[1] Die Frage, wie die Digital Humanities langfristig die Geistes- und Kulturwissenschaften (GKW) verändern, bleibt spannend, weil das Ergebnis nicht vorauszusehen ist. Wird es diese Wissenschaften überhaupt noch geben, wie ähnlich werden sie den derzeitigen noch sein? Das Hauptproblem ist, dass es keine eindeutige Zielvorstellung gibt. Wo soll es denn hingehen? Oder ist die Frage überflüssig, weil es sich um einen selbstorganisatorischen Prozess handelt?
[2] Eine erste große Stärke haben die GKW als DH im Bereich der Kommunikation und Dissemination erreicht. Dieselben technisch-medialen Instrumente der unmittelbaren Kommunikation (vor allem eMail, Chat, Blog, Twitter/diverse ‚soziale Medien‘) können und werden in der Forschung, in der wissenschaftlichen Lehre und in der Kommunikation mit diversen Öffentlichkeiten gleichermaßen eingesetzt. Diese Medien sitzen an den infrastrukturellen Schnittstellen, wo Kommunikation zu Dissemination wird.
[3] Nicht alles, was darüber transportiert wird, ist dann gleich so etwas wie „public humanities“, aber die Verlängerung dieser Medien hinein in die Medien einer mittelbaren Kommunikation (zumeist mit interaktiven Elementen) wie Webseiten und ganz besonders Apps hat die Durchflussgeschwindigkeit erhöht und die Filter grobporiger gemacht. Gleichwohl stellt sich die Frage, ob die klassische ‚Viererkette‘ von Printpublikationen – Publikation von Forschung für Forschung; wissenschaftliches Sachbuch; Lehrbuch; Sachbuch –, die von kleiner dreistelliger bis fünf- oder sechsstelliger Auflage reicht, damit schon modifiziert worden ist.
[4] Alle ausdifferenzierenden Argumente, die sich jetzt aufdrängen, beiseitegelassen: Die Zielvorgabe lautet, möglichst hohe wissenschaftliche Qualität ohne substanzielle Abstriche in die Breite und Masse zu bringen. Um die Latte ganz hoch zu hängen: Den Sachbucheffekt (fünf- bis sechsstellige Auflage zuzüglich LeserInnen und andere Medien als MultiplikatorInnen) in die traditionelle „Forschung-für-Forschung-Publikation“ hineinblasen. Nennen wir das einmal das DH-MAXIMUM (DH-MAX). Wenn das erreicht ist, stehen die DH nicht mehr am Anfang, sondern auf ihrem Höhepunkt – von dem aus sie dann eh beobachten können, wovon sie allmählich abgelöst werden dürften, zB von autonom arbeitenden Analyseprogrammen, auf der Grundlage von aus Big Data erkannten Mustern, von deren Ergebnissen wir unsere Entscheidungen abhängig machen werden.
[5] Das DH-MAX ist als Ziel erreichbar, wenn die DH/GKW in ihr bestehendes theoretisch-kritisches und narratives Umfeld eingebunden bleiben. Auf die Monografie, die dieses Umfeld repräsentiert und die zumindest ein Stückchen Welt in der den GKW eigenen Mischung aus theoriebezogenen, narrativen und analytischen Darstellungspraktiken erklären, werden wir kaum verzichten wollen und können. Sie wird an Bedeutung gewinnen, wenn die Forschung, die nicht Monografie-geeignet ist – und das ist der größere Teil! – im Wesentlichen mittels Datenbanken bzw. Portalen publiziert wird.
[6] Damit ist gemeint, dass die im Grunde schon seit drei Jahrzehnten zunehmende Programmforschung, die weitere Programmforschung oder ein Programm prolongierende Forschung generiert (fast schon wie ein autonomes Computerprogramm), oftmals wenig originell ist. Das soll heißen, dass die Ergebnisse oft gar nicht Monografie-brauchbar sind, gleichwohl aber in einem Portal sich gegenseitig sehr gut ergänzen würden. Statt Sammelband an Sammelband zu reihen oder Aufsätze zum im Prinzip selben Forschungsprogramm (bei unterschiedlichen institutionellen Trägern und Förderorganisationen) verstreut zu publizieren, wäre es an der Zeit, Megaportale zu stemmen. Interdisziplinäre Themen, die seit langem Programm sind und wo die Forschungspublikation international zerfasert, sind beispielsweise Gedächtnis, Erinnerung, Grenze, Migration, Othering, Nationalismus, die diversen „turns“, „mental maps“, Netzwerkbildungen, soziokulturelle Konstruktionen, usw. usf.
[7] Ein Megaportal – als Beispiel: „Erinnerungsorte“ – wäre viel effektiver. GKW als DH erfordert mehr Teamarbeit. Das ist kein Angriff auf die Individualforschung, im Gegenteil, es ist ein Angriff auf die überholten Publikationspraktiken, die solange andauern müssen, wie DH-MAX nicht als Ziel gesetzt wird.
[8] Megaportale brauchen mehr Struktur als zB Europeana, das von der Größe her durchaus als Megaportal gelten kann. Die Struktur bei dem Typ Megaportal, der eigentlich gebraucht wird, muss sich aus der kritisch-theoretischen, analytischen und narrativen Darstellungsweise der GKW ableiten.
[9] Die Akademien der Wissenschaften in Europa suchen nach ihrer zeitgemäßen Identität, denn die, die sich im 19. Jahrhundert herausgebildet hatte, steckt in der Krise. Aber statt ihre eigentliche Stärke, nämlich das Langzeitprojekt (jedenfalls in den GKW) auszuhungern, wie sie es zT tun, wären sie der ideale Ort für diese Megaportale, für deren Aufbau und wissenschaftlichen Betrieb.
[10] Die open-access-Initiativen sind möglicherweise insoweit auf dem Holzweg, als sie die Bildung neuer Strukturen viel zu chaotisch angehen. Die Initiativen sollten eingefangen und DH-MAX zugeordnet werden.
[11] Wer traut sich, hier weiter zu denken?!
Dokumentation:
Foto: Das Ziel vor Augen – Blick auf die Cordillera Blanca von Huaraz (Peru). Foto: Wolfgang Schmale, 16.8.2014.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Die Digital Humanities brauchen ein Ziel: DH-MAX. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/die-digital-humanities-brauchen-ein-ziel-dh-max, Eintrag 08.07.2015 [Absatz Nr.].
Interessanter artikel! Meine antwort ist etwas länger geraten und findet sich in meinem blog unter https://nlphist.hypotheses.org/280
Vielen Dank an Michael Piotrowski!
Werden nicht doch „grundlegende Forschungsfragen“ in und durch die DH verändert? Die DH ermöglichen ein Hineinwirken in die Gesellschaft, das über die bisherigen Möglichkeiten hinausgeht. Jedenfalls besteht dieses Potenzial, es wird wohl bisher nicht ausreichend genutzt. Damit wird der Aspekt der gesellschaftlichen Relevanz einer Forschungsfrage stärker, da ‚Forschung für die Forschung‘ an Bedeutung verlieren wird. Ist nicht der Druck, vor allem nach „Mustern“ zu forschen, immer größer? Weil man sich davon eine direkte, zukunftsbezogene Nutzanwendung verspricht? Die Forschung nach