der Bundestag nach Berlin in das Gebäude des ehemaligen Reichstags. Dieser wurde umgebaut und mit einer begehbaren gläsernen Kuppel versehen, die den Blick nach innen ins Parlament gestattet. Es widerspricht dieser architektonischen Untermauerung der Deutschen Demokratie, dass in den Medien die Bezeichnung Reichstag beinahe die normale geworden ist. Ganz erloschen ist das „Reich“ aber auch in anderer Hinsicht nicht, denkt man an die „Reichsbürger“ und ihre tödlichen Umtriebe.
[6] Eine andere Münze stammt aus Frankreich, von 1942. Sie trägt die Prägung „Etat Français“ und die Devise des Pétain-Regimes „Travail – Famille – Patrie“. Ich nehme an, dass sie von meinem Vater stammt, der 1942 eingezogen wurde und im Herbst für wenige Tage in Rennes stationiert war. ‚Daneben‘ zwei weitere französische Münzen, nun aus 1947 und 1948, mit der Prägung „République Française“ mit der aus der Französischen Revolution stammenden Republiksdevise „Liberté – Égalité – Fraternité“ (auf der 2-Francs-Münze von 1948). Diese Münzen dürften von meiner Mutter kommen, die bald nach dem Krieg, als Reisen wieder erlaubt war, mit einer Freundin und zwei Freunden mit Fahrrad und Zelt eine große Frankreich-Tour unternahm. Die Münzen tragen keine Republik-Nummer, gehören aber in die 4. Republik, auch wenn nach Charles de Gaulles Ansicht die 3. Republik durch den Etat Français des Marschall Pétain nicht aufgelöst worden war.
[7] Eine weitere Republiksmünze stammt aus diesen Jahren: 2 Schilling, Republik Österreich, 1946. Auch diese Münze dürfte von meiner Mutter kommen, die in Salzburg ihre beste und österreichische Studienfreundin hatte, mit der sie im Krieg den Großglockner bestieg – und bis zum Lebensende in Verbindung blieb.
[7] Während hier also zwei Vorkriegs-Republiken nach Kriegsende wieder erstanden, führen andere Münzen in den werdenden Ostblock und in die Entstehung neuer diktatorischer Regime. Interessant ist die 1990 geprägte Münze der Tschechoslowakischen und – immer noch – Sozialistischen Republik (bis Frühjahr 1990). Nach einem Intermezzo als Tschechische und Slowakische Föderative Republik bis 1992 trennten sich die beiden Teile.
[8] Ins Auge sticht auch eine sowjetische Leninmünze, die 1970 zum 100. Geburtstag Lenins geprägt wurde. Dass sie mir jetzt wieder in die Hände fällt, passt zum Erinnerungsjahr an die Revolution von 1917 und die Zugreise Lenins quer durch Deutschland. Soweit die Revolution sozialrevolutionär gewesen war, hat der Putinismus im Jahr 2017 mit seiner Oligarchie das meiste rückabgewickelt und politisch lehnt dieser sich stark an das Zarenreich an.
[9] Und dann hat sich noch eine Luxemburgische Münze (1990) in den Haufen gemischt, noch vor Maastricht (Vertrag von Maastricht 1992), aber sie ist im Jahr 2000 im Zuge einer Europa-Exkursion mit Studierenden, die uns nach Straßburg, Brüssel und eben Luxemburg führte, in meine Hände gekommen. EU hat für mich viele positive Bezüge, aber sie steckt auch in der Krise.
[10] Diese Münzreise gleitet ein wenig ins Deprimierende ab, jedenfalls, wenn man an die Staaten denkt, die die Münzen ausgegeben haben. Auch eine allerletzte Münze aus dem Zufallshaufen macht die Sache nicht besser. Es ist eine türkische, die bei mir nach einer Kappadokienreise verblieben ist. Geprägt wurde sie 2005 – in jenem Jahr, in dem sich Erdoğan und die AKP als „lupenreine Demokraten“ gaben und die Beitrittsverhandlungen mit der EU starteten. Zwölf Jahre später wirkt das wie eine andere Zeit.
[11] Ach nein, es war ja nicht die letzte Münze, das sind noch drei – spanische. Eine von 1941 mit Don Quichote, eine mit dem Porträt des „Caudillo“ Franco, Führer von „Gottes Gnaden“ wie es da steht (1966), und die andere von 1975 mit dem Porträt König Juan Carlos‘. Francos offizieller Todestag war der 20. November 1975. Noch 1975 wurden die Weichen für den Umbau Spaniens zur Demokratie gestellt. Doch ist sie 2017 nicht sorgenfrei. Juan Carlos‘ Image nahm verschwommene Züge an, bevor er zurücktrat. Eine breite öffentliche Auseinandersetzung mit der Franko-Diktatur hat nie stattgefunden; nach den letzten Wahlen konnte keine Mehrheitsregierung, sondern nach langem Hin und Her nur eine Minderheitsregierung gebildet werden; und was Katalonien angeht, kann man nur hoffen, dass Besonnenheit zurückkehrt, die es braucht, um die spanische Verfassung zu modernisieren.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Mein Haushalt voller europäischer Geschichte – Geschichte Europas anhand privater Gegenstände – II: Eine Handvoll Münzen. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/mein-haushalt-voller-europäischer-geschichte-2, Eintrag 25.11.2017 [Absatz Nr.].
Wie kann man mitmachen? Kontaktaufnahme bitte über die Kommentarfunktion des Blogs.