Autorin: Andrea Romstorfer
[1] In seiner vielzitierten Vorlesung am Collège de France sprach Michel Foucault 1970 über seine Thesen von der Ordnung des Diskurses. Dieser sei ein „bevorzugter Ort“ für die Politik, um „einige ihrer bedrohlichsten Kräfte zu entfalten.“ Nebst dem Verbotenen Wort und Willen zur Wahrheit, dient die Grenzziehung im Diskurs als Prinzip der Ausschließung. In diesem Essay wird die Grenze zwischen den Kategorien links und rechts im politischen Diskurs gezogen und diskutiert. Jede Seite des politischen Spektrums strebt die Verbreitung der internen Doktrin an. Die Zusammengehörigkeit ergibt sich durch die übereinstimmende Anerkennung der spezifischen Wahrheit und gemeinsamer moralischer Verbindlichkeiten. Dabei geht es nicht um die Wahrheit der Aussage, sondern darum, das Individuum durch diskursive Kontrolle als Mitglied der eigenen Gruppe anzuerkennen oder auszuschließen (vgl. Foucault).
[2] Die Einteilung politischer Aussagen und Positionen nach dem links/rechts-Schema ist ein Modell mit längerer Geschichte. Es gibt Datierungsvorschläge, die bis zum Baseler Konzil von 1431 zurückgehen, oder der Sitzordnung im englischen Parlament seit 1730. Ferner scheint es Konsens darüber zu geben, dass die Platzierung in der französischen Nationalversammlung von 1789 bzw. der Pariser Deputiertenkammer von 1814 die Einteilung in links und rechts bis in die Gegenwart geprägt hat. So saßen die Vertreter des Ministeriums rechts vom Parlamentspräsidenten, und jene der Revolution auf der linken Seite (vgl. Dreier; Soziopod #028).
[3] Seit dem 19. Jahrhundert hat sich ein tendenziell wertbezogenes Verständnis des links/rechts-Schemas durchgesetzt. Zur Linksdefinition sind in diesem Zusammenhang die Leitideen der Selbstbestimmung durch Erweiterung personaler Autonomie und Emanzipation, die Ausweitung politischer Partizipation, sowie der universellen Freiheit und Gleichheit (von Individuen und Gruppen) zu nennen. Umsetzung und Begründung dieser Ideen sind durch ein anzustrebendes Höchstmaß an Rationalität gekennzeichnet. Die Rechtsdefinition bezieht sich auf den (gemäßigten bis radikalen) Erhalt des Status quo, welcher auf der Positionierung von Gruppen und Individuen in einer hierarchisch gestuften Gesellschaftsordnung beruht, sowie die Betonung traditioneller bzw. natürlicher Hierarchien. Die gesellschaftlichen Entscheidungsstrukturen werden als natürlich betrachtet und daher nicht zur Disposition gestellt. Soziale Ungleichheiten werden mitunter durch „überrationale Bezüge“, wie Gott oder Natur, legitimiert (vgl. Holzer).
[4] Zum Begriff Populismus sind viele Erklärungen zu finden, je nach Sprache unterschiedlich im Detail. Dieser Essay folgt einer Beschreibung, welche auf die Darstellung gesellschaftlicher Kategorien, den rhetorischen Stil der Vermittlung und den Inhalt der Aussagen abzielt. In einer repräsentativen Demokratie ist die Zustimmung der Wähler ausschlaggebend für den Erfolg einer Partei bzw. eines Programms. So kann Populismus als ein Ensemble von Strategien verstanden werden, die Aufmerksamkeit erregen sollen. Dazu gehört, dass die Realität möglichst vereinfacht dargestellt wird. Das Mobilisieren von Gefühlen und homogenisierende Vorstellungen von der Gesellschaft (das Volk) sind ebenfalls Charakteristika populistischer Agitation (vgl. Duden und Deutsche Bundeszentrale für politische Bildung).
