logo
  • Home
  • Europa-Tagebuch
  • Digital Humanities
  • Europa-Bilder
  • Noch mehr Europa
    • Feuilleton
    • Urfassungen
    • Gastbeiträge
  • Über mich

Bulgarien: Patriotische Geschichte und Europäismus

Datum: 24 Jul 2016
Von: Wolfgang Schmale
Tags: Bulgarien, Europäismus, Koprivschtitsa, Patriotismus, Sofia
Kommentare: Comments are off

 

[1] Nach dem Brexit-Votum vom 23. Juni 2016 wirken die vielen EU-Flaggen und Hinweisschilder auf die Förderung eines Projekts mit EU-Geldern in Bulgarien, wo ich vom 25. Juni bis 1. Juli 2016 unterwegs war, auf dem Land ebenso wie in der Hauptstadt Sofia, geradezu wohltuend. Überall ist sichtbar, wo EU-Gelder hinfließen und was damit unterstützt wird.

Haus der Lesegesellschaft Koprivschtitsa, Bulgarien. Foto: Wolfgang Schmale

Haus der Lesegesellschaft Koprivschtitsa, Bulgarien, mit EU-Förderung. Foto: Wolfgang Schmale

[2] Die große Zahl der Informationsschilder zeigt zugleich, dass Bulgarien in den letzten Jahren an Knowhow bei der Einwerbung von EU-Geldern zugelegt hat. Oft fehlt Letzteres, sodass die Gelder nicht abgerufen werden. Das Vereinigte Königreich („England“) wird schnell merken, wenn es tatsächlich zum Brexit kommen sollte, dass die hochentwickelte Kompetenz des Landes beim Einwerben von EU-Geldern plötzlich nichts mehr wert ist.

[3] Dass sich bulgarischer Patriotismus, der teilweise auch ein Nationalismus ist, und Europäismus vereinbaren lassen, erweist sich bei einem Besuch in Bulgariens Hauptstadt des Patriotismus Koprivschtitsa. In der kleinen Stadt, nicht allzu weit von Plovdiv entfernt, lebten einige Anführer des Aprilaufstandes von 1876. Zwar scheiterte dieser, nicht zuletzt am Verrat aus den eigenen Reihen, aber in der nationalen Geschichtserzählung über die „Nationale Wiedergeburt“ Bulgariens, das 1878 ein eigenständiger Staat wurde und sich damit aus dem Osmanischen Reich herauslöste, nimmt er einen zentralen Platz ein.

Mausoleum für die Helden des Aprilaufstandes 1876 in Koprivschtitsa. Foto: Wolfgang Schmale

Mausoleum für die Helden des Aprilaufstandes 1876 in Koprivschtitsa. Foto: Wolfgang Schmale

[4] Am Hauptplatz steht das Mausoleum für die Helden, im gesamten Städtchen wurden die noch erhaltenen Häuser der Familien der Akteure des Aufstands als Museen und Gedenkstätten hergerichtet. Der Ort ist übersät mit Denkmälern. Beherrscht wird er von dem monumentalen Denkmal für Georgi Benkovski. Zugleich ist der Ort mit EU-Flaggen und –Emblemen übersät.

Denkmal für Georgi Benkovski in Koprivschtitsa, Bulgarien. Foto: Wolfgang Schmale

Denkmal für Georgi Benkovski in Koprivschtitsa, Bulgarien. Foto: Wolfgang Schmale

[5] Das Interessante ist freilich, dass der seit dem späteren 19. Jahrhundert als „bulgarisch“ bezeichnete Baustil überwiegend auf osmanischem Knowhow beruht und etliche Stilelemente fortführt. Auch sind die in Koprivschtitsa gut beobachtbaren hohen Mauereinfassungen der Anwesen der arabisch-osmanischen Tradition geschuldet.

[6] Von den vielen Moscheen, die ‚Bulgarien‘ einmal charakterisierten, sind nach der Gründung des Nationalstaats nicht allzu viele übrig geblieben. Ausnahmen sind Sofia und Plovdiv und andere Orte. Aber das osmanische Erbe steckt natürlich in den baulichen historischen Zeugnissen.

[7] Wenn 2018 das Europäische Kulturerbejahr begangen wird, kann Bulgarien, wenn das Land will, einen wichtigen Beitrag leisten, indem es alle Zeit- und Kulturschichten, die sich in dem Land so zahlreich übereinander lagern, zur Geltung bringt – und als kulturelles Erbe anerkennt.

