Mein Körper im Raum
[1] Praxistheorien oder Praxeologien messen der Körperlichkeit des Menschen bei der Ausbildung und Veränderung von Gesellschaften und Kulturen große Bedeutung bei. Der Körper ist eben sehr viel mehr als ‚nur Biologie‘. Er stellt ein komplexes Zeichen- und Symbolsystem dar, er ist Medium und Werkzeug bei der Herstellung und Veränderung oder auch Zerstörung von Gesellschaft und Kultur.
[2] Ein „Mein Europa“ ist zunächst einmal weniger eine Sache des Intellekts, sondern eine Sache des Körpers. Ich muss diesen Körper durch Räume bewegen. Zwar kann ich am Bildschirm, ohne mich physisch durch Räume bewegen zu müssen, viel über Europa lernen, ich kann viel von Europa sehen, aber ich kann es nicht spüren, nicht berühren, nicht schmecken, nicht riechen, ich kann es nicht erfahren. Das alles gehört aber dazu – ich habe das in meinem Buch „Mein Europa. Reisetagebücher eines Historikers“ beschrieben.
[3] Selbst wenn das Durchwandern Europas zu Fuß schon lange nicht mehr die Regel ist, wird der europäische Raum von historischen Wander- und Pilgerwegen durchzogen oder es werden neue angelegt. Dazu kommen transregionale und transkontinentale Strecken fürs Fahrrad und/oder für das Auto, die nach landschaftlichen, kulturlandschaftlichen (z. B. Donau(rad)wanderweg) oder historisch-thematischen Gesichtspunkten (z. B. europäische Theaterstraße) zusammengestellt und ausgeschildert sind.
[4] All dies beruht auf Fortbewegungsarten, deren Geschwindigkeit langsam oder zumindest gedrosselt ist. Zwar könnte ich mich mit dem Auto schnell bewegen, aber wenn ich einer thematischen Route folge, unterbreche ich die Fahrt immer wieder und drossele dadurch die Geschwindigkeit. Die Perzeption und Rezeption von Räumen intensiviert sich mit der Langsamkeit.
[5] Nehme ich das Flugzeug, entfällt für die eigentliche Entfernung die Langsamkeit, dafür kann ich mehr Orte und Räume in Europa kennenlernen. Auch dies kann einen Vertiefungsprozess bedeuten. Das gilt letztlich für jede Fortbewegungsart, egal wie schnell oder langsam sie ist. Die Inhalte der Vertiefungen sind verschieden, nicht aber die Erfahrungsvertiefung als Methode bei der Herausbildung eines „Mein Europa“. Entscheidend ist wie in allem die Vielfalt und die Wiederholung. Zu „Mein Europa“ gibt es viele Wege und infolgedessen erforderlichenfalls Kompensationsmöglichkeiten.
[6] Was ist, wenn ich meinen Körper nicht so fortbewegen kann wie ich möchte? Wegen eines Gebrechens oder weil ich kein Geld habe, oder weil ich keine Zeit habe? „Mein Europa“ ohne Zeit zu haben, geht nicht. Ganz ohne Geld geht es auch nicht, aber es geht oft sehr preisgünstig; das hängt je nach Förderprogramm vom Lebensalter ab, ob ich für eine Förderung infrage komme oder nicht, ob ich beruflich ohnehin viel in Europa unterwegs bin und immer mal ein, zwei Stunden Zeit habe, oder ob ich tatsächlich zu Fuß gehe, mit preisgünstigen Bahnangeboten plane, oder einen Fernbus nehme, etc. Habe ich ein körperliches Gebrechen, das meine Beweglichkeit einschränkt, bin ich darauf angewiesen, dass das soziale Ziel der Barrierefreiheit möglichst umfassend in Europa in die Praxis umgesetzt wird.
[7] Was tue ich an den Orten, zu denen ich mich hinbewege bzw. was ‚muss‘ ich tun, damit „Mein Europa“ entsteht? Ob bei diesem oder jenem Tun ein „Mein Europa“ entsteht, muss nicht zwingend von mir intendiert sein. Es hängt so oder so von der Vielfalt, der Häufigkeit und der Wiederholung des Tuns ab, ob es das „Mein Europa“ entstehen lässt. Wenn ich es ausdrücklich will, kann ich bestimmte Dinge nach einem Plan tun, damit gesichert ist, dass ich bestimmte Erfahrungen mache. Ich verweise noch einmal auf mein Reisetagebuch und das Fortsetzungsbuch aus Anlass des europäischen Kulturerbejahres 2018 „Unterwegs in der europäischen Kultur und Geschichte – Aneignungen“.
