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Victor Klemperer: „Café Europe“, ein Kapitel aus dem LTI Notizbuch

Datum: 19 Sep. 2019
Von: Wolfgang Schmale
Tags: Café Europe, Europa, Jerusalem, LTI, Paul Valéry, Victor Klemperer
Kommentare: Comments are off


[1] Victor Klemperer ist vielen aufgrund seiner Tagebücher ein Begriff. Unter die Haut gehen seine Tagebücher aus dem Zweiten Weltkrieg, aber er hat sein ganzes Leben lang Aufzeichnungen geführt, die mittlerweile alle veröffentlicht sind.

[2] Victor Klemperer kam aus einer bekannten jüdischen Familie, aber zum Juden machten ihn die Nationalsozialisten. In den Kriegstagebüchern, die er unter unvorstellbar schwierigen und erniedrigenden Bedingungen schrieb, zeigt er den Mikroprozess – neben dem Makroprozess – der erstickenden Unterdrückung, der er, seine Frau Eva und viele andere Menschen in gleicher oder sehr ähnlicher Weise ausgesetzt wurden.

LTI – Lingua Tertii Imperii

[3] Als Philologe und Literaturwissenschaftler (Romanistik) besaß er zudem ein besonderes Gespür für Sprache. Er machte über viele Jahre Aufzeichnungen zur „Sprache des Dritten Reiches“ – von ihm als „LTI“ (= Lingua Tertii Imperii) abgekürzt.

[4] Er veröffentlichte diese Notizen und Analysen bereits 1947 (Aufbau Verlag), die Widmung an seine Frau Eva ist auf Weihnachten 1946 datiert.

[5] Liest man sie heute im Jahr 2019, drängt sich die Aktualität seiner Beobachtungen auf. Er beschreibt politische Techniken der Sprachbeeinflussung, Sprachformung und der Ausübung von Gewalt durch Sprache, er beschreibt, wie Sprache zum Gift wird, das in jeden hineingeträufelt wird, er beschreibt wie dieses Gift irgendwann die Alltagssprache prägt – und lange nach dem Krieg weiterwirkt.

[6] Diese Mikroprozesse sind heute wieder genauso zu beobachten. Vor allem bei den nationalradikalen Parteien, die meistens leicht verharmlosend lediglich als populistische Parteien apostrophiert werden.

[7] Dasselbe Erlebnis frappierender Aktualität stellt sich bei der Lektüre des in diesem Sommer wieder aufgelegten Vortrags von Theodor W. Adorno „Aspekte des neuen Rechtsradikalismus“ ein. Das Parteikürzel NPD im Vortrag kann an den meisten Stellen problemlos durch einige heute gebräuchliche Parteikürzel ersetzt werden – und die Analyse trifft immer noch ins Zentrum.

„Café Europe“

[8] Das LTI-Buch hat 36 Kapitel. Das 24. ist mit „Café Europe“ betitelt. Es handelt sich um ein Kaffeehaus in Jerusalem. Klemperer hat sich immer wieder mit Idee und Begriff Europa auseinandergesetzt – es wäre an der Zeit, ihm in der Europaforschung mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

[9] Klemperer notiert: „13. August 1935. Walter schreibt aus Jerusalem: »Adressiere bitte in Zukunft einfach: Café Europe. (…) im Café Europe (…) bin ich bestimmt immer zu erreichen. Es ist mir hier, und damit meine ich jetzt ganz Jerusalem im allgemeinen und das Cafée im besonderen, sehr viel wohler als in Tel Aviv (…). Hier geht es europäischer zu.«

[10] Klemperer schließt mit einer Selbstreflexion an: „14. August 1935. Auf irgendeinen Einfall hin bin ich immer höchstens einen Tag lang stolz; dann schwelle ich ab, denn dann – Philologenschicksal – fällt mir ein, wo ich ihn herhabe. Der Begriff Europa ist Anleihe bei Paul Valéry. Ich kann zu meiner Beruhigung hinzusetzen: cf. Klemperers »Moderne französische Prosa«. Damals, das liegt nun ein Dutzend Jahre zurück, habe ich in einem besonderen Kapitel zusammengestellt und kommentiert, was Franzosen über Europa denken, wie sie die Selbstzerfleischung des Kontinents im Kriege verzweifelt beklagen, wie sie sein Wesen im Herausarbeiten und Verbreiten einer bestimmten Kultur, einer bestimmten Geistes- und Willenshaltung erkennen. Paul Valéry hat in seiner Züricher Rede vom Jahre 1922 die Abstraktion vom europäischen Raum ganz deutlich ausgesprochen. Überall dort ist ihm Europa, wo die Dreiheit Jerusalem, Athen und Rom gedrungen, er selber sagt: Hellas, antikes Rom und christliches Rom, aber im christlichen Rom ist ja Jerusalem enthalten; auch Amerika bedeutet ihm nur »eine formidable Schöpfung Europas«. Aber im selben Atemzug, in dem er Europa als Vormacht der Welt hinstellt, fügt er auch hinzu: ich drücke mich falsch aus, nicht Europa herrscht, sondern der europäische Geist. –“

