2022 verlor der frisch wiedergewählte französische Präsident Emmanuel Macron bei den Parlamentswahlen die absolute Mehrheit. Seine Partei, Renaissance, verfügt nur mehr über eine relative Mehrheit. Bisher fand kein wichtiges Gesetzesvorhaben der Regierung unter Elisabeth Borne eine Mehrheit, sodass mehrfach auf eine französische Verfassungsbesonderheit zurückgegriffen wurde – den Art. 49.3. Die Regierung kann damit Gesetze ohne Abstimmung durchsetzen.
Ganz so einfach, wie es sich liest, ist die Handhabung von Art. 49.3 in der Praxis nicht, aber das ist nicht die Frage, um die es derzeit geht. Vielmehr wird in Frankreich heftig diskutiert, ob nicht die Anwendung des Artikels bei einer so einschneidenden Reform wie der Rentenreform, die unter anderem das Renteneintrittsalter schrittweise von 62 auf 64 Jahre anhebt und die auf sehr starken Widerstand in der Bevölkerung trifft, die Demokratie aushebelt.
In Deutschland und Österreich hat man in den beiden vergangenen Jahrzehnten sehr viel rabiatere Renten- bzw. Pensionsreformen erlebt. Wozu die ganze Aufregung in Frankreich?
Die Notwendigkeit einer Reform stößt in Frankreich nicht einmal bei Expert*innen des Rentensystems auf einen Konsens. Je nach Berechnungsmethoden erscheint sie als jetzt notwendig; nicht jetzt, aber in ein paar Jahren; überhaupt nicht, da viel zu simpel gedacht.
Die Bevölkerungsmehrheit will sie nicht, es geht nicht zuletzt um die Bewahrung einer früheren sozialpolitischen Errungenschaft. Renten- oder Pensionsreformen nur mit den Ergebnissen von Berechnungsformeln zu begründen, ist naiv und negiert das Recht der Gesellschaft, soziale Errungenschaften erhalten zu wollen.
Seit Monaten wird demonstriert und gestreikt, an den starken Protesttagen waren über eine Million Menschen in verschiedenen, auch kleineren Städten auf der Straße, um ihre Ablehnung kund zu tun. Müllberge in den Straßen, spürbare Beeinträchtigungen im öffentlichen Nah- und Fernverkehr, bestreikte Raffinerien etc. werden vergleichsweise gleichmütig in Kauf genommen ebenso wie recht hohe Verdienstausfälle.
Nun ist trotz allem die Reform in Kraft, dank Artikel 49.3 und nachdem zwei Misstrauensvoten im Parlament gescheitert sind. Ob das Reformgesetz selber verfassungsgemäß ist, wird noch durch den Conseil Constitutionnel überprüft werden, aber ist nicht ansonsten im gesamten Verfahren mindestens formal der Verfassung Genüge getan worden? Ist dann die Demokratie gefährdet, wie viele sagen?
Der Konflikt reicht tiefer. 2022 hat keine Partei allein ein starkes Mandat erhalten, auch wenn die linke Partei La France insoumise und die rechtsextreme Partei Rassemblement national deutlich dazugewonnen hatten. Dennoch hat das linke Wahlbündnis Noupes, das La France insoumise, die Sozialistische Partei sowie die Grünen, das bisher auch im Parlament weitgehend zusammenhält, keine Mehrheit erreicht, ebenso wenig wie die Rechtsparteien, unter denen die Republikaner (vom politischen Stammbaum her gesehen die kleinen Überreste der früheren Gaullisten) sehr zusammengeschmolzen sind. Trotz offen rechtsextremer Meinungsäußerungen bei Les Républicains ist ein Bündnis mit dem Rassemblement national, der Le-Pen-Partei, nicht zu erwarten. Die liberale Mitte, die prinzipiell die Regierung stützt, verfügt nicht über eine absolute Mehrheit und ist ziemlichen Spannungen ausgesetzt, da etwa die Rentenreform keineswegs einhellig unterstützt wurde.