[5] Jan Werner Müller sieht auch die Überhöhung einer bestimmten Gruppe (das wahre Volk) als ausschlaggebendes Merkmal und die Ansicht, dass nur diese das Recht auf Teilnahme an politischen Entscheidungsprozessen hat. Diese anti-pluralistische und anti-demokratische Tendenz setze sich fort, indem sich Populisten als einzig legitime Repräsentanten dieser exklusiven Gruppe porträtieren, und behaupten, deren kollektiven Willen (gegebenenfalls im Voraus) zu kennen. Die populistische System- und Elitekritik erscheint ihm ebenso fragwürdig. Der Vorwurf steht im Raum, dass Populisten nur dann Kritik üben, solange sie zur Opposition gehören und diese verstumme, sobald sie regieren. Denn das System, das für die Verteilung gesellschaftlicher Ressourcen und Machtkompetenzen verantwortlich ist, bleibt unhinterfragt (vgl. Müller).
[6] Zusammenfassend begreife ich Populismus nicht als eigenständige Ideologie, denn ihm fehlt es an spezifischen Ideologemen. So kann es scheinbar sowohl Links- als auch Rechtspopulisten geben. Eine linke und eine rechte Lesart derselben Ideologie?
[7] Chantal Mouffe zum Beispiel, tritt für die Entwicklung eines Linkspopulismus ein. Politik bedeutet für sie, eine Grenze zwischen links und rechts zu ziehen, also, Partei zu ergreifen. Ein Verschwinden dieser ideologischen Grenzen ist in ihren Augen kein Fortschritt, vielmehr eine Gefahr, die sich im Abbau demokratischer Standards und Gleichheit widerspiegelt. Der Erfolg der Rechtspopulisten resultiert für sie aus der zunehmenden Übereinstimmung von Werten und Positionen der traditionellen Großparteien (Konservative und Sozialdemokraten). Vielerorts nehmen die Wähler diese Annäherung als Angleichung auf, sehen keinen Unterschied mehr und keine politische Repräsentation, die für sie spricht. Von dieser Situation profitieren Rechtspopulisten, da ihre Aussagen außerhalb des etablierten Diskurses liegen. Populismus versteht sie als Mobilisierung der Gefühle, ein der progressiven Politik der Rationalität entgegengesetzter Stil. Seine Stärke bestehe darin, dass nicht nur nüchterne Argumente, sondern auch Gefühle und Begehren der Bürger berücksichtigt werden. Die Grenze zwischen links und rechts sei nur scheinbar aufgelöst. Sie erkennt dies als Täuschung und Ursache für die Krise der Demokratie. Um dem Rechtspopulismus eine angemessene Strategie entgegenzuhalten, empfiehlt sie Linkspopulismus. Dieser unterscheide sich vor allem dadurch, dass er den Fokus auf demokratische Entwicklungen legt und zeitgenössische Kritik an den Kräfteverhältnissen thematisiert. Auf diesem Weg können die Anliegen jener Gruppen miteinbezogen werden, die sich derzeit nicht angemessen vertreten fühlen. Eine Politik also, die das Licht von MigrantInnen (o.a. Feindbild-Gruppen) auf das neoliberale System projiziert. Eine, die bereit ist Institutionen des demokratischen Systems umzuformen, um wieder Unterschiede zu repräsentieren und der Bevölkerung eine „echte Wahl“ anzubieten. Linkspopulismus strebt demnach den Umbau der Gesellschaft an und muss sich zu einem politischen Kampf entwickeln (vgl. Mouffe; Mouffe und Brugère).
[8] Es scheint, als ob Populismus eine Agitationsstrategie von ideologisch bereits vorgestalteten Positionen ist. Eine demagogische Weiterentwicklung sozusagen, angepasst an zeitgenössische Kommunikationsbedingungen und politische Zwänge (Wählerzustimmung). Es wird daher zur Diskussion gestellt, dass Rechtspopulismus Ideologeme nationalistischer und konservativer Politik präsentiert. Populistisch mag man die Struktur der Agitation beschreiben: laut und demagogisch, mobilisierend und aufwieglerisch, für eine exklusive Gruppe sprechend, mit der Tendenz zu unterkomplexen Lösungsvorschlägen.
