Als atlantische Demokratie lassen sich die drei in der westlichen-atlantischen Aufklärung wurzelnden politischen Systeme des Vereinigten Königreichs, der USA und Frankreichs bezeichnen. Die atlantische Demokratie legte einst den Grundstock für den Westen. Alle drei Systeme stecken tief in der Krise und stehen für Chaos, Blockade, Stillstand, Versagen, Irrationalismus, Verantwortungslosigkeit, Missbrauch des Systems. Die Kosten der Systemdysfunktionalität in den drei Ländern sind für die anderen – die Nachbarn, Partner, den Westen – inzwischen sehr hoch. Der Westen wird durch diese drei West-Länder mehr destabilisiert als durch die Russländische Föderation oder andere.
[1] Zum politischen System in den USA, im Vereinigten Königreich und in Frankreich drängen sich nur noch Negativa auf: Chaos, Blockade, Stillstand, Versagen, Irrationalismus, Verantwortungslosigkeit, Missbrauch des Systems.
[2] Die älteste der drei Demokratien ist die englische, während die US-amerikanische und die französische kurz hintereinander im Zuge der Atlantischen Revolution am Ausgang des 18. Jahrhunderts errichtet wurden.
[3] Die französische Demokratie war dabei zunächst die unvollkommenste, da man sich von 1789-1791 mit einer konstitutionellen Monarchie zufriedengab und dann nach einem konfliktreichen Jahr 1791-1792 die erste Republik ohne König errichtete. Mit dem Staatsstreich Napoleons 1799 war das vorbei.
[4] Dessen ungeachtet war es bezeichnend, dass die drei mächtigsten Länder des damaligen atlantischen Raums zwar unterschiedliche, aber eben doch (proto-)demokratische Wege gingen. Bei aller Unterschiedlichkeit etablierten sie DAS Modell für den modernen Staat schlechthin.
[5] Das englische Modell wurde seit der Glorreichen Revolution 1688 immer wieder, auch im 19. Jahrhundert reformiert, das US-amerikanische ist auf dem Verfassungspapier bis heute erstaunlich stabil, geradezu historisch geblieben, auch wenn diverse Verfassungszusätze für erforderliche Reformen stehen.
[6] Frankreich fand erst 1871-1875 zur republikanischen, demokratischen Form. Genau genommen muss man in allen drei Fällen von Proto-Demokratie sprechen, denn das Frauenwahlrecht wurde in Frankreich erst nach dem Zweiten Weltkrieg eingeführt, in den USA staatenweise seit dem späten 19. Jahrhundert, im Vereinigten Königreich 1918. Bestimmte Bevölkerungsgruppen waren dennoch vom Wahlrecht ausgeschlossen. Indianer erhielten in den USA dieses Recht erst 1924, Afroamerikaner erst 1965.
[7] Das weitere Europa zog nur langsam nach, die drei atlantischen Vorbilder waren wichtige Anker bei der Entwicklung der modernen Demokratie.
[8] Sicher drängt sich insgesamt der Eindruck von „Demokratie in der Krise“ auf, allerdings darf man nicht vorschnell zu dieser Diagnose kommen. Dass extremistische Parteien genug Wähler*innenstimmen erhalten, um in ein Parlament einzuziehen, ist nicht automatisch Zeichen einer Krise.
[9] Dass populistische Parteien Regierungspartei werden, ist auch noch keine Krise; das wird es erst dann, wenn mit Verfassungsmehrheiten demokratische Verfassungen ausgehöhlt und autoritäre Elemente in die Verfassung eingebaut werden.
[10] Aber selbst wenn ein besorgter Blick auf einige ostmitteleuropäische Länder und etwa Italien gerechtfertigt ist, kann dort vorerst weder von Blockade, noch Stillstand, noch Versagen die Rede sein. Nicht einmal Irrationalismus trifft zu; Verantwortungslosigkeit und Missbrauch des Systems sind hingegen zunehmend Praxis.
[11] Über die Regierungs- und Verfassungspraxis des amerikanischen Präsidenten ist kaum Neues zu sagen; er polarisiert, segregiert, exkludiert, diffamiert, emotionalisiert, erniedrigt, beleidigt. Man staunt, was ein amerikanischer Ppräsident alles tun darf und kann, selbst wenn es unmoralisch, unethisch ist oder schlicht kleinlichen Rachegelüsten entspringt.
[12] Die Affären um Trump als Präsidenten zeigen aber, wie sehr das Amt von den charakterlichen, moralischen und ethischen Qualitäten des Amtsinhabers abhängt. Das politische System hält keine Instrumente vor, die hier schnell regulierend eingreifen würden. Vor allem erstaunt, in welchem Umfang es praktizierbar ist, ausschließlich die eigene Klientel – in absoluten Wähler*innenstimmen eine Minderheit – zu bedienen, ohne das Wohl Aller im Auge haben zu müssen. Wo ist die praktische Garantie im politischen System eingebaut, dass Regierungshandeln am Wohl Aller zu orientieren ist? Dies gehörte zu den Grundsätzen der Aufklärer, aus deren Denkfabrik die atlantische Demokratie stammt.