La France insoumise hat ihr politisches Agieren seit den Wahlen 2022 daran ausgerichtet, Macron zu Neuwahlen zu zwingen, um selber den Premierminister oder die Premierministerin (letzteres ist bei dieser Partei allerdings nicht zu erwarten) stellen zu können. Tausende von Änderungsanträgen der Noupes verhinderten im Parlament eine Debatte aller Artikel des Reformgesetzes und letztlich einer Abstimmung über das Gesetz, weil die Frist ablief.
Im Senat wurde das Gesetz mithilfe der Republikaner nach einigen Änderungen im Sinne dieser Partei, die früher die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 65 Jahre gefordert hatte, angenommen. Es kam in den Vermittlungsausschuss von Senat und Parlament, wo ein Kompromiss gefunden wurde. Die Entscheidung lag im Prinzip bei den Republikanern; sie hätten der Regierung zur Mehrheit verhelfen können, nachdem das Gesetz ganz in ihrem Sinn verändert worden war. Da sich jedoch im informellen Vorfeld der Abstimmung keine Mehrheit abzeichnete, griff die Premierministerin, einsehend, dass alle ihre Bemühungen, eine reguläre Abstimmung zu gewinnen, auf Druck des Präsidenten erneut zu Art. 49.3.
Jenseits aller Sachargumente für oder wider die Rentenreform scheint also die parteipolitische Taktiererei in der Assemblée nationale für die prozedurale Achterbahn verantwortlich zu sein. In der Tat kann Taktiererei die Demokratie aushöhlen, aber so wird es in Frankreich eher nicht diskutiert.
Es hat in Frankreich eigentlich Tradition, nicht an Protesten auf der Straße einfach vorbeizugehen, wenn diese hartnäckig bleiben und heftig sind, weil darin zu Recht ein „Wille des Volkes“ herausgelesen wird, der das durch Wahlen abgesicherte Repräsentativsystem während der Legislaturperioden in gewissem Sinn ergänzt. Die Liste der nach solchen Protesten zurückgenommenen Gesetzesvorhaben ist lang.
Macron blieb dieses Mal stur und verwies darauf, dass er im Wahlkampf ja gesagt habe, dass es diese Rentenreform brauche und er sie machen werde. Er wertet seinen eigenen Wahlsieg als Zustimmung auch zu diesem Reformvorhaben, was sicher so nicht zutrifft, da es im zweiten Wahlgang wieder einmal darum ging, die Kandidatin des Rassemblement national zu verhindern. Macron war für viele nochmals das kleinere Übel. Daraus eine breite Zustimmung zur Rentenreform abzuleiten, ist recht übertrieben.
Nun, die Causa ist noch nicht beendet. Neuwahlen jetzt scheinen nicht sehr wahrscheinlich, da sich keine Partei sicher sein kann, davon zu profitieren bzw. wird befürchtet, dass die Ränder nochmals dazu gewinnen. Es könnte, wenn die Proteste anhalten, zu einer Regierungsumbildung kommen, aber eine neue Regierung könnte von der Opposition in die ungute Situation gebracht werden, ebenfalls mehrfach von Art. 49.3 Gebrauch zu machen, um überhaupt Gesetze durchzusetzen. Dies wird nicht allzu lange gut gehen können.
In Frankreich hat es Tradition, die Demokratie gefährdet zu sehen, wenn es hoch hergeht. Dennoch wurden bisher alle zum Teil sehr starken politischen Konflikte ausgehalten. In anderen europäischen Ländern würde das so wohl nicht funktionieren, in Frankreich schon.
Trotzdem muss man hoffen, dass ein oder zwei Gran mehr Weisheit einkehren, sonst heißt die nächste Präsidentin (2027) Marine Le Pen – und es ist schwer vorstellbar, dass das die französische Demokratie stärkt.