Thrakischer Tempel "Horizont". Foto: Wolfgang Schmale

Thrakischer Tempel „Horizont“. Foto: Wolfgang Schmale

[8] Dieses reicht in die urgeschichtliche Epoche zurück. Es gibt hervorragende Zeugnisse der Thraker wie die Tempel von Chetinyova mogila und Horizont. Es gibt das römische Erbe, das in Sofia, dem alten Serdica, im Zentrum sehr gut zur Geltung gebracht ist. Mein Lieblingsplatz in Sofia befindet sich im Innenhof eines Gebäudekomplexes aus der sozialistischen Zeit (Anklänge an den Stil des Stalinismus), wo sich die kleine frühchristliche Kirche Sveti Georgi aus den römischen Überresten erhebt. Zwischendurch wurde aus der Kirche eine Moschee, dann wieder eine Kirche.

Sofia, Kirche Sveti Georgi. Foto: Wolfgang Schmale

Sofia, Kirche Sveti Georgi. Foto: Wolfgang Schmale

[9] Will man das ehemals reiche muslimische Erbe genauer sehen, geht man zur Banya Bashi Moschee, die an der Stelle schon des römischen Bads errichtet wurde. Ihr gegenüber steht das ehemalige Stadtbad (jetzt Historisches Museum Sofia), das mir orientalistischen Anmutungen spielt.

Sofia, Blick auf die Banya Bashi Moschee, im Vordergrund rechts das römische Bad. Foto: Wolfgang Schmale

Sofia, Blick auf die Banya Bashi Moschee, im Vordergrund rechts das römische Bad. Foto: Wolfgang Schmale

Teilansicht (Sockel) des Denkmals für die Sowjetarmee, Sofia. Foto: Wolfgang Schmale

Teilansicht (Sockel) des Denkmals für die Sowjetarmee, Sofia. Foto: Wolfgang Schmale

[10] Das neue stadtgeschichtliche Museum spart wie andere Museen auch die kommunistische Zeit aus – die in ein eigenes Museum ausquartiert ist… Dennoch ist diese im Stadtbild sehr präsent und manches ‚großartige‘ Kriegerdenkmal wie das für die Sowjetarmee am Boulevard Tzar Osvoboditel übt nach wie vor eine beherrschende Wirkung aus, selbst wenn es mit Sprüchen besprüht ist und insgesamt wenig gepflegt wird. An diesem 1954 eingeweihten Denkmal haben zwei Bildhauerinnen mitgewirkt.

[11] Im Richtung Flughafen anschließenden Park, in dem unter anderem das nach dem Nationalhelden Vasil Levski benannte Stadion steht, wurden Dutzende von Büsten aufgestellt, die an die „großen Männer“ der bulgarischen Geschichte erinnern. Diese Openair-Galerie, die in den 1990er-Jahren durch Diebstahl (Metall…) reduziert worden war, gipfelt in einem weiteren martialischen Denkmal für bulgarische Partisanen, das sich ebenfalls keiner Pflege erfreut.

[12] Freilich ist auch das Zentrum von Sofia mit weiteren Büsten, Denkmälern und Skulpturen übersät. Dies bestätigt den Eindruck, dass Geschichte in erster Linie, jedenfalls was die öffentliche Visualisierung angeht, als „Geschichte großer Männer“ verstanden wird. Gemildert wird der Eindruck durch die vielen aufgestellten Kunstwerke und die kleinen Theater, die sich neben dem Haupttheater und der Oper behaupten.

Sofia, die moderne Serdica. Foto: Wolfgang Schmale

Sofia, die moderne Serdica. Foto: Wolfgang Schmale

[13] Eine wichtige Stütze des bulgarischen Nationsbewusstseins ist die Kirche. Mit der Kirche Sveta Sophia besitzt Sofia ein sehr altes Zeugnis aus dem 4./5. Jahrhundert. Der Name Sophia, der im 14. Jahrhundert bereits für die Stadt belegt ist, hat ursprünglich mit dem griechischen Wort für Weisheit zu tun. Eine moderne Statue von 2000 mitten im Zentrum erinnert daran.

[14] Unter der Kirche Sveta Sophia befindet sich eine ausgedehnte Nekropole, die im frühen 4. Jahrhundert angelegt worden war. Die Ausgrabungsstätte ist ausgezeichnet erschlossen worden. Reste von Fresken in einigen Gräbern und zum Teil hochwertige Mosaiken aus der Zeit des ursprünglichen Kirchenbaus zeugen von einem hohen Niveau des römischen Serdica, dem die Zuneigung Konstantins des Großen galt.