[9] Inhaltlich lassen sich die rechtspopulistischen Positionen dem Konservatismus zuordnen. Dazu gehören Vorstellungen von Gesellschaft als natürlich gewachsene Gemeinschaft, oftmals bedingt durch Nationalismus, Ethnozentrismus und Überhöhung des Eigenen. Außerdem sind typische Feindbildkonstruktionen (U.S.A., E.U., MigrantInnen, MultikulturalistInnen), Islamfeindlichkeit (anti-muslimischer Rassismus), Antifeminismus bzw. Bekenntnis zum konventionellen Rollenbild, Chauvinismus, Antipluralismus, impliziter und expliziter Antisemitismus zu nennen. Liberal ist oftmals nur die Wirtschaftspolitik (vgl. Eismann; Holzer).
[10] Kann Rechtspopulismus als zeitgenössische Form national-konservativen Protests gegenüber einem liberalen Wertekonsens gelesen werden? Erleben wir Ausdrücke konservativen Widerstands von unten?
Beispielsweise gegen die vielzitierten Europäischen Werte, welche sich u. a. auf die UN-Menschenrechtserklärung von 1948 berufen, oder die europäischen Emanzipationsgeschichten (z.B.: Französische Revolution 1789, Märzrevolution 1848, 1968er und grüne Bewegungen). Traditionell linke Werte und Positionen wurden zunehmend zum common sense: Antirassismus, Emanzipation, Gleichberechtigung der Geschlechter und Partnerschaften unterschiedlicher Orientierung, individuelle Freiheit, Chancengleichheit, Toleranz, Rede- und Gedankenfreiheit etc. Rechtspopulistische Programme stellen viele dieser Positionen infrage; so manches Element im Diskurs fällt einer opportunistischen Polemik zum Opfer (z.B.: „das Recht auf Heimat“ aus dem Parteiprogramm der FPÖ 2005).
[11] Ich lese dies als national-konservative Kritik an etablierten liberalen Werten. Was nur weitere Fragen aufwirft: Wie weit weg ist die Vergangenheit von jedem Einzelnen? Welche Vergangenheit ist wem wie nahe oder fern? Ist die nationalsozialistische, die zwischenkriegszeitliche und die weltkriegszeitliche Vergangenheit weit weg? Ist die Türkenbelagerung vor Wien von 1683 so nah?
[12] Die Kommunikation über Vergangenheit hat edukative, sozialisierende und identifikatorische Effekte; die Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses beim Menschen prospektive Vorteile. Doch die Hoffnung, aus der institutionalisierten und organisierten Erinnerung an prägende Ereignisse, im Sinne der Aufklärung, positiven Einfluss auf zukünftige Generationen üben zu können, scheint getrübt. Erinnerungskulturelle Prozesse zur Weitergabe von Wissen und moralischen Verbindlichkeiten gestalten sich nicht nach dem Paradigma der Effizienz. Die Selektivität der tradierten Erinnerungen und das Vergessen sind nicht zu unterschätzen. Das Gleiche gilt vermutlich auch für jene identitätsstiftenden Diskurse der politischen Sozialisation. Aussagen, Positionen und Werte, die dem rechten Spektrum zuzuordnen sind, gehören zur Summe des imaginären Quellenkorpus und werden vermutlich im Zuge der erinnerungskulturellen Prozessmuster – zum Teil völlig unreflektiert – mitpraktiziert (vgl. Landwehr).
[13] Trotzdem oder deshalb hat die ideologische Rückkehr zum Nationalismus einen verzweifelten Beigeschmack. Es fällt mir schwer Argumente zu finden, die schlüssig und überzeugend erklären, wie der Rekurs auf Nationalismus als konstruktives Angebot, für gegenwärtige und zukünftige Generationen, dienen kann. Zumal die selbsternannten „Beschützer der Heimat“ Konkurrenz statt Solidarität befeuern und ein gegeneinander dem miteinander vorziehen. Es stellt sich zu Recht die Frage nach der Zweckmäßigkeit, vor dem Hintergrund einer wachsenden europäischen (und globalen) Annäherung in Sachen Information, Kommunikation, Kultur und Wirtschaft.