Zwischenruf
[8] An dieser Stelle schiebt sich eine Frage dazwischen: Warum sollte ich überhaupt ein „Mein Europa“, sprich, eine individuelle europäische Identität bewusst herausbilden?
[9] Dies kann mit einem anfangs vielleicht eher zufälligen Werden zusammenhängen. Irgendwann merke ich, dass da etwas Teil meiner Selbst geworden ist, was als Europa bezeichnet wird, von mir oder von anderen oder von beiden.
[10] Es kann aber auch sein, dass mich das ‚Angebot‘ einer nationalen Identität nicht lockt. Vielleicht ist es mir zu eng, zu engstirnig, zu verpflichtend, zu exklusiv, zu aggressiv, zu unbeweglich, zu künstlich, zu unwirklich, zu pathetisch, zu sehr historisch belastet. Im EU-Europa habe ich die Freiheit, über meine Identität selbst zu bestimmen. Das EU Recht garantiert mir viele Freiheiten, insbesondere die des ungehinderten Reisens und der Niederlassung, wo immer in der EU ich leben und arbeiten will. Vieles davon gilt auch außerhalb der EU in Europa oder wird einem eher leicht gemacht.
[11] Wenn ich davon nicht nur gelegentlich Gebrauch mache, sondern dies mein Leben geändert hat, wirkt sich das auf mein Selbst, meine Identität aus. Ich könnte das Bedürfnis haben, mich als „EuropäerIn“ fühlen zu können, etwa, um dem Gruppenzwang, der von vorgestellten nationalen oder regionalen Identitäten ausgeht, etwas „eigenes“ entgegen zu setzen. Ich kann mich mit meinem Ich, mit meinem Selbst, begnügen – Ich bin Ich –, ich kann aber auch etwas anderes wollen.
[12] Ich kann mich hinter das „europäische Projekt“ stellen, das vor allem die EU darstellt und mich schon deshalb in erster Linie als EuropäerIn fühlen und nicht in erster Linie als Angehörige/r einer bestimmten Nation. Freilich ist der Anteil derer, die sich ausschließlich als EuropäerInnen fühlen, gering. Allerdings ist keine Ausschließlichkeit erforderlich, denn jede Identität ist komplex und verschachtelt.
[13] In Umfragen, einschließlich Eurobarometer, wird kaum zwischen EuropäerIn und EU-BürgerIn unterschieden, aber vielleicht ist das Ergebnis des Standard-Eurobarometers vom November 2017 dennoch ein guter Hinweis: 70% der BürgerInnen in der EU fühlen sich als EU-BürgerInnen, wobei die Werte je nach Mitgliedsland erheblich schwanken. Selbst wenn EU-BürgerIn und EuropäerIn nicht einfach dasselbe ist oder sein muss, kann das Umfrageergebnis ein Fingerzeig sein, dass bei vielen Menschen ein „Mein Europa“ entsteht.
Europa mit der Fingerspitze berühren
[15] Der kurze Abschnitt „Mein Körper im Raum“ bezog sich auf äußere und zumeist mehr oder weniger ausgedehnte Räume, jedenfalls nicht auf Innen- oder private Innenräume. Die privaten Innenräume, der eigene Haushalt, werden von allen möglichen Objekten bevölkert, denen entweder irgendetwas von Europa innewohnt oder die dadurch, dass sie z. B. chinesisch sind, einen spannungsvollen Kontrast zum Aufbewahrungsort, einem Haushalt in Europa, erzeugen.
[16] [Das Folgende wörtlich übernommen] Im Lauf eines Lebens sammeln sich viele Gegenstände im Haushalt an. Einiges kommt und geht wieder, weil es kaputt ist, zu abgenutzt oder überflüssig. Anderes bleibt. Weil es schon immer ein Erinnerungsstück gewesen ist oder weil es eines wurde. Weil es einen gewissen ästhetischen und materiellen Wert hat. Weil es ein Familienerbstück ist. Weil der Beruf es mit sich bringt. Weil die Freizeit, wie Reisen, es mit sich bringt. Weil es Geschenke sind.
