Das Herzstück der Rede der deutschen Bundeskanzlerin vor dem Europäischen Parlament in Straßburg am 13. November 2018 stellte die inhaltliche Ausfüllung des Begriffs „Europäische Solidarität“ dar.
Solidarität ist nur dann, wenn sie praktisch und konkret ist. Das wussten schon Jean Monnet und Robert Schuman; die berühmte Schuman-Erklärung vom 9. Mai 1950, die den Grundstein für die EGKS-Verhandlungen legte, sagt ausdrücklich: „(L’Europe) se fera par des réalisations concrètes, créant d’abord une solidarité de fait.“
Seit dem 18. Jahrhundert bis in die zweite Hälfte der 1940er-Jahre gab es niemals einen Mangel an Europa-Visionen. Erst als um 1950 daran gegangen wurde, solche Visionen in konkrete gangbare Einzelschritte zu zerlegen und diese Schritte dann tatsächlich zu tun, begann es, dass Europäische Einheit funktionierte – immer mehr bis zur heutigen EU.
Angela Merkel wird gerne vorgehalten, sie sei überhaupt keine Visionärin. Das mag sein, aber sie hat die Praxeologie der Europäischen Einheit wie niemand anderes verstanden und zieht daraus eine europapolitische Substanz, die man sich von allen verantwortlichen Politiker*innen wünschen würde.
Also detailliert sie, was Europäische Solidarität bedeutet. Es ist ein zentraler Wertbegriff, der auch im EU-Vertrag eine wichtige Rolle spielt. Er inkludiert Toleranz und Respekt – und vor allem den festen Willen zur Einheit, der mehreren Regierungen abhanden gekommen ist.
Die Bundeskanzlerin skizziert drei Handlungsfelder: Die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, die Migrations- und Flüchtlingspolitik, sowie den digitalen technologischen Fortschritt als Schlüsselbereich nicht nur der Zukunft sondern bereits der Gegenwart.
Solidarität ist dabei jeweils der Schlüssel der Einheit, zugleich die Garantie für alle Staaten in der EU, dass sie – eben als Staaten überleben werden. Diese Einsicht ist richtig.
Wie sehr die Realität von der Solidarität entfernt ist, macht Angela Merkel in aller Deutlichkeit klar. Anders als ihre männlichen Kollegen im Amt eines Regierungschefs gibt sie fehlerhafte politische Entscheidungen in der Vergangenheit zu. Auch da kann man sagen, dass Solidarität in Europa ganz praktisch verstanden mit Ehrlichkeit zu tun hat.
Ihre europapolitischen Vorschläge sind realistisch: Eine europäische Armee – eine sinnvolle Antwort darauf, dass die USA sich mit oder ohne Trump immer weniger in der NATO engagieren, diese aber weder verlassen noch aufgeben werden. Ein „Europäischer Sicherheitsrat“, der die außen- und sicherheitspolitische Effektivität der EU-Mitglieder erhöhen würde. Die „nationale Souveränität“ ist ja in Wirklichkeit nichts wert, sondern vielmehr kontraproduktiv, wenn man sie nicht jeweils neu und zeitgemäß konfiguriert. So muss nationale Kompetenz an Frontex übertragen werden, und dasselbe gilt für die Außen- und Sicherheitspolitik.
Dass die Bundeskanzlerin eine „europäische Einlagensicherung“ in Aussicht stellt, vorausgesetzt, nationale Risiken für die Gemeinschaft werden noch abgebaut, ist ebenso pragmatisch wie realistisch.
Dass die Rede inhaltlich sehr viel weniger nüchtern war, als es Angela Merkel unterstellt wird, zeigen die z.T. erhitzten positiven wie negativen Reaktionen im Hohen Haus. Sie rührt an sehr neuralgische Punkte. Nun war das schon immer so: Monnets und Schumans „solidarité de fait“ klang schon immer unspektakulär und geradezu anti-visionär – und doch hatte dieser scheinbar einfache Ausdruck revolutionäres Potenzial in sich. Und nicht anders kann man die Veränderung Europas seit ca. 1950 bezeichnen.
Angela Merkel steht in der Folge dieser europapolitisch sehr effektiven Praxeologie. Wer diese unterschätzt, ist selber schuld.