Der Krieg der Russischen Föderation gegen die Ukraine dauert seit einem Jahr. Zahllose Kriegsverbrechen der russischen Truppen wurden dokumentiert. Dazu zählen Vergewaltigungen, Morde, Folter, Entführung von Kindern, Zerstörung von Wohnhäusern, Schulen, Krankenhäusern, Geburtskliniken. Zigtausende Zivilist*innen, fast ausschließlich in der Ukraine, sind getötet worden. Die Zahl der gefallenen Ukrainischen Soldaten dürfte in die Zehntausende gehen.
Die Zerstörung von Energie- und anderer Infrastruktur und von Kulturstätten und Kulturgütern fällt vielleicht streng juristisch gesehen nicht direkt unter den Terminus Kriegsverbrechen, aber zusammen mit der abstrusen Geschichtsklitterung von Putin und Co. ist das Ziel, die Ukraine, ganz wie in den Zeiten des Kolonialismus, zu entgeschichtlichen und zu dekulturieren, offensichtlich.
Der russischen Seite sind Menschen nichts wert. Auch nicht die eigenen Soldaten, nicht die eigene Bevölkerung. Es geht ausschließlich darum, das „Recht des Stärkeren“ durchzusetzen. Dass ganze Städte, Dörfer, Landschaften in Schutt und Asche liegen, vermint sind, Menschen dort auf Jahrzehnte nicht werden leben können, spielt offenbar keine Rolle. Der Angriffskrieg der Russischen Föderation entbehrt inzwischen jeden Rests an Rationalität.
Putins Rhetorik, zuletzt in seiner Rede zur Lage der Nation am 21.2.2023, bewegt sich in einer Filterblase, deren noch letzte Verankerungen in der Realität gelöst sind. Die Geschichte hat viele Diktatoren hervorgebracht, im Großen und Ganzen endeten diese immer da, wo nun auch Putin hingelangt ist.
All das erleben wir seit 366 Tagen. Jeder neue Tag bringt erschütternde Nachrichten. Das Schlimmste passiert täglich in der Ukraine, zugleich ist die gesamte europäische Bevölkerung täglich betroffen. Psychisch und materiell. Der Krieg ist unser aller Alltag geworden. Und so ist die Ukraine ein fester Bestandteil der Vorstellung von Europa geworden, was trotz allem, was schon früher, vor und nach 2014 (Annexion der Krim, Teilbesetzung des Donbass durch die Russische Föderation) passiert ist, vor 2022 kaum der Fall gewesen ist.
Emotional betrachtet hätte ein Beitritt der Ukraine zur EU noch dieses Jahr wohl kaum mit großer Ablehnung zu rechnen. Das Bewusstsein dafür, dass ein EU-Beitritt nicht, wie bisher, fast ausschließlich technisch-juristisch durchzuführen ist, sondern eine eminent wichtige emotionale Bedeutung hat, der zu entsprechen ist, dürfte gewachsen sein. Zu hoffen ist, dass dies auch den Balkanstaaten, die seit Jahren auf den EU-Beitritt warten, zugute kommt. Die EU-Kommission sollte auch einmal in Belgrad, Skopje oder Tirana tagen.
Der Krieg gegen die Ukraine verändert Europa, er beschleunigt die Veränderung der Prioritäten, die mit der Covid-19-Pandemie eingesetzt hat. Die zu bewältigenden Probleme und Bedrohungen sind so groß, dass selbst sehr nationalistische Regierungen einsehen, dass ein falscher Begriff von „nationaler Souveränität“ kontraproduktiv ist. Der Sinn dafür, dass vieles, was für den einzelnen Staat überlebenswichtig ist, nur gemeinschaftlich mit anderen Staaten, in erster Linie im Rahmen der EU, realisiert werden kann, scheint zu wachsen.
Insgesamt wächst die Lernbereitschaft. Die deutsche Sozialdemokratie hat seit dem 24.2.2022 einen weiten Weg zurücklegen müssen, aber sie hat es getan. Sie hat sich von einer obsoleten Russland-Romantik gründlich verabschiedet. Der französische Staatspräsident Emmanuel Macron hat gelernt, dass seine Einzelaktionen, um Putins Gesicht zu wahren, sinnlos und nicht begründbar waren. Und so könnte man viele Luftschlösser aufzählen, mit denen es sich in der europäischen Vorstellungswelt gut leben ließ, weil sie die politische und ökonomische Realität in freundlichen, aber unzutreffenden Farben erscheinen ließen, die nun zerstoben sind.
Es ist zu befürchten, dass der Krieg erst enden wird, wenn bei der Bevölkerung der Russischen Föderation die Bereitschaft entstanden ist, sich die Wahrheit über den Krieg einzugestehen. Da fast alle namhaften Persönlichkeiten, die sich getraut haben, etwas anderes als Putin zu sagen, vom Regime entweder getötet oder in Gefängnisse und Straflager gesteckt worden sind bzw. das Exil wählen mussten, und da jede Meinungsäußerung, die der Rhetorik des Regimes nicht folgt, mit scharfen Repressionen beantwortet wird, kann das mit dem Eingeständnis der Wahrheit lange dauern.
Sehr wahrscheinlich wird der Krieg für die nächsten Jahre unser aller Alltag bleiben – bei sehr unterschiedlicher Betroffenheit. Er ist nicht nur europäischer Alltag. Obwohl der Krieg im Sinne der bisherigen Weltkriege nicht in die Kategorie des „Weltkriegs“ fällt, hat er globale Auswirkungen, deren Resultate noch nicht abzusehen sind. Die UN-Vollversammlung hat den Angriffskrieg erneut am 23.2.2023 mit 141 (von max. 193) Stimmen verurteilt [Die Dokumente können in einigen Tagen hier auf der UN-Seite eingesehen werden.] Das bedeutet jedoch nicht, dass die Russische Föderation bei drei Vierteln der Staaten der Welt gar keinen Rückhalt hätte. Der Weg von einer Verurteilung im Zuge einer Resolution der UN-Generalversammlung bis zu einer Politik, die zur Beendigung des Krieges beiträgt, ist lang.