[17] Auch in einem kleinen Haushalt finden sich Hunderte, meistens über Tausend Gegenstände. In einem größeren sind es schnell mehrere Tausend. Jeder Gegenstand beinhaltet auch eine Geschichte. Er wurde gefertigt, das heißt, es steckt Fertigungsknowhow darin. Das kann Massenproduktion sein, das kann handwerklich sein, das kann selbst gemacht sein, das kann Kunst sein. Es kann eine Tradition in sich tragen, es kann auf Innovation beruhen. Das Objekt wurde in einer Situation gefertigt, es wurde erworben oder gefunden oder geschenkt oder vererbt. Es hat Wege hinter sich gebracht, vielleicht aus China.
[18] Jedes Objekt hat seine ganz ‚persönliche‘ Geschichte, ob diese nun aufregend oder völlig unspektakulär ist. Es ist immer Teil einer größeren weiteren Geschichte – und es verbindet mich mit dieser Geschichte.
[19] Ob es nun ein Küchenmesser, Eierlöffel, eine Teetasse oder ein Buch oder ein Bild oder eine Münze oder ein Schmuckstück ist, die exakte Position in der persönlichen Wertschätzungshierarchie der Besitzerin oder des Besitzers – weit oben, weit unten, irgendwo mittendrin – ändert nichts an der Geschichtlichkeit eines jeden Gegenstandes.
[20] Diese Geschichtlichkeit hat zwei Formen. Zum einen ist sie untrennbar mit dem Gegenstand verbunden, weil sie z. B. im Fertigungsknowhow oder in der Fertigungssituation steckt. Zum anderen ist sie individuell mit mir als Besitzerin oder Besitzer verbunden: Wann, wieso und wodurch kam der Gegenstand ausgerechnet zu mir?
[21] Die erste Form von Geschichtlichkeit macht man sich im Alltag eher selten bewusst, am ehesten bei höherwertigeren Objekten. Eine Zeitung oder ein Buch kann ich lesen, ohne mir die Geschichte, wie das Papier nach Europa kam, vergegenwärtigen zu müssen. Aber würde man sie sich bewusst machen, würde man ins historische Universum gelangen. Dass ich mich in der genannten Lesesituation finde oder finden kann, wenn ich will, wäre ohne diese Geschichte des Papiers nicht denkbar – und schon bin ich Träger und Aktivist einer über Tausend Jahre alten Geschichte, die in China einmal begann. Dass ich heute digital lesen kann ohne Papier ist höchstwahrscheinlich trotzdem nur deshalb möglich geworden, weil es Papier als Werkstoff und natürlich die Druckerpresse gab. Aber das ist schon eine andere Geschichte.
[22] Die zweite Form von Geschichtlichkeit macht man sich eher bewusst, vor allem bei im engeren Wortsinn persönlichen Gegenständen. Was das für welche sind, ist völlig verschieden und variiert mit jedem einzelnen Menschen. Diese zweite Form der Geschichtlichkeit hat mit mir, mit meiner Person, mit meinem Leben zu tun, sie besitzt eine autobiografische Anmutung. Und deshalb interessieren sich viele Menschen dann oft für beide Formen von Geschichtlichkeit, die in einem Gegenstand enthalten sind.
[23] Ich kann mir sehr viel von der europäischen Geschichte durch meine eigenen Gegenstände erschließen. Nicht nur die europäische, oft steckt Globalgeschichte dahinter. Gegenstände mit starkem lokalen oder regionalen oder nationalen Bezug sind meistens trotzdem aufgrund der ihnen innewohnenden Geschichtlichkeit Teil einer europäischen oder darüber hinausreichenden Geschichte.
[24] Ich mache mir also eines Tages bewusst, dass ich in einem, nämlich meinem, Haushalt voller Geschichte lebe und meine Gegenstände mich in den Hypertext europäischer und weiterer Geschichte einbinden. Vor meinem inneren Auge beginne ich mir Objekte aus meinem Haushalt vorzustellen, die einen Bezug speziell zur europäischen Geschichte besitzen.
[25] Dies ist ein Weg in „Mein Europa“.
Fortsetzung folgt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Mein Europa – Entwurf zu einer Praxeologie (Teil IV). In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/mein-europa-entwurf-zu-einer-praxeologie-4, Eintrag 01.02.2018 [Absatz Nr.].