[14] Zu begrüßen ist die Forderung, dass linke Politik sich thematisch auf (Um-)Verteilungsverhältnisse, Machtkompetenzen und Chancengleichheit fokussieren sollte. Neoliberalismus, als ideologische Untermauerung des zeitgenössischen Kapitalismus, tendiert dazu alle Bereiche des Lebens marktwirtschaftlichen Zielen unterzuordnen. Dies hat einen Abbau demokratischer Standards (Gleichheit) und die Auflösung demokratischer Entscheidungsprozesse (politische Partizipation) zur Folge. Doch eine populistische und dogmatische Identitäts-Politik halte ich für überflüssig bis unberechenbar. Kollektive Identitäten lassen sich nicht kontrolliert steuern, sie (re-)formieren sich dynamisch im Diskurs. Ein progressiver Diskurs sollte sich vielmehr nach der Frage richten, wie weit die Marktwirtschaft in die Lebensbereiche eindringen darf und wo Grenzen gesetzt werden müssen (vgl. Brugère). Damit können viele Gruppen angesprochen werden, was demagogische Polemik überflüssig macht.
Dokumentation:
Literatur zum Nachlesen
Michel Foucault, Die Ordnung des Diskurses. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Mein 1991, 13. Auflage vom August 2014. (Zitat S. 11)
Ralf Dreier, Bemerkungen zum rechts/links-Schema. In: Kritische Justiz, 1988, Vol.21(4), S. 442-448.
Chantal Mouffe, On The Political. In: (Hg.) S. Critchley and R. Kearney, Thinking in Action. Routledge Taylor & Francis Group, London/New York 2005.
Willibald I. Holzer, Rechtsextremismus-Konturen. Definitionsmerkmale und Erklärungsansätze. In: (Hg.) Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes, Handbuch des österreichischen Rechtsextremismus. 2. Auflage, Deuticke Verlag, Wien 1993. (Zitat S. 21)
Jan-Werner Müller, Was ist Populismus? Ein Essay. Suhrkamp Verlag, Berlin 2016.
(Hg.) Wolfgang Eismann, Rechtspopulismus. Österreichische Krankheit oder europäische Normalität? Czernin Verlag, Wien 2002.
Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse. In: (Hg.) A. Gestrich, I. Marßolek et. al., Historische Einführungen. Band 8, 4. Auflage 2004, Edition Diskord, Tübingen 2001.
Onlinequellen
ARTE Square, „Braucht es linken Populismus?“ Sendung vom 22.11.2016 mit Chantal Mouffe und Fabienne Brugère. Video im Archiv der Autorin. Abrufbar unter:
http://sites.arte.tv/square/de/braucht-es-linken-populismus-square
https://www.youtube.com/watch?v=QEJU736Kij
„Populismus“ lt. Duden: http://www.duden.de/rechtschreibung/Populismus
„Populismus“ lt. Bundeszentrale für politische Bildung: https://www.bpb.de/apuz/75845/populismus
Nils Köbel und Patrick Breitenbach, Soziopod #028 „Rechtsextremismus – ganz rechts draußen“: http://soziopod.de/2013/05/soziopod-028-rechtsextremismus-ganz-rechts-drausen/#t=11:00.212
Parteiprogramm der FPÖ von 2005: http://www.fpoe-bildungsinstitut.at/parteiprogramme-konzepte
Zur Person: Andrea Romstorfer ist Dissertantin an der Historisch Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Wien. Forschungsschwerpunkte: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft, Zeit- und Gegenwartsgeschichte (darunter: Nationalismusgeschichte, Identifikation und Gedächtnis), erinnerungskulturelle Prozessmuster.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Andrea Romstorfer: (Rechtspopulismus: konservativer Protest von unten oder alter Nationalismus in neuer Gestalt?) . In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/andrea-romstorfer-ueber-rechtspopulismus, Eintrag 22.05.2017 [Absatz Nr.].