[1] Seit Jahrzehnten begeistert sich die Europaforschung für einen Holzschnitt aus dem frühen 16. Jahrhundert, der die Konturen des Kontinents Europa den Konturen einer Frau angleicht. Der Holzschnitt und seine späteren Varianten wird meistens unter dem Titel „Europa Regina“ oder „Königin Europa“ geführt, aber diese Bezeichnung ist nicht original. Es ist unklar, wann sie sich durchsetzte. Sucht man im Web nach „Europa Regina“, wird man schnell fündig.
[2] Bisher wurde angenommen, dass der im Tiroler Landesmuseum Ferdinandeum archivierte Holzschnitt von 1537 die Urversion dieser Europa sei. Entworfen wurde die Europa von Johannes Putsch.
[3] Das Stadtmuseum Retz zeigt seit diesem Jahr einen Holzschnitt mit eben dieser Europa, der aber auf 1534 datiert ist. Allem Anschein nach handelt es sich also hier um die Urversion.
[4] Mit der Europa von Putsch und den Nachfolgern haben sich einige Forscher*innen in der Vergangenheit befasst, auch der Schreiber dieses Blogs, aber die wesentlichen quellenkritischen Erkenntnisse zur Version von 1537 sind Peter Meurer zu verdanken. Meurer hat den Kern seiner Erkenntnisse 2008 open access veröffentlicht.
[5] Der Retzer Holzschnitt von 1534 enthält ein Klagegedicht, ebenfalls von Johannes Putsch, das bereits Meurer 2008 mit dem Holzschnitt von 1537 in Verbindung gebracht hatte. Klageschriften und Klagegedichte mit dem miserablen Zustand Europas als Thema waren eine geradezu beliebte Gattung.
[6] Mit der Retzer Europa beschäftigt sich wissenschaftlich Celine Wawruschka von der Donauuniversität Krems, die in ihrem Blog ein paar Einblicke gibt.
[7] Auch diese Urversion – mindestens vorläufig bleibt es die Urversion… – ist nicht als Europa Regina betitelt. In der Widmung an Ferdinand in der unteren ganz linken Spalte ist von „puella“ und „virgo“ die Rede. Das entspricht der humanistischen Tradition, in der der als Humanist, aber auch Waffengefährte Ferdinands bekannte Putsch stand.
[8] Später, bei Heinrich Bünting, für dessen „Itinerarium sacrae scripturae“ eine Variante des Holzschnitts eingesetzt wurde (mehrere Ausgaben ab 1582, z.B. Magdeburg 1589), heißt es „Europa prima pars terrae in forma virginis“. Das trifft die Blickhaltung im 16. Jahrhundert bestens.
[9] Lt. Darstellung des Museums Retz kam der Holzschnitt aus dem Jahr 1534 vom Retzer Dominikanerkloster 1838 an das damals noch ganz junge Museum. Wie kam er dahin? Vielleicht klärt das die von C. Wawruschka angekündigte Publikation.
[10] Womöglich lassen sich aber nun weitere Exemplare identifizieren.
[11] Die weiteste Verbreitung erfuhr der Holzschnitt erst im späten 16. Jahrhundert. Die bekannteste Variante ist jene, die zur Illustration von Sebastian Münsters Kosmographie verwendet wurde. Die Kosmographie war zuerst in Basel 1544 auf Deutsch erschienen, erlebte viele Auflagen, anfangs noch von Münster selber betreut, doch auch nach seinem Tod blieb das Werk ein Beststeller und wurde ganz oder in Teilen in andere Sprachen übersetzt.
[12] Ähnlich erfolgreich war das erwähnte Itinerar für das Heilige Land von Bünting, das erstmals 1582 erschien. Die dortige Variante des Europa-Holzschnitts erfreut sich bis heute großer Beliebtheit, unlängst wurde eine Sammlung mit Aufsätzen von Denis de Rougemont damit auf dem Cover illustriert.
