Immer mehr EU-Mitglieder bemühen die nationale Souveränität als Begründung für die Ablehnung von Vorschlägen der EU, der Vereinten Nationen usw. Regierungen und Politiker*innen, die sich auf die nationale Souveränität berufen, tun das im echten oder vorgespielten Glauben, dass dies im Interesse ihres Staates liege. Sie wollen Kompetenzen in die nationale Souveränität zurückholen und glauben nicht mehr an die Vorteile gemeinschaftlicher Politik. Die Brexiteer-Hardliner haben mit ihrer bis zum heutigen Tag aufrechterhaltenen Kompromisslosigkeit da sicher auch als Dammbrecher gewirkt.
Über den Nachkriegsnationalstaat
[1] Dieses Denkmodell verkennt die Zeitgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg. Vor allem beruht es auf der irrtümlichen und meist unausgesprochenen Annahme, dass „der Nationalstaat“ ein fixes Etwas sei.
[2] Zwar beruht die Nachkriegsordnung nach dem Zweiten Weltkrieg auf den sogenannten Nationalstaaten, aber diese änderten, zunächst in Westeuropa, ihre Staatszielbestimmung und ihren Charakter in grundlegender Weise.
[3] Denn „am Anfang“ stand nicht nur der Nachkriegsnationalstaat, sondern standen auch immer mehr internationale (z. B. UN) und in Europa europäisch-internationale Strukturen und Institutionen unterschiedlichen Zuschnitts. Ohne diese internationalen und speziell europäischen Strukturen hätte der Nationalstaat als Grundorganisation kaum eine Überlebenschance gehabt. Alan S. Milward sprach auf der Grundlage wirtschaftshistorischer und wirtschaftlicher Analysen von „the European rescue of the nation-state“.
[4] Unter den neu errichteten europäischen Strukturen, zu denen auch der Europarat (1949) gehörte, stach die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) mit den sechs Gründungsmitgliedern BeNeLux, Deutschland, Frankreich und Italien insoweit hervor, als hier tatsächlich ein wenig nationale Souveränität auf eine gemeinsame Institution und Behörde übertragen wurde.
[5] Aber machte das die Nationalstaaten ärmer oder nicht doch reicher?
[6] Eher trifft Letzteres zu, denn es wuchsen den Staaten neue Aufgaben und Kompetenzen in dieser Gemeinschaft und in den anderen Strukturen wie Europarat, OEEC/OECD, Brüsseler Pakt/Westeuropäische Union, Nato, UN usw. zu. Dies erweiterte die praktischen Staatsziele, die auch Eingang in die Verfassung fanden.
[7] So heißt es (als Beispiel) im deutschen Grundgesetz, Art. 23 (1): „Zur Verwirklichung eines vereinten Europas wirkt die Bundesrepublik Deutschland bei der Entwicklung der Europäischen Union mit, die demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und einen diesem Grundgesetz im wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet. (…)“
[8] Die Teilnahme an europäischen und internationalen Strukturen bedeutet einen Mehrwert gerade auch in Bezug auf Staatsziele, auf die raison d’être eines Staats und die Staatsräson. Der Nachkriegsstaat wurde ebenso im Hinblick darauf „neu erfunden“ wie im Hinblick auf – zum Teil nur vermeintlich nationale – andere Belange. All dies erweiterte seine Handlungsmöglichkeiten und Möglichkeiten der Wertschöpfung.
[9] Der Nachkriegsstaat als Sozial- und Wohlfahrtsstaat ist eine allgemeineuropäische Entwicklung, die als solche allen Staaten zugute kam. Wenn nur einige wenige sich dazu entwickelt hätten, wären sie Inseln gewesen, deren Küsten einer starken Erosion ausgesetzt gewesen wären.
[10] Anders gesagt: Was vielen Politiker*innen und Wähler*innen heute fehlt, ist das Gespür für die vielfältigen und stützenden transnationalen Verflechtungen, die dem sogenannten Nationalstaat überhaupt erst eine produktive Existenz gewährleisten.
