[1] Wer im Wissenschaftsbetrieb würde sich beim Stichwort „abgebrochene Forschung“ nicht mindestens kurz selber besinnen und fragen „Trifft das auch mich?“ Heinz Duchhardt hat in seiner neuesten Studie ein heikles Thema aufgegriffen. Es geht um, laut und deutlich angekündigte, zweite Bände, die nie erschienen sind: „Abgebrochene Forschung. Zur Geschichte unvollendeter Wissenschaftsprojekte“. Das Buch ist im Mohr Siebeck Verlag, Tübingen erschienen, was viel Sinn macht, da einige der besprochenen Autoren mit diesem Verlag verbunden waren und das Verlagsarchiv manche Erhellung beisteuern konnte. Einen darüber hinausgehenden Zusammenhang zwischen Thema und Verlag gibt es nicht!
[2] „Abgebrochene Forschung“ ist verwandt mit Scheitern. Wer spricht in der Wissenschaft schon gerne übers Scheitern? „Scheitern“ als historisches Untersuchungsthema existiert zwar, aber steht nicht im Mittelpunkt thematischer Interessen. Und doch steht im Wissenschaftsalltag das Scheitern – genau genommen – ziemlich im Mittelpunkt.
[3] An Gutachter*innen gescheiterte Drittmittelprojekt- und Stipendienanträge, am Peer-Review gescheiterte Einreichungen von Aufsatz- und Buchmanuskripten, immerhin teilweise gescheiterte Archiv- und Bibliotheksbesuche… Gescheiterte, da nicht beendete, Bachelor- und Master-Studien: Jährlich führt nur ein eher geringer Prozentsatz der eingeschriebenen Studierenden ein Studium zum Abschluss. Gescheiterte Dissertationen – nicht die Regel, aber auch keine Ausnahme.
[4] Jede*r könnte wissenschaftliche Aufsätze zitieren, wo mindestens in einer Fußnote die künftige Vertiefung dieses oder jenes im Aufsatz anskizzierten Aspekts von der Autorin oder dem Autor für sich reserviert wird. Und worauf noch heute zu warten ist.
[5] Gescheiterte Stellenbewerbungen, gescheiterte Berufungen… Muss ich fortfahren? Wohl kaum. Abbruch und Scheitern gehört zur Wissenschaft im Sinne von Forschung und Institution einfach dazu. Ohne Scheitern und Abbruch kein Erfolg – jedenfalls aufs Ganze des Wissenschaftsbetriebs gesehen.
[6] So weit geht Heinz Duchhardt freilich nicht, er hält sich an das, was quellenmäßig belegbar ist. Der Autor hat neun deutschsprachige Historiker (im weitesten Wortsinn) des 20. Jahrhunderts ausgesucht, die zu einem grundlegenden Werk gleich den zweiten Band (in einem Fall den zweiten und dritten Band) ankündigten, diesen aber nie verfassten. Die Folgen davon? Wenig schlechtes Gewissen, leicht verzweifelte Verleger, post mortem kontaktierte Angehörige, die nicht weiterhelfen konnten. Der wissenschaftliche Schaden aufgrund der nie gefüllten Lücke: Inexistent!
[7] Aber wer sind nun die Protagonisten dieses sehr handlichen und spannend zu lesenden Büchleins? Es gibt nur Protagonisten, keine Protagonistinnen, was im wesentlichen dem Umstand geschuldet ist, dass nur wenige Historikerinnen in der Zeit, um die es geht, auf einen Lehrstuhl kamen. Es werden keine noch lebenden Historiker behandelt.
