[1] Nach dem Brexit-Votum vom 23. Juni 2016 wirken die vielen EU-Flaggen und Hinweisschilder auf die Förderung eines Projekts mit EU-Geldern in Bulgarien, wo ich vom 25. Juni bis 1. Juli 2016 unterwegs war, auf dem Land ebenso wie in der Hauptstadt Sofia, geradezu wohltuend. Überall ist sichtbar, wo EU-Gelder hinfließen und was damit unterstützt wird.
[2] Die große Zahl der Informationsschilder zeigt zugleich, dass Bulgarien in den letzten Jahren an Knowhow bei der Einwerbung von EU-Geldern zugelegt hat. Oft fehlt Letzteres, sodass die Gelder nicht abgerufen werden. Das Vereinigte Königreich („England“) wird schnell merken, wenn es tatsächlich zum Brexit kommen sollte, dass die hochentwickelte Kompetenz des Landes beim Einwerben von EU-Geldern plötzlich nichts mehr wert ist.
[3] Dass sich bulgarischer Patriotismus, der teilweise auch ein Nationalismus ist, und Europäismus vereinbaren lassen, erweist sich bei einem Besuch in Bulgariens Hauptstadt des Patriotismus Koprivschtitsa. In der kleinen Stadt, nicht allzu weit von Plovdiv entfernt, lebten einige Anführer des Aprilaufstandes von 1876. Zwar scheiterte dieser, nicht zuletzt am Verrat aus den eigenen Reihen, aber in der nationalen Geschichtserzählung über die „Nationale Wiedergeburt“ Bulgariens, das 1878 ein eigenständiger Staat wurde und sich damit aus dem Osmanischen Reich herauslöste, nimmt er einen zentralen Platz ein.
[4] Am Hauptplatz steht das Mausoleum für die Helden, im gesamten Städtchen wurden die noch erhaltenen Häuser der Familien der Akteure des Aufstands als Museen und Gedenkstätten hergerichtet. Der Ort ist übersät mit Denkmälern. Beherrscht wird er von dem monumentalen Denkmal für Georgi Benkovski. Zugleich ist der Ort mit EU-Flaggen und –Emblemen übersät.
[5] Das Interessante ist freilich, dass der seit dem späteren 19. Jahrhundert als „bulgarisch“ bezeichnete Baustil überwiegend auf osmanischem Knowhow beruht und etliche Stilelemente fortführt. Auch sind die in Koprivschtitsa gut beobachtbaren hohen Mauereinfassungen der Anwesen der arabisch-osmanischen Tradition geschuldet.
[6] Von den vielen Moscheen, die ‚Bulgarien‘ einmal charakterisierten, sind nach der Gründung des Nationalstaats nicht allzu viele übrig geblieben. Ausnahmen sind Sofia und Plovdiv und andere Orte. Aber das osmanische Erbe steckt natürlich in den baulichen historischen Zeugnissen.
[7] Wenn 2018 das Europäische Kulturerbejahr begangen wird, kann Bulgarien, wenn das Land will, einen wichtigen Beitrag leisten, indem es alle Zeit- und Kulturschichten, die sich in dem Land so zahlreich übereinander lagern, zur Geltung bringt – und als kulturelles Erbe anerkennt.
[8] Dieses reicht in die urgeschichtliche Epoche zurück. Es gibt hervorragende Zeugnisse der Thraker wie die Tempel von Chetinyova mogila und Horizont. Es gibt das römische Erbe, das in Sofia, dem alten Serdica, im Zentrum sehr gut zur Geltung gebracht ist. Mein Lieblingsplatz in Sofia befindet sich im Innenhof eines Gebäudekomplexes aus der sozialistischen Zeit (Anklänge an den Stil des Stalinismus), wo sich die kleine frühchristliche Kirche Sveti Georgi aus den römischen Überresten erhebt. Zwischendurch wurde aus der Kirche eine Moschee, dann wieder eine Kirche.
[9] Will man das ehemals reiche muslimische Erbe genauer sehen, geht man zur Banya Bashi Moschee, die an der Stelle schon des römischen Bads errichtet wurde. Ihr gegenüber steht das ehemalige Stadtbad (jetzt Historisches Museum Sofia), das mir orientalistischen Anmutungen spielt.
