Mein serbischer Verleger Zoran Hamović, Clio Verlag Belgrad, bittet derzeit seine Autor*innen um ihre „Corona-Gedanken“. Er stellt fünf Fragen, die ich ihm beantwortet habe. Hier folgt die deutsche Fassung.
Frage Z.H.: Wie ist die Situation in Österreich und Wien, wie reagiert die Gesellschaft?
Antwort W.S.: Als im Januar 2020 Berichte über das Corona-Virus in China in der Stadt Wuhan in der Provinz Hubei kamen, war mein erster Gedanke, dass das Virus auch nach Europa kommen wird. Doch die meisten Regierungen haben anfangs keine Gefahr gesehen. Das war eine Fehleinschätzung, und zwar wohl kaum nur eine politische Fehleinschätzung, sondern auch durch Fachleute.
Nun, jetzt wissen wir es besser, vor allem wissen wir, dass überall zu spät reagiert wurde. Österreich hat in der ersten Märzwoche mit strikteren Maßnahmen begonnen, die Universität Wien, an der ich arbeite, hat am 10. März mitgeteilt, dass vorerst keine Vorlesungen mehr im Hörsaal stattfinden dürfen, sondern elektronisch mit Lernplattformen und Tools für Videokonferenzen durchzuführen sind. Dies bleibt das ganze Semester so.
Die Regierung hat eine strenge Ausgangsbeschränkung verfügt, an die sich die Bevölkerung hält, von Ausnahmen abgesehen. Insgesamt konnte die Ausbreitung des Virus gebremst werden, die Kapazitäten des Gesundheitswesens, vor allem der Krankenhäuser, waren und sind ausreichend. Zu keinem Zeitpunkt gab es Engpässe.
Allerdings hat sich schnell gezeigt, dass auch in Österreich zu wenig Pandemie-Vorsorge in den letzten Jahren betrieben worden ist. Es fehlt an Schutzanzügen und Schutzmasken. In normalen Zeiten ist Pandemie-Vorsorge politisch betrachtet nicht sehr sexy. Jetzt sind wir klüger.
Inzwischen hat die Diskussion darüber, ob alle Maßnahmen überhaupt sinnvoll sind, an Fahrt aufgenommen. Es wird auch mehr über die demokratischen Rechte diskutiert und ob die Freiheitseinschränkungen, die ja überall sehr weitgehend sind, verhältnismäßig geblieben sind.
In Wien geht es ruhig zu, es sind weniger Menschen in den Straßen, weniger Autos, man kann die Vögel besser zwitschern hören, die Luft ist sauberer, nachts sieht man wieder mehr Sterne.
Aber es gibt keinen Grund so zu tun, als würde das Leben selbst in der Großstadt wieder idyllischer. Menschen leiden unter der wochenlangen Trennung von ihren Angehörigen, teilweise nimmt die häusliche Gewalt zu, psychische Erkrankungen nehmen zu, andere Erkrankungen bleiben unbehandelt, weil Corona immer Priorität hat. Das kommt demnächst als Boomerang zurück.
Besonders die kleinen Selbständigen, die Dienstleister, müssen um ihre Existenz bangen – für sie gibt es am wenigsten Unterstützung durch den Staat. Man hatte zwar in den Behörden genug Zeit, sehr komplizierte Antragsformulare zu entwerfen, wenn jemand finanzielle Hilfe beantragen möchte, aber man hatte offenbar keine Zeit, sich anzuschauen, wie vielfältig die Bedingungen sind, unter denen die kleinen Selbständigen arbeiten. Es wurde schlicht übersehen, dass es kein Schema F gibt. Wie gut ist der Realitätsbezug der Behörden, der Politik?
Auch in Wien gab es bei Toilettenpapier, Nudeln, haltbaren Hartwürsten, Mehl und Konserven Hamsterkäufe. Den Menschen war sofort klar, dass die Corona-Pandemie nicht in zwei Wochen vorbei sein wird, sondern wir länger damit zu tun haben werden. Es gibt also keinen Grund, sich über die Hamsterkäufe lustig zu machen.
