Am 24.4.2020 veröffentlichte Le Monde des Livres ein Interview mit dem marxistischen Philosophen Etienne Balibar, dessen „Gesammelte Werke“ derzeit erscheinen. Befragt wurde er von Jean Birnbaum.
Eine Frage lautet: »„Que ‚les choses continuent comme avant’: voilà la catastrophe“, disait Walter Benjamin [1892-1940], un auteur qui revient souvent sous votre plume. Ce motif du “plus jamais comme avant”, qui a structuré le rêve révolutionnaire, hante-t-il maintenant nos cauchemars sanitaires?«
Balibar antwortet: »(…) nous pouvons être certains d’une seule chose: l’histoire ne continuera pas comme avant. Mais cette mutation n’est prévisible que dans sa généralité, nous en ignorons le contenu.«
Das Gefühl, dass es nach der erhofften Eindämmung und Überwindung der Corona-Pandemie, spätestens mit Hilfe von Massenimpfungen, nicht mehr so wie vorher sein wird, ist weit verbreitet. Der Begriff „neue Normalität“ war genauso ansteckend wie das Virus. Gemeint ist ein Alltagsleben mit mehr Hygienemaßnahmen, mit Abstandhalten, mit Tragen eines Mund- und Nasenschutzes überall dort, wo mehrere Menschen zusammenkommen, mit Ausschlüssen von sogenannten Risikogruppen und Personen, mit einer gewissen Unplanbarkeit des eigenen Lebens, weil jederzeit eine Quarantäne verordnet werden könnte, wenn die zur Pflicht gewordene „Corona-App“ angeschlagen hat, etc.
Balibar zielt freilich viel weiter, es geht um die Selbstbehauptung der Demokratie gegenüber autoritären oder diktatorischen Systemen, die jetzt Aufwind haben. Es geht langfristig um den globalen Umgang miteinander. Wird er zivilisiert sein oder wird Schlimmes kommen?
Konkret diskutiert werden derzeit Fragen zum künftigen Wirtschaftssystem, zum Umweltschutz und Bekämpfung des Klimawandels, immer deutlicher werden Ungleichheiten in der Gesellschaft, die sich vorerst verstärken. Die Diskussionen bewegen sich zwischen Hoffnung auf Änderungen gegenüber dem Bisherigen und wachsendem Pessimismus.
Entscheidend ist die Bereitschaft, dazu zu lernen. Recht gewiss kann man davon ausgehen, dass Schutzausrüstung in Zukunft wieder in Europa hergestellt und dann im Sinne der Vorsorge auch vorgehalten und regelmäßig erneuert wird. Aber ob man in Zukunft die politische Vernunft aufbringen wird, nicht weiter im öffentlichen Gesundheitswesen zu sparen, sondern vorbereitet zu sein für Krisensituationen, von denen man eben nicht weiß, ob es sie geben wird oder nicht, das ist fraglich. Die Fronten werden hier ebenso bröckeln wie bei der Frage, ob die Wirtschaft anders organisiert werden muss.
Es geht bezüglich der Ökonomie nicht nur um die jetzt sichtbar gewordene Anfälligkeit von globalen Produktions-, Liefer- und Handelsketten. Es geht sehr viel mehr um die Arbeitnehmer*innen, ihre Rechte und um die Sorge für diese in Krisenfällen wie jetzt. Vorsorge für Krisensituationen, von denen man nicht weiß, ob sie eintreten oder nicht, wäre nötig – das sollte man aus der Corona-Krise lernen –, aber das geht nicht, wenn Gewinnmaximierung, Boni und Bedienung der Aktionär*innen über noch vertretbare ethische Maßstäbe hinaus praktiziert werden. Und: Wieviele ursprünglich für seriös und ‚sauber‘ gehaltene große Firmen und Banken hatten in den letzten zehn bis fünfzehn Jahren nicht mit Bestechung, Korruption, Steuerbetrug und anderen wirtschaftskriminellen Aktivitäten zu tun? Wieviele Firmen haben nachweislich den Tod von Menschen in Kauf genommen, um Kosten zu sparen?
Die Krise macht Ungleichheiten, die nicht unbekannt waren, besonders sichtbar. Das betrifft die soziale, familiäre und ökonomische Situation von Kindern. In Österreich spricht man von möglicherweise bis zu 200.000 Schüler*innen, die keine geeigneten elektronischen Geräte haben und sich diese nicht einfach leisten können, sodass sie beim elektronischen Unterricht einfach herausfallen. Dasselbe trifft auf viele andere europäische Ländern zu. Die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten im Bildungssystem sind nichts Neues, doch besteht wirklich die Bereitschaft, die Lehren der Corona-Krise anzunehmen und nachhaltig Abhilfe zu schaffen?
Es hat eine gewisse Zeit gedauert, bis intensiver darüber diskutiert wurde, ob die Einschränkungen der Grundfreiheiten durch die Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie tatsächlich nötig und begründbar waren/sind. Das Wichtige ist die offene Diskussion, der Streit der Meinungen, dass die mit der Regierung Beauftragten sich der Diskussion stellen. Dass sie die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und Verordnungen ernst nehmen, dass das Argument von „Gefahr im Verzug“ gegenüber den Parlamenten nicht überdehnt oder missbraucht wird, dass die Maßnahmen zeitlich eindeutig beschränkt werden und dass man nicht damit spekuliert, Diskussionen über die Sinnhaftigkeit der zeitlichen Begrenzungen zu umgehen.
Demokratie lebt letzten Endes, jenseits aller politischen Rhetorik, von der Ehrlichkeit des Handelns, von der unbedingten Verfassungstreue, die sich im Alltag im Respekt vor der Verfassung und der Aufgabe der Verfassungsgerichte äußert.
Die Krise bietet hier eine Chance, nämlich weniger lax als seit längerer Zeit (also schon vor der Corona-Krise) mit dem Respekt vor der Verfassung und den demokratischen Institutionen umzugehen. Wie Montesquieu sagte, Demokratie und Tugend gehören zusammen. Ohne Besinnung auf diesen ach! so wahren Satz gerät man schnell ins Fahrwasser der Orbáns, Erdogans, Trumps, Bolsonaros. Sollen die die politischen Gewinner der Corona-Krise sein? Furcht gehört zur Diktatur („Despotie“), nicht zur Demokratie.
Die Demokratie darf nicht mit der Angst der Bürger*innen Politik machen, sie muss auf die Tugend der Bürger*innen setzen. Was sie sehr wohl tun kann, wie man aktuell beobachten kann. Es gab in den vergangenen Jahren keinen geeigneteren Satz, der dies ausdrückte, als jenen, danach viel kritisierten, von Angela Merkel: „Wir schaffen das!“ Sie hat nichts anderes ausgesprochen, als den Kern der Bürger*innentugend in der Demokratie. Mögen sich alle endlich an die Nase packen, die über diesen Satz hergefallen sind, als hätte es lange kein frisches Futter gegeben.
Die Bereitschaft, aus der Corona-Krise zu lernen, aus der Art und Weise wie mit ihr umgegangen wird, könnte zu einer Stärkung der Demokratie führen. Könnte. Jens Spahn hat dazu einen derzeit meist mit Respekt zitierten Satz getan: „Wir werden viel verzeihen müssen.“ Noch ein Satz, der die Tugend der Bürger*innen in der Demokratie thematisiert. Man wird sich daran orientieren können, ob es beim respektvollen Zitat bleibt oder nicht. Wenn nicht, weiß man, das der nächste Anlauf begonnen hat, der Demokratie die Tugend auszureden.