[13] Im Vereinigten Königreich blockieren sich Regierung und Parlament nach Kräften, die Queen ist für die großen Fragen nach Sinn und Zweck des Staats nicht zuständig. Offenbar sind aber ebensowenig die Regierung noch das Parlament dafür zuständig, diese eminent wichtige Rolle ist nicht besetzt, keine Funktionsstelle vorhanden. Das ist in den europäischen Demokratien mit Staatspräsident*innen [Abs. 1-12] zumeist besser gelöst.
[14] Gerade in bezug auf den Brexit ist das Ausmaß an Verantwortungslosigkeit und Irrationalismus erschreckend. Und noch erschreckender ist es, dass es keine verfassungsmäßige Handhabe dagegen gibt.
[15] USA wie UK schädigen nicht nur sich selbst, sondern viele andere Länder. Dies spricht entschieden dagegen, die Demokratie des 21. Jahrhunderts immer noch fast ausschließlich im nationalen Rahmen zu denken und zu konzipieren.
[16] Mit der EU wurde versucht, europäische demokratische Strukturen und Institutionen einzuführen; das mag unvollkommen sein, aber statt sich ausschließlich auf die Defizite zu konzentrieren, wäre es nötig, die Defizite und Nachteile rein nationalstaatlich konzipierter Demokratien gleichzeitig und im Vergleich mit der EU zu betrachten.
[17] Unter den drei atlantischen Demokratien steht Frankreich sicher besser da als die beiden anderen, aber die Demokratie erweckt den Eindruck, in Auflösung begriffen zu sein.
[18] Bei den letzten Präsidentschaftswahlen hat es die traditionsreichen Parteien (Sozialisten, Gaullisten, Liberale) völlig zerlegt – nicht erst bei den Wahlen, der Zerfallsprozess dauert schon länger.
[19] Etwas verlässliches Neues ist nicht an deren Stelle getreten, die Bewegung und jetzt Partei von Präsident Macron ist nicht gefestigt. Im Vergleich zur spontanen Partei der Aufständischen (u.a. Gelbwesten) ist sie schwach. Die Regierung bekommt die Probleme nicht in den Griff, die zum Teil sehr alten Probleme wie die enorme soziale Schieflage werden keiner Lösung näher gebracht.
[20] Liegt das am politischen System oder an der begrenzten politischen Begabung der Akteur*innen? Da der Präsident der Regierungschef ist, kann er als Staatspräsident nicht den Unparteischen, der über den Konflikten und Konfliktparteien steht, geben.
[21] Während in den USA und im Vereinigten Königreich verantwortungsvollere Akteur*innen das politische System wieder flott machen könnten, scheint das in Frankreich weniger aussichtsreich, da die Systemkrise nicht aus der Verantwortungslosigkeit sei es des Premierministers, sei es des Präsidenten, sei es des Parlaments, sei es des Senats entstanden ist.
[22] Allerdings sind politische Systeme, die mit der charakterlichen Qualität der Akteur*innen stehen oder fallen, wohl schlecht konstruiert. Sie müssen auch dann ohne Blockaden im Staat funktionieren können, wenn die Akteur*innen ihren Aufgaben nicht gewachsen sind.
[23] Alle drei Länder brauchen einen Verfassungskonvent. Die Defizite und Gründe für die Dysfunktionalitäten müssen genau erhoben und analysiert werden. Danach muss eine Verfassungsreform kommen. In allen drei Ländern ist das Wahlrecht kritisch zu überprüfen, ebenso der Funktionszuschnitt für das Staatsoberhaupt.
[24] Die Kosten der Systemdysfunktionalität in den drei Ländern sind für die anderen – die Nachbarn, Partner, den Westen – inzwischen sehr hoch. Der Westen wird durch diese drei West-Länder mehr destabilisiert als durch die Russländische Föderation oder andere.
[25] Die atlantische Demokratie legte einst den Grundstock für den Westen…
Dokumentation: Das Bild zum Blog zeigt ein Porträt Montesquieus, das in seinem Arbeitszimmer in La Brède hängt. Montesquieu wird mit dem Verfassungsprinzip der Gewaltenteilung (Buch „Vom Geist der Gesetze“, 1748) eng verbunden, die vermeintlich in der englischen Verfassung verwirklicht gewesen sei.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Atlantische Demokratie am Ende: USA, Vereinigtes Königreich, Frankreich. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/atlantische-demokratie, Eintrag 19.01.2019 [Absatz Nr.].