Am Dienstag 14. April durften wieder kleine Geschäfte öffnen. Ich habe in dem einen Laden Nachschub an Grünem Tee gekauft, in dem Kräuterladen habe ich Nachschub an Eisenkrauttee erworben. Alle freuten sich über den Kunden, man hat mehr als sonst miteinander gesprochen, es gab ja kaum Kunden.
Es ist klar: alle, mich inklusive, freuen sich auf den Moment, wo der gewohnte Alltag mit allen großen und kleinen Freiheiten wiederkehrt. Eine zeitlang werden wir sie zu schätzen wissen.
Z.H.: Hat die Krise auch ein Gutes?
W.S.: In jeder Krise gibt es was fürs Leben zu lernen. Aber werden wir danach wirklich klüger sein und uns anders verhalten? Manches aus dem bisherigen Alltag zeigt seinen Wert, den wir vielleicht manchmal vergessen. Der persönliche Kontakt – nach mehreren Wochen elektronischer Kommunikation mit oder ohne Video sehnt man sich nach dem persönlichen Gegenüber, nach der Face-to-Face-Kommunikation. Aber man merkt auch, dass nicht jede berufliche Reise mit dem Flugzeug oder einem anderen Verkehrsmittel alternativlos ist. Werden wir uns also, ein wenig weiser geworden, ökologischer verhalten?
Die Ausgangsbeschränkungen aktivieren die Fantasie der Menschen. Sie lassen sich viel einfallen, um sich und andere aufzumuntern. Sie zeigen, wie man die eigenen vier Wände zum Erlebnisraum machen kann. Musiker*innen, Schauspieler*innen, Künstler*innen führen im Internet gratis Musik, Theater, Kabarett oder Kunst auf. Den allermeisten geht es auch normalerweise finanziell nicht besonders gut, jetzt ist es noch schlechter, und sie geben gratis her, was sie können. Die Aktivierung von Mitmenschlichkeit ist enorm.
Wir sind gezwungen, über unser Wirtschaftssystem nachzudenken. Wahrt es denn überhaupt noch die Würde des Menschen? Sind die globalen Liefer- und Produktionsketten tasächlich die beste Lösung, von der alle einen Wohlstandsgewinn haben, weil es die Kosten drückt, oder haben wir uns Illusionen hingegeben? Vielleicht haben all die, die das Wirtschaftssystem schon länger kritisieren und auf die Schattenseiten hinweisen, doch mehr Recht als geglaubt wurde? Ist es Zeit, umzusteuern? Es sind keine neuen Fragen, aber jetzt können und müssen sich viele Menschen diesen Fragen zuwenden. Ökonomische Alternativen könnten eine Chance bekommen.
Nächstes Jahr werden wir wissen, ob Mitmenschlichkeit und Respekt vor der Würde des Anderen gewonnen haben oder ob es nur ein Zwischenspiel gewesen ist.
Z.H.: Wie sieht derzeit Dein Leben aus, was machst Du, was liest Du?
W.S.: Für mich bedeutet die gegenwärtige Situation, dass ich noch mehr als sonst arbeiten muss. Die Lehrveranstaltungen und Betreuung der Studierenden rein elektronisch durchzuführen, erfordert zusätzlichen Zeitaufwand. Auch in der Forschung, die ja ebenfalls weitergeht, ist der Zeitaufwand größer. Schließlich beschäftigt mich die Corona-Krise selber als Wissenschaftler und als Bürger. Ich verwende viel Zeit, um Informationen zu sammeln. Beruflich bekomme ich noch mehr Informationen zugeschickt als sonst. Alles muss ja umorganisiert werden, andere digitale Techniken sind zu erlernen, rechtliche Fragen sind zu klären. Der zeitliche Mehraufwand für das Lesen und Verarbeiten der Informationen ist sehr hoch. Paradoxerweise führt das Gebot „Bleib zu Hause und arbeite von zu Hause“ dazu, dass ich weniger Zeit für Privates habe als unter normalen Umständen.