[8] Historiker oder Geschichte als Fach ist weit gefasst, Rechts- und Philosophiegeschichte gehören dazu. In der Reihenfolge des Buches: Rudolf Smend, Reichskammergericht (Bd. 1, 1911, Bd. 2 nie erschienen). Hans Uebersberger, Russlands Orientpolitik in den letzten zwei Jahrhunderten (Bd. 1, 1913, Bd. 2 nie erschienen). Paul Joachimsen, Geschichtsauffassung und Geschichtsschreibung unter dem Einfluss des Humanismus (Bd. 1, 1910, Bd. 2 nie erschienen). Georg von Below, Der deutsche Staat des Mittelalters (Bd. 1, 1914, Bd. 2 nie erschienen). Karl Joël, Geschichte der antiken Philosophie (Bd. 1, 1921, Bd. 2 nie erschienen). Gerhard Ritter, Die Heidelberger Universität (Bd. 1: Das Mittelalter, 1936; geplante ca. 2 Folgebände nie erschienen). Heribert Raab, Clemens Wenzeslaus von Sachsen und seine Zeit (1739-1812) (Bd. 1, 1962, Bd. 2 nie erschienen). Martin Göhring, Alles oder Nichts (Inhalt: Geschichte des nationalsozialistischen Deutschlands; Bd. 1 zu den Jahren 1933-1939: 1966, Bd. 2 nie erschienen). Konrad Repgen, Die römische Kurie und der Westfälische Friede (Bd. 1 in zwei Teilbänden 1962,1965; Bd. 2 nie erschienen).
[9] Die Kapitel folgen alle einem gleichmäßigen Untersuchungsschema: Familiäre und soziale Herkunft der Wissenschaftler, akademischer Werdegang, die hier interessierende Publikation und ihre Stellung im wissenschaftlichen Œuvre sowie in der einschlägigen Forschung, Rezensionen, Beziehungen Autor-Verlag, allfällige autobiografische Zeugnisse, allfällige konkrete Antworten auf die Frage, warum ein meistens vollmundig angekündigter zweiter Band nicht realisiert wurde. Der Erste und der Zweite Weltkrieg spielen klarerweise eine große Rolle, dazu kommen familiäre Schicksalsschläge und z. B. schwere Erkrankungen (s. dazu: Duchhardt, Blinde Historiker, 2021).
[10] Wenn man die neun Kapitel hintereinander weg liest, bekommt man zunächst einmal einen sehr guten Eindruck des Wissenschaftsbetriebs, vorwiegend in Deutschland, an zweiter Stelle in der Schweiz, und an dritter Stelle in Österreich, genauer gesagt, Wien. Es entsteht ein sehr lebendiges Bild eines heute immer schneller verschwindenden Wissenschaftssystems am Beispiel historischer Fächer, das seine große Zeit zwischen dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts und den 1960er Jahren erlebte. Der im abschließenden Kapitel behandelte Konrad Repgen wurde 1962 erstmals auf eine Professur berufen.
[11] Das Jahrhundert wird stark durch die zwei Weltkriege und die damit verbundenen Nachkriegszeiten, die im Fall der 1920er und 1930er Jahre zur Zwischenkriegszeit wurden, geprägt. Uebersberger und Göhring verbanden sich mit der NSDAP.
[11] Bei den Publikationen, um die es geht, handelt es sich meistens um Habilitationsschriften, teilweise aber auch um andere Genres: Die Erforschung der Geschichte der Universität Heidelberg war eine Auftragsforschung; Göhrings Versuch einer zweibändigen Gesamtdarstellung der Nazi-Zeit hatte anfangs auch mit einem Auftrag zu tun, das Publikationsprojekt wurde davon aber später gelöst.
[12] Um es so zu sagen: Es gab (und gibt) kein Schema F, nach dem sich einigermaßen zuverlässig sagen ließe, warum eine angekündigte Fortsetzung dann doch nicht zustande kam. Es gibt kein Rezept, sich davor zu wappnen! Vielleicht hat das ein bisschen mit der nicht besonders guten Quellenüberlieferung zu tun, da etliche Verlagsarchive die Weltkriege nicht oder nur rudimentär überstanden. Auch die Nachlässe sind eher dürftig bzw. noch gesperrt.
[13] Alle Werke waren sehr wichtigen Forschungsthemen gewidmet; im allgemeinen wurden sie in den Rezensionen begrüßt, die angekündigte Fortsetzung als sinnvoll angesprochen. Göhrings erster Band zur NS-Zeit kam weniger gut weg, Ritters erster und einziger Band zur Heidelberger Universitätsgeschichte wurde recht unterschiedlich aufgenommen – aber das ist der normale Gang in Wissenschaft und Forschung.