Gefährliche Irrtümer
[11] Kein europäischer Nationalstaat hätte eine Chance ohne den gemeinschaftlich geschaffenen Friedensraum Europa. Auch wirtschaftlich hätte kein Nationalstaat eine Chance ohne den Wirtschaftsraum Europa und ohne den Binnenmarkt, von globalen Zusammenhängen nicht zu reden. Kein Nationalstaat kann heute seine Sicherheit ohne die Zusammenarbeit mit den anderen aufrecht erhalten. Alle Mitgliedsländer brauchen den Tourismus – und so fort. Das steht nicht alles unmittelbar auf dem Spiel, wenn einige lautstark gegen ‚die da in Brüssel‘ wettern und ‚nationale Souveränität zurück haben‘ möchten, aber Erosion beginnt immer zunächst kaum merklich.
[12] Die irrige Annahme, ein Nationalstaat könne autonom und autark existieren und müsse sich wenig um die anderen scheren, hat schlussendlich zu Kriegs- und Verbrechensexzessen geführt.
[13] Nun muss das gegenwärtige Verlangen nach mehr nationaler Souveränität nicht sofort mit den Pervertierungen des Nationalstaats im Imperialismus und den Diktaturen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in eine direkte Verbindung gesetzt werden, aber die Grenzen für dieses Verlangen müssen deutlich aufgezeigt werden.
[14] Die bevorzugte Aktion, um vermeintliche nationale Souveränität zurück zu gewinnen, ist neben rhetorischer Schärfe und Polemik gegen andere die Abschottung und Abgrenzung, die Verweigerung von Zusammenarbeit und Solidarität.
Das empfindliche Kapital des Ansehens
[15] Dabei wird übersehen, dass das Hineinwachsen des Nachkriegsstaats in europäische und internationale Strukturen das Kapital an Ansehen der Staaten vermehrt hat. Dieses besondere Kapital zu akkumulieren, ist ein langwieriger Prozess, während der Verlust an solchem Kapital schnell vor sich geht. Die Rendite auf dieses Kapital ist hoch, aber da es sich nur indirekt in Geld ausdrücken lässt, glauben viele, dass das Ansehenskapital eines Staates etwas für Softies und Schöngeister sei, die keinen Fuß auf den politischen Boden bekommen.
[16] Der Verlust dieses Kapitals führt zu autoritärer Politik im Innern, insbesondere wenn es sich um insgesamt wenig bedeutende Staaten handelt, die keine Vielzahl an Betätigungsfeldern haben, die auch dann noch zur Mehrung oder wenigstens Stabilhaltung des Ansehenskapitals führen können, wenn auf bestimmten Feldern schon eine Abgrenzungs- und Abschottungspolitik betrieben wird. In letzterer Situation befinden sich die USA unter Präsident Donald Trump.
[17] Es scheint aber so, als sei jemand wie Viktor Orbán in die Falle getappt, die darin besteht, das dahinschmelzende Kapital des Ansehens durch Autoritarismus „auszugleichen“. Das Ansehen Ungarns hat unter seiner autoritären Politik sehr gelitten, einer Politik, die Grundrechte ebenso abbaut wie Arbeitnehmer*innenrechte, die den Staat als Verteilmasse für die vielen Freunde versteht und die nicht einmal ein Minimum an Solidarität in der Flüchtlingsfrage zulässt.
[18] Der Ausschluss von Orbáns Partei aus der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament wurde zwar bisher nicht vollzogen, aber er wurde und wird kontinuierlich thematisiert. Das Thema ist noch nicht durch. Ganz offen wird auch die Frage gestellt, warum genau Ungarn in der EU ist. Österreich hat durch das neue Gesetz die Familienbeihilfe für Kinder, die im Heimatland leben, während das bezugsberechtigte Elternteil als EU-Bürger*in in Österreich arbeitet, an den Lebensstandard im Heimatland geknüpft. Für die Kinder in ostmitteleuropäischen Ländern bedeutet das eine drastische Verringerung des monatlichen Betrages. Das ist keine nur auf Ungarn bezogene Maßnahme, aber es trifft Ungarn ziemlich.