Ich habe in aller Welt Freund*innen. Ich mache mir Sorgen, ich schreibe Ihnen und frage danach, wie es geht. Aber wenn ich darüber nachdenke, wird mir klar, dass es eigentlich immer jemande*n in einem Land gibt, wo etwas Negatives oder Schlimmes passiert, und wo ich mir Sorgen mache. Für einen Wissenschaftler ist diese Form der Globalität nicht ungewöhnlich, aber auch nicht selbstverständlich. Wie lange werden die Reisebeschränkungen bleiben? Die Freundschaften sind ja nicht rein virtuell, sondern sind aus persönlichen Begegnungen und gemeinsamen Aktivitäten entstanden. Wird das weiterhin so sein oder wird unsere Reisefreiheit jene Freiheit sein, die nicht in der alten Weise wieder kommt?
Z.H.: Was denkst Du über Europa nach der Corona-Zeit?
W.S.: Ein gemeinsames Problem sollte zu gemeinschaftlichem Handeln führen. In Europa ist wieder einmal das Gegenteil der Fall. Das gilt für die Europäische Union, das gilt aber auch für das größere Europa. Selbst jemand wie ich, der sich seit Jahrzehnten positiv-konstruktiv mit Europa befasst, beginnt zu resignieren. Ich merke: Diese Frage will ich derzeit nicht beantworten, denn sie schmerzt. Die nationalistische Abschottung, die derzeit herrscht, schmerzt. Die Corona-Pandemie hat Europa am schlimmsten getroffen? Warum? Versäumnisse, Versäumnisse, Versäumnisse, Eitelkeit, Überheblichkeit, nationaler Egoismus, das Fehlen eines politischen Willens zu europäischer Gemeinschaftlichkeit. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.
Z.H.: Hast Du für die serbischen Bürger*innen, Deine Leser*innen, einen Ratschlag?
W.S.: Nachdem ich in der Antwort zur vierten Frage meiner Enttäuschung über Europa freien Lauf gelassen habe, stehe ich mit Deiner fünften Frage, Zoran, vor einem Problem. Du hast meine „Geschichte Europas“, meine „Geschichte der Männlichkeit in Europa“ und mein „Was wird aus der Europäischen Union?“ in serbischer Übersetzung herausgebracht. Du hast zu den Büchern Projekte an Schulen angestoßen, wir waren zusammen an Schulen und haben mit Schülern diskutiert, Du hast Podiumsdiskussionen organisiert, wo ich die interessantesten und kontroversesten Diskussionen über Europa erlebt habe. In Serbien. Und nun streiche ich die europäischen Segel?
Nein, natürlich nicht. Der Moment ist gut und wichtig für kritische Gedanken zu Europa. Es hat sich nichts daran geändert, dass Serbien der Europäischen Union beitreten sollte. Aber die EU braucht neue Impulse, die auch von den Beitrittskandidaten kommen sollten. Wäre es nicht besser, die EU nun endlich zu einem föderalen europäischen Staat weiter zu entwickeln? Die Wurzeln der EU reichen in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zurück, ihre Gestaltung hatte viel mit der Überwindung des Ersten und des Zweiten Weltkriegs zu tun. Aber ist es nicht an der Zeit, sich klar zu machen, dass sich vieles gewandelt hat und die Begründung, warum eine EU eine gute Sache ist, der Gegenwart angepasst werden muss? Seit 20 Jahren folgt eine globale Krise auf die andere. Da liegt heute die Hauptaufgabe der Gemeinschaft – und genau da versagt die Gemeinschaft, weil die EU nicht dafür konzipiert worden ist und weil sich die Regierungen schon zu lange weigern, die Konsequenzen zu ziehen und die EU zu ändern, damit sie den Aufgaben der Gegenwart und nicht denen der Vergangheit gewachsen ist.
Das denke ich schon länger, darum habe ich das Buch „Was wird aus der Europäischen Union? Geschichte und Zukunft“ geschrieben. Warum wurde es ins Serbische übersetzt? Um Diskussionen anzuregen und um serbische Bürger zu motivieren, sich aktiv in die Debatte um die Zukunft der Europäischen Union einzubringen!