[14] Teilweise lässt die Überlieferung Zweifel aufkommen, ob der angekündigte Fortsetzungsband tatsächlich schon soweit gediehen war, wie von den Autoren behauptet wurde, teilweise muss dies aber gestimmt haben. Göhring verstarb über dem zweiten Band zur NS-Zeit, Gerhard Ritter bemühte sich, was gut belegt ist, um die Fortführung der Archivforschungen zur Universitätsgeschichte, Konrad Repgen hatte das Quellenmaterial beisammen. Allen erging es aber in dem Punkt ähnlich, dass die Universitätslaufbahn zu viele neue Pflichten und Aufgaben mit sich brachte, als dass ein in jüngeren Jahren abgelegtes quasi-Gelübde, Band zwei alsbald folgen zu lassen, hätte eingelöst werden können.
[15] Außerdem entwickelt sich Forschung permanent methodisch, konzeptuell und in ihrer Theorieorientierung – nach zwei, drei Jahrzehnten entsteht schnell der Eindruck, dass der damalige Ansatz inzwischen mindestens teilweise überholt sei.
[16] Besonders nachdenklich macht die Einschätzung von Heinz Duchhardt, dass das Ausbleiben eines zweiten Bandes eigentlich in keinem der Fälle zu einer empfindlichen Forschungslücke geführt habe, obwohl die jeweils ersten Bände wichtige Forschungslücken gefüllt hatten.
[17] Mag aus diesem Befund jede*r ganz persönliche Schlüsse ziehen. Ein wenig Trost stellt der Autor bereit: Im „Schluss“ nennt er einige nach Jahrzehnten dann doch fertig gestellte zweite Bände…
[18] Ich habe das Büchlein in einem Zug gelesen, fand es spannend, in jeder Hinsicht einfühlsam, eine Zeitgeschichte aus einer unerwarteten Perspektive, und – im besten Wortsinn! – unterhaltsam!
Dokumentation: Heinz Duchhardt: Abgebrochene Forschung. Zur Geschichte unvollendeter Wissenschaftsprojekte. Verlag Mohr Siebeck, Tübingen, 2020. ISBN: 9783161590412 (auch als eBook erhältlich). 221 S. inkl. Personenregister. Buch auf der Verlagsseite: hier.
Zu Martin Göhrung hat Heinz Duchhardt auch eine Biografie geschrieben (2018).
Zu Karl Joël vgl. auch: Schmale, Gesellschaftliche Orientierung (2021), S. 211-217.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: „Abgebrochene Forschung“ – Eine neue Studie von Heinz Duchhardt. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/abgebrochene-forschung-eine-neue-studie-von-heinz-duchhardt, Eintrag 10.02.2020 [Absatz Nr.].
Danke für die schöne Zusammenfassung! Ich freue mich auf die Lektüre.
Ähnlich viel beschwiegen werden heute gescheiterte Drittmittelanträge, obwohl es den AntragstellerInnen helfen würde, darüber zu reden, ebenso den Förderorganisationen, letzteren vielleicht sogar mehr, als ihnen lieb wäre.
Ob das Scheitern für das Fach einen hohen Verlust bedeutete, kann man ex post vielleicht ebenso lakonisch betrachten wie Heinz Duchardt. Es wird bekanntlich viel publiziert.
Gleich vorab möchte ich hier an dieser Stelle darauf hinweisen, dass am 18.6.2020 Brigitta van Rheinberg, ehemalige Cheflektorin und jetzt stv. Direktorin von Princeton UP zu uns bzw. zum Research Center for the History of Transformations (RECET) kommt, um über die (sehr tiefen) Transformations in Global Publishing zu sprechen. Ort und Zeit werden noch bekannt gegeben, 15 oder 16 Uhr am IOG oder in der Alten Kapelle.
Herzliche Grüße
pt