[19] Das Gesetz mag gegen das europäische Recht verstoßen, das wird geprüft, aber darum geht es hier nicht, sondern darum, zu beobachten, welche Maßnahmen von anderen EU-Ländern gesetzt werden, die das Funktionieren der genannten Falle illustrieren. Ungarn ist dabei nur ein Beispiel.
[20] Wohin wird die zunehmende Gängelung der Wissenschaft in Ungarn führen, die Abschaffung der Freiheit der Wissenschaft? Das wird sich in der internationalen scientific community auswirken. Das mag langsam vor sich gehen, aber es passiert. Wissenschaftliche Wettbewerbsfähigkeit, die im übrigen auch gut in Dollar oder Euro beziffert werden kann, wenn man an die europäischen und andere Fördertöpfe für Forschung denkt, kann nur in einem freien Wissenschaftsbetrieb gedeihen und erhalten werden.
[21] Um der anskizzierten Falle zu entgehen, versuchen die entsprechenden Parteien, die die vermeintliche Rückgewinnung nationaler Souveränität mit einer autoritären, teils offen antidemokratischen Politik nach Innen verbinden, sich europäisch besser zu vernetzen und für die Wahlen zum Europäischen Parlament zusammenzuarbeiten. Allerdings ist der Nationalismus der einen immer die Grenze des Nationalismus der anderen, die gemeinsame Schnittmenge ist naturgemäß klein.
Ein paar Fragen, die einer ehrlichen Antwort bedürfen
Die Steuerhoheit gehört zu den harten Kriterien staatlicher Souveränität. Bisher haben daher die Mitglieder der EU kein eigenständiges Besteuerungsrecht eingeräumt. Können die Nationalstaaten die Steuerhoheit im eigenen Land noch durchsetzen? Sie können es nur noch gegenüber den Arbeitnehmer*innen und im Wesentlichen bei der Mehrwerts- bzw. Umsatzsteuer und einigen kommunalen Steuern.
Schon bei Betrug mit der Umsatzsteuer haben sich die Grenzen der Staaten gezeigt, nicht zu reden davon, wie sich global agierende Konzerne Steuerpflichten entziehen (können). Dasselbe gilt selbstredend für die international organisierte Kriminalität mit hren gewaltigen, vollkommen unversteuerten Gewinnen. Es gäbe viele Beispiele, die zeigen, dass die nationale Steuerhoheit inzwischen mehr Mythos denn durchsetzbare Realität ist.
Wie souverän sind die Länder, deren wirtschaftliches Wohlergehen in nennenswertem Umfang vom Export abhängt?
Wie souverän wären europäische Länder, die derzeit dem Euro angehören, außerhalb des Euro, und eine hohe Staatsverschuldung haben? Wessen Volkswirtschaft ist groß genug, um Gläubiger ggf. zu einem Schuldenschnitt „zwingen“ zu können? Oder erfolgreich einen Staatsbankrott durchzuführen? Wie würde das Vertrauen der Anleger zurückgewonnen werden?
Wo wurde in den letzten Jahrzehnten „nationale Souveränität“ ernst genommen? In der EU, in ihren Verträgen. Die geltenden Verträge sind voll von Vorbehalten nationaler Souveränität. Verlässt ein Land die EU, wo könnte es dann in derselben Qualität seine Vorbehalte an nationaler Souveränität in einem völkerrechtlichen Vertrag zwischen immerhin 28 (bald 27) Staaten verbindlich anerkennen lassen? Nirgendwo, es wäre für die Verteidigung der nationalen Souveränität allein auf sich gestellt oder müsste einem anderen vergleichbaren Vertragssystem beitreten – das es nicht gibt.
Die Frageliste lässt sich beinahe endlos fortsetzen…
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert): Wolfgang Schmale: Der Mythos von der nationalen Souveränität. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/der-mythos-von-der-nationalen-souveraenitaet, Eintrag 11.01.2019 [Absatz Nr.].