[13] Weitgehend ungeklärt ist bisher die Rezeptionsgeschichte. Ohne nachkarten zu wollen – diese hätte ich gerne in einem Projekt erforschen lassen (ist ca. zehn Jahre her…), der Antrag wurde aber von offenkundig inkompetenten Gutachter*innen abgewiesen. Zur ungeklärten Rezeptionsgeschichte gehört auch die Frage, ob die Europafigur des Opicinus de Canistris von 1337 eventuell doch eine Rezeptionstradition hat oder dies weiter ausgeschlossen werden kann.
[14] Wie auch immer: Zwischen den Urversionen von 1534 bzw. 1537 und dem Auftreten verschiedener Varianten ab um 1580 herrscht eine Dokumentationslücke von fast 40-50 Jahren. Nach dem Varianten-Hype in der Zeit Rudolfs II. scheinen im 17. Jahrhundert keine neuen Varianten geschaffen worden zu sein, allerdings lehnen sich etliche Texte an die Europafigur des Holzschnitts an. Beispiele finden sich in der Datenbank zu Europavorstellungen im 17. Jahrhundert und im Begleitbuch zur Datenbank.
[15] Der Holzschnitt blieb bis ins 19. Jahrhundert bekannt – eine schöne Stelle bei Clemens Brentano von 1813 bezeugt dies. Dies legt eine Spur (auch wenn nicht unmittelbar Brentano der Spurenleger sein muss…) in die Zeit, als Ignaz Lamatsch, Bibliothekar und Archivar des Dominikanerklosters in Retz, den Holzschnitt von 1834 an das neue Retzer Museum übergab.
[16] Spannend schließlich ist die Renaissance der verschiedenen Varianten des Holzschnitts seit 1989/1990: Die Zahl der seitdem damit geschmückten Buchcover ist ziemlich groß. Offenbar eignet sich das Bild immer noch als Visualisierung der Einheit, wenn nicht Identität Europas, wobei die ‚Natur der Einheit/Identität Europas‘ natürlich heute eine andere ist als im frühen 16. Jahrhundert.
[17] Zum Schluss: Celine Wawruschka stellt am Beginn ihres Blogs folgende Frage und Aufgabe: „Sollten Sie heute darum gebeten werden, eine Landkarte von Europa in Form einer Allegorie anzufertigen, wie würden Sie diese anlegen? Als Mensch, als Tier oder gar als Gegenstand? Wie würden Sie vorherrschende Konflikte und Abspaltungstendenzen darin abbilden? Oder würden Sie eher eine visionäre Sicht, eine Utopie bevorzugen – vielleicht sich gar der Herausforderung stellen, Realität und Vision mit einem Bild zu illustrieren?“
[18] Diesem Thema hat sich Sandra Lehecka in ihrer Masterarbeit von 2015 gewidmet und Schüler*innen entsprechende Visualisierungen anfertigen lassen – hochinteressante Ergebnisse! Titel der Arbeit: „Das ambivalente Europabild der Gegenwart anhand von Schülerzeichnungen österreichischer Jugendlicher.“
Dokumentation:
Peter Meurer, « Europa Regina. 16th century maps of Europe in the form of a queen », Belgeo [En ligne], 3-4 | 2008, mis en ligne le 22 mai 2013, consulté le 24 juin 2019. URL : http://journals.openedition.org/belgeo/7711 ; DOI : 10.4000/belgeo.7711.
Celine Wawruschka, Die Königin Europa in Retz (Blogeintrag 1. April 2019).
Wolfgang Schmale, Europa – die weibliche Form. In: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft, 11 (2000), Heft 2 („Das Geschlecht der Europa“), S. 211-233 (mit Abbildungen)
Auf Twitter: #EuropaRegina (interessant…)
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa Regina. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/europa-regina, Eintrag 24.06.2019 [Absatz Nr.].