In zahlreichen Ländern werden die Höchst- und Verfassungsgerichte demontiert. Es wird versucht, die Besetzung der Richter*innenstellen einer Politik des Einparteienstaats zu unterwerfen oder/und die Kompetenzen stark einzugrenzen.
Es geht um mehr als die Politisierung der Stellenbesetzungen. Unpolitisch ist sie wohl nirgendwo, aber solange sich dabei das Spektrum demokratischer Parteien, die eindeutig auf dem Boden der Verfassung und der Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit stehen, abbildet, ist das tolerierbar.
Natürlich fragt man sich, ob höchst- bzw. verfassungsgerichtliche Entscheide wirklich davon beeinflusst sein können, dass die Richter*innen mindestens ursprünglich unterschiedlichen politischen Parteien nahestanden oder weiterhin nahestehen. Eigentlich darf das keine Rolle spielen, zumal ohnehin die Auslegung von Gesetzen und Verfassungsartikeln sich im Lauf der Zeit „entwickelt“, also nicht unbedingt gleich bleibt. Aber das ist ein anderes Thema.
Höchst- und Verfassungsgerichte zum Tennisball des politischen Kampfes um die Macht zu machen, untergräbt die Demokratie. In der Entwicklungschronologie der Demokratie in Europa waren die Höchstgerichte entscheidend für die Ausbildung eines gewissen Maßes an Rechtsstaatlichkeit. Rechtsstaatlichkeit entwickelte sich vor der neuzeitlichen Demokratie. Diese konnte sich u.a. nur deshalb ausbilden, weil es vorher Höchstgerichte gab, die zur Implementierung von Rechtsstaatlichkeit beitrugen und auf der Geltung von Verfassungsprinzipien beharrten. Das war zur guten Gewohnheit geworden, als sich Ende des 18. Jahrhunderts Möglichkeiten ergaben, von Monarchie auf Demokratie umzustellen.
Hier könnte nun ein langer Ausflug in die europäische Rechts- und Institutionengeschichte stehen, aber das würde zu weit führen. Es reicht, sich die allgemeinen Entwicklungslinien in Erinnerung zu rufen.
Die Tendenz, Konflikte aller Art weniger mit Gewalt und mehr mit den Mitteln des Rechts zu lösen, setzte im Spätmittelalter ein. Gerichte veränderten sich allmählich vom Herrschaftsinstrument hin zur „Dritten Partei“, die durch Anwendung und Auslegung des Rechts, gegründet auf „eherne Prinzipien“, die im Römischen, im Göttlichen sowie im Naturrecht gefunden wurden, eine Konfliktlösung ermöglichten.
Dieser Prozess war langsam und benötigte mehrere hundert Jahre. Immerhin wurde das Prinzip, dass die Justiz unabhängig sein müsse und auf Rechtsprinzipien beruhe, die dem Zugriff selbst des absolutistischen Herrschers entzogen waren (Göttliches und Naturrecht), in der Praxis immer besser durchgesetzt.
Besonders Höchstgerichte verstanden sich zunehmend als jene Instanz, die auf die Einhaltung der Verfassung achtete und diese ggf. erzwang. Im Heiligen Römischen Reich (deutscher Nation) existierten unbestritten Reichsgrundgesetze, die gängigerweise im 18. Jahrhundert unter das Schlagwort „Verfassung“ subsumiert wurden. Ähnlich verlief es in Frankreich, wo sich das wichtigste und mächtigste der Höchstgerichte, die in Frankreich „parlements“ genannt wurden, nämlich jenes von Paris, quasi selber in die Position eines Verfassungsgerichts erhob und oftmals dem König erbitterten Widerstand leistete.
Die „parlements“ hatten später schlechte Presse: In den zwei Jahren unmittelbar vor der Französischen Revolution, während der sog. Vor- oder Prärevolution (1787 bis Anfang 1789), führten sie teilweise noch den Widerstand gegen einen prinzipien- und orientierungslos gewordenen Absolutismus an, zu Beginn des eigentlichen revolutionären Prozesses ab Januar 1789 verkannten sie allerdings die Zeichen der Zeit und wurden zum Inbegriff des Konservatismus, der einer grundlegenden Staatsreform in Wege stand.
Das hat lange Zeit verhindert, ihre Rolle für die Entstehung von Rechtsstaatlichkeit in der frühen Neuzeit zu erkennen. Nun, diese Rolle haben sie ausgefüllt wie im Reich das Reichskammergericht und deren Schwesterinstitutionen in den anderen europäischen Ländern, die jeweils recht unterschiedliche Bezeichnungen erhalten hatten.
Jedenfalls verdankte die Durchsetzung des Prinzips, dass jede politische und staatliche Macht an eine Verfassung zu binden sei, viel der Tätigkeit dieser historischen Höchstgerichte. Entsprechend versuchten die frühneuzeitlichen Monarchen regelmäßig, diese Gerichte auszuhebeln. Es gelang nie auf Dauer.
Es gibt keinen Grund, die historischen Höchstgerichte romantisch zu idealisieren. Wo Licht war, war auch Schatten. Doch wie auch immer, das Verständnis vom Staat und dass dieser ein Rechtsstaat sein müsse, wurde vor der Epoche der Französischen Revolution in die Praxis hineingewoben. Seitdem gilt der Grundsatz, dass eine höchste Instanz, meistens ein oder das Höchstgericht bzw. ausdrücklich Verfassungsgericht (oder Verfassungsrat wie aktuell in Frankreich) die Einhaltung der Verfassung, die nicht zwingend schriftlich vorliegen muss, und die Konformität der Gesetze mit der Verfassung überwacht.
Folglich: Wer die Besetzungsverfahren der Richter*innenstellen solcher Gerichte dermaßen umbaut, dass nur die gerade herrschende Partei (oder Koalition) bestimmt und eine Situation eintritt, wie sie für Staaten mit einer Einparteienherrschaft typisch ist, der führt Sprengstoff ins demokratische System ein.
Wenn ein Parlament, wie es die israelische Regierung vorhat, mit einfacher Mehrheit höchst- und verfassungsgerichtliche Entscheidungen aushebeln kann, ist die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt.
Die Gewaltenteilung ist keine Idee, die jemand einmal bei einem guten Glas Bordeaux in einem sehr schönen Anwesen mit einem erholsamen Blick in eine wohlgestaltete Gartenlandschaft und einer wohlbestallten Bibliothek im Rücken hatte, sondern die theoretische Ausformulierung einer Rechts- und Staatspraxis, die sich im Zuge unzähliger politischer und sozialer Konflikte, die zu lösen waren, etabliert hat. Es gibt nichts Praxisrelevanteres in der Demokratie.