[11] Und direkt weiter noch dieser kurze Abschnitt: „Wie kann man Sehnsucht haben [K. meint seinen Neffen Walter; W.S.] nach einem Europa, das keines mehr ist? Und Deutschland ist doch gewiß kein Europa mehr.“

[12] Er selber habe dann über „fast acht Jahre“ hinweg in seinen Tagebüchern nicht mehr von Europa geschrieben, doch „will ich damit nicht sagen, daß nicht da und dort etwas über Europa oder europäische Zustände zu lesen war. Das wäre um so unzutreffender, als ja der Nazismus von seinem Ahnherrn Chamberlain her mit einer verfälschten Europa-Idee arbeitet, die in Rosenbergs Mythus zentrale Bedeutung hat und so von allen Theoretikern der Partei nachgebetet wird.“

[13] Als Beitrag zum Europabegriff bzw. zur Europaidee in der LTI resümiert Klemperer: „Man kann von dieser Idee sagen, es sei mit ihr das geschehen, was die Rassepolitiker mit der deutschen Bevölkerung zu tun bemüht waren: sie wurde »aufgenordet«. Alles Europäertum ging nach der nazistischen Doktrin von nordischen Menschen oder Nordgermanen aus, alle Schädigung, alle Bedrohung kam aus Syrien und Palästina; soweit sich griechische und christliche Ursprünge der europäischen Kultur auf keine Weise ableugnen ließen, waren die Hellenen und war auch Christus blondhaarig-blauäugig-nordisch-germanischen Ursprungs. Was vom Christentum nicht in die nazistische Ethik und Staatslehre paßte, wurde bald als jüdisch, bald als syrisch, bald als römisch ausgemerzt.“

[14] Klemperer hatte den Begriff „Zivilisationsbruch“ noch nicht zur Verfügung, aber seine Überlegungen weisen in diese Richtung, insoweit seiner Beobachtung nach im Nationalsozialismus der „Begriff Europa überhaupt verzicht[bar]“ wurde, „wenn man aus Germanien das Ursprungsland der europäischen Ideen in ihrer Gesamtheit und den alleinigen Blutträger der europäischen Menschheit machte.“

[15] Die Konsequenz daraus: „Auf solche Weise wurde Deutschland aus aller kulturellen Verflechtung und Verpflichtung herausgehoben, es stand allein und gottähnlich mit göttlichen Rechten über allen anderen Völkern.“

[16] Klemperer analysiert im Folgenden die Verwendung von „Europa“ in der LTI vor dem Krieg, schließlich im Krieg, speziell seit dem Angriff auf Rußland: „(…) nun hat sich mit dem Begriff Europa eine eigentümliche Rückbildung vollzogen. In Valérys Betrachtung war Europa von seinem ursprünglichen Raum, ja vom Raum überhaupt losgelöst (…). Jetzt, im letzten Drittel der Hitlerära, geht es keineswegs um eine derartige Abstraktion. (…) Nein, das Europa, von dem die LTI jetzt täglich spricht, ihr neues Pfeilerwort Europa ist vollkommen räumlich und materiell zu nehmen; es bezeichnet ein engeres Gebiet und betrachtet es unter konkreteren Gesichtspunkten, als das früher üblich war.“

[17] Und schließlich: „So oft der Name Europa während der letzten Jahre in der Presse oder in Reden auftaucht – und je schlechter es um Deutschland steht, um so öfter und um so beschwörender geschieht das –, immer ist dies sein alleiniger Inhalt: Deutschland, die »Ordnungsmacht«, verteidigt die »Festung Europa«.

[18] Klemperer analysiert auch den Nazi-Begriff des „neuen Europa“ – es ist meines Erachtens klar, warum man in unserer Zeit weder von einem „neuen Europa“ noch zustimmend von einer „Festung Europa“ (ebenfalls LTI) reden sollte.

[19] Am Ende fragt sich Klemperer, inwieweit Europa noch existiere – und ob es das Café Europe in Jerusalem noch gebe…

Dokumentation:

Die Zitate sind aus: Victor Klemperer: Die unbewältigte Sprache. Aus dem Notizbuch eines Philologen. »LTI«. Darmstadt, Melzer Verlag 1966 (unveränd. Abdruck des Originaltextes von 1947). Kapitel 24 „Café Europe“, S. 175-182.

Bei der von Adorno erwähnten Schrift handelt es sich um: Aspekte des neuen Rechtsradikalismus. Ein Vortrag. Mit einem Nachwort von Volker Weiß. Berlin, Suhrkamp, 2019 (Vortrag 6.4.1967 an der Uni Wien, NIG, Einladung duch den Verband Sozialistischer Studenten Österreichs).

Die Jerusalem Foundation hat für Überlebende des Holocaust das Netzwerk „Café Europa“ gegründet.

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):

Wolfgang Schmale: Victor Klemperer: „Café Europe“, ein Kapitel aus dem LTI Notizbuch. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/klemperer-lti-cafe-europe, Eintrag 19.09.2019 [Absatz Nr.].

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