Sofia, Sveta Sophia, mit Strukturen aus der Zeit, als die Kirche eine Moschee war. Foto: Wolfgang Schmale

Sofia, Sveta Sophia, mit Strukturen aus der Zeit, als die Kirche eine Moschee war. Foto: Wolfgang Schmale

[15] Die Sofienkirche hat unzählige Teilzerstörungen und Zweckentfremdungen erlebt, zeitweise war sie eine Moschee, dann wieder Lagerhalle für Waren. Im Mauerwerk sind noch ein paar Strukturen aus der Verwendung als Moschee erkennbar. Bevor die Kirche restauriert wurde (sie ist erst seit 1998 wieder frei zugänglich), baute man nebenan die neue Kathedrale mit der kleinen und großen vergoldeten Kuppel, in deren Untergeschoss eine hervorragende Sammlung religiöser Kunst, besonders von Ikonen, gezeigt wird.

Sofia, Straßenecke, gegenüber dem Gebäude der Sozialistischen Partei Bulgariens. Foto: Wolfgang Schmale

Sofia, Straßenecke, gegenüber dem Gebäude der Sozialistischen Partei Bulgariens. Foto: Wolfgang Schmale

[16] Schlendert man durch Sofia, wird man mit starken Gegensätzen zwischen Prunk und Armut und konfrontiert. Gegenüber vor einigen Jahren geht es etwas besser, aber das Gefälle, insbesondere im Vergleich zu westlichen EU-Ländern ist nach wie vor sehr groß. Und noch einmal muss man fragen, ie borniert man eigentlich sein muss, um für einen Brexit zu stimmen und dadurch die Solidarität mit einem Land wie Bulgarien aufzukündigen?

Dokumentation:

Ich danke für sachkundige Auskünfte (in alphabetischer Reihenfolge): Kirila Altanasova (Stadtgeschichtliches Museum – Nekropole); Maria Baramova (Kliment Ohridksi Universität); Harald Heppner (Universität Graz); Ivan Parvev (Kliment Ohridski Universität).

Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):

Wolfgang Schmale: Bulgarien: Patriotische Geschichte und Europäismus. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/bulgarien, Eintrag 24.07.2016 [Absatz Nr.].

Über den Autor
Wolfgang Schmale ist Historiker und war Professor für Geschichte der Neuzeit. Er arbeitete am Institut für Geschichte an der Universität Wien (Österreich). Ein Schwerpunkt ist die Europaforschung.
Teilen
  • google-share

Suche


Neueste Beiträge

  • Die historische Bedeutung von Höchst- und Verfassungsgerichten für die Demokratie
  • Rentenreform in Frankreich: Funktioniert die französische Demokratie nicht mehr?
  • Unbehagen im Museum
  • Wir sind alle Ukraine
  • Europa 2022 – Eine Bilanz

Neueste Kommentare

  • Peter Nemschak bei The EU’s Geopolitical Hideout in Myanmar – Georg Bauer on Borrell’s blog post on Myanmar
  • Alexander Burstein bei Digitaler Humanismus – Lehren aus Covid-19
  • Gerhard Kaucic bei Theorie des Digitalen Zeitalters
  • Alexander Burstein bei Den Rassismus auf Abstand halten
  • Alexander Burstein bei Der EU-Gipfel 17. Juli bis 21. Juli 2020 – Pyrrhussieg oder zukunftsfähige EU? Jedenfalls kein historisches Datum…