[10] Das neue stadtgeschichtliche Museum spart wie andere Museen auch die kommunistische Zeit aus – die in ein eigenes Museum ausquartiert ist… Dennoch ist diese im Stadtbild sehr präsent und manches ‚großartige‘ Kriegerdenkmal wie das für die Sowjetarmee am Boulevard Tzar Osvoboditel übt nach wie vor eine beherrschende Wirkung aus, selbst wenn es mit Sprüchen besprüht ist und insgesamt wenig gepflegt wird. An diesem 1954 eingeweihten Denkmal haben zwei Bildhauerinnen mitgewirkt.
[11] Im Richtung Flughafen anschließenden Park, in dem unter anderem das nach dem Nationalhelden Vasil Levski benannte Stadion steht, wurden Dutzende von Büsten aufgestellt, die an die „großen Männer“ der bulgarischen Geschichte erinnern. Diese Openair-Galerie, die in den 1990er-Jahren durch Diebstahl (Metall…) reduziert worden war, gipfelt in einem weiteren martialischen Denkmal für bulgarische Partisanen, das sich ebenfalls keiner Pflege erfreut.
[12] Freilich ist auch das Zentrum von Sofia mit weiteren Büsten, Denkmälern und Skulpturen übersät. Dies bestätigt den Eindruck, dass Geschichte in erster Linie, jedenfalls was die öffentliche Visualisierung angeht, als „Geschichte großer Männer“ verstanden wird. Gemildert wird der Eindruck durch die vielen aufgestellten Kunstwerke und die kleinen Theater, die sich neben dem Haupttheater und der Oper behaupten.
[13] Eine wichtige Stütze des bulgarischen Nationsbewusstseins ist die Kirche. Mit der Kirche Sveta Sophia besitzt Sofia ein sehr altes Zeugnis aus dem 4./5. Jahrhundert. Der Name Sophia, der im 14. Jahrhundert bereits für die Stadt belegt ist, hat ursprünglich mit dem griechischen Wort für Weisheit zu tun. Eine moderne Statue von 2000 mitten im Zentrum erinnert daran.
[14] Unter der Kirche Sveta Sophia befindet sich eine ausgedehnte Nekropole, die im frühen 4. Jahrhundert angelegt worden war. Die Ausgrabungsstätte ist ausgezeichnet erschlossen worden. Reste von Fresken in einigen Gräbern und zum Teil hochwertige Mosaiken aus der Zeit des ursprünglichen Kirchenbaus zeugen von einem hohen Niveau des römischen Serdica, dem die Zuneigung Konstantins des Großen galt.
[15] Die Sofienkirche hat unzählige Teilzerstörungen und Zweckentfremdungen erlebt, zeitweise war sie eine Moschee, dann wieder Lagerhalle für Waren. Im Mauerwerk sind noch ein paar Strukturen aus der Verwendung als Moschee erkennbar. Bevor die Kirche restauriert wurde (sie ist erst seit 1998 wieder frei zugänglich), baute man nebenan die neue Kathedrale mit der kleinen und großen vergoldeten Kuppel, in deren Untergeschoss eine hervorragende Sammlung religiöser Kunst, besonders von Ikonen, gezeigt wird.
[16] Schlendert man durch Sofia, wird man mit starken Gegensätzen zwischen Prunk und Armut und konfrontiert. Gegenüber vor einigen Jahren geht es etwas besser, aber das Gefälle, insbesondere im Vergleich zu westlichen EU-Ländern ist nach wie vor sehr groß. Und noch einmal muss man fragen, ie borniert man eigentlich sein muss, um für einen Brexit zu stimmen und dadurch die Solidarität mit einem Land wie Bulgarien aufzukündigen?
Dokumentation:
Ich danke für sachkundige Auskünfte (in alphabetischer Reihenfolge): Kirila Altanasova (Stadtgeschichtliches Museum – Nekropole); Maria Baramova (Kliment Ohridksi Universität); Harald Heppner (Universität Graz); Ivan Parvev (Kliment Ohridski Universität).
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Bulgarien: Patriotische Geschichte und Europäismus. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/bulgarien, Eintrag 24.07.2016 [Absatz Nr.].