Archiv

  • April 2023 (1)
  • März 2023 (2)
  • Februar 2023 (1)
  • Dezember 2022 (1)
  • Oktober 2022 (1)
  • Juni 2022 (1)
  • Mai 2022 (1)
  • April 2022 (1)
  • März 2022 (1)
  • Februar 2022 (3)
  • Dezember 2021 (5)
  • November 2021 (3)
  • Oktober 2021 (2)
  • April 2021 (2)
  • Januar 2021 (1)
  • Dezember 2020 (3)
  • Oktober 2020 (3)
  • September 2020 (1)
  • August 2020 (1)
  • Juli 2020 (2)
  • Juni 2020 (1)
  • Mai 2020 (3)
  • April 2020 (2)
  • März 2020 (3)
  • Februar 2020 (2)
  • Januar 2020 (1)
  • Dezember 2019 (5)
  • November 2019 (1)
  • Oktober 2019 (1)
  • September 2019 (1)
  • August 2019 (2)
  • Juli 2019 (4)
  • Juni 2019 (1)
  • Mai 2019 (3)
  • April 2019 (3)
  • März 2019 (2)
  • Februar 2019 (2)
  • Januar 2019 (3)
  • Dezember 2018 (4)
  • November 2018 (2)
  • Oktober 2018 (2)
  • September 2018 (3)
  • August 2018 (2)
  • Juli 2018 (3)
  • Juni 2018 (5)
  • Mai 2018 (1)
  • April 2018 (1)
  • März 2018 (4)
  • Februar 2018 (5)
  • Januar 2018 (2)
  • Dezember 2017 (6)
  • November 2017 (3)
  • Oktober 2017 (3)
  • September 2017 (2)
  • August 2017 (2)
  • Juli 2017 (2)
  • Juni 2017 (2)
  • Mai 2017 (5)
  • April 2017 (2)
  • März 2017 (4)
  • Februar 2017 (4)
  • Januar 2017 (3)
  • Dezember 2016 (3)
  • November 2016 (3)
  • Oktober 2016 (3)
  • September 2016 (3)
  • August 2016 (3)
  • Juli 2016 (3)
  • Juni 2016 (3)
  • Mai 2016 (2)
  • April 2016 (4)
  • März 2016 (4)
  • Februar 2016 (4)
  • Januar 2016 (3)
  • Dezember 2015 (4)
  • November 2015 (4)
  • Oktober 2015 (5)
  • September 2015 (4)
  • August 2015 (3)
  • Juli 2015 (4)
  • Juni 2015 (4)
  • Mai 2015 (5)
  • April 2015 (4)

Schlagwörter

8. Mai 1945 18. Jahrhundert Antoine Vauchez Armenier Brexit Bundesverfassungsgericht Corona Covid-19 Democracy Demokratie; Digital Humanities EU EU enlargement Europa Europäische Identität Europäische Kultur Europäisches Kulturerbejahr 2018 europäische Solidarität Europäische Union Flüchtlinge Frankreich Genozid Geschichte Grexit Griechenland; Holocaust Kultur Martin Schulz Mein Europa Menschenrechte Narrative Nationalismus Osmanisches Reich Paris Philipp Ther Polen Praxeologie Solidarität; Staat Türkei Ungarn Vielfalt Warschau Western Balkans Wiener Kongress
RSS abonieren
  • Datenschutz
  • Impressum
  • Links
Creative Commons Lizenzvertrag
Dieses Werk ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung - Nicht kommerziell - Keine Bearbeitungen 4.0 International Lizenz.

Webdesign
www.media-solutions.at

© Wolfgang Schmale, Universität Wien
Cookie-Zustimmung verwalten
Um dir ein optimales Erlebnis zu bieten, verwenden wir Technologien wie Cookies, um Geräteinformationen zu speichern und/oder darauf zuzugreifen. Wenn du diesen Technologien zustimmst, können wir Daten wie das Surfverhalten oder eindeutige IDs auf dieser Website verarbeiten. Wenn du deine Zustimmung nicht erteilst oder zurückziehst, können bestimmte Merkmale und Funktionen beeinträchtigt werden.
Funktional Immer aktiv
Die technische Speicherung oder der Zugang ist unbedingt erforderlich für den rechtmäßigen Zweck, die Nutzung eines bestimmten Dienstes zu ermöglichen, der vom Teilnehmer oder Nutzer ausdrücklich gewünscht wird, oder für den alleinigen Zweck, die Übertragung einer Nachricht über ein elektronisches Kommunikationsnetz durchzuführen.
Vorlieben
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist für den rechtmäßigen Zweck der Speicherung von Präferenzen erforderlich, die nicht vom Abonnenten oder Benutzer angefordert wurden.
Statistiken
Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu statistischen Zwecken erfolgt. Die technische Speicherung oder der Zugriff, der ausschließlich zu anonymen statistischen Zwecken verwendet wird. Ohne eine Vorladung, die freiwillige Zustimmung deines Internetdienstanbieters oder zusätzliche Aufzeichnungen von Dritten können die zu diesem Zweck gespeicherten oder abgerufenen Informationen allein in der Regel nicht dazu verwendet werden, dich zu identifizieren.
Marketing
Die technische Speicherung oder der Zugriff ist erforderlich, um Nutzerprofile zu erstellen, um Werbung zu versenden oder um den Nutzer auf einer Website oder über mehrere Websites hinweg zu ähnlichen Marketingzwecken zu verfolgen.
Optionen verwalten Dienste verwalten Anbieter verwalten Lese mehr über diese Zwecke
Einstellungen ansehen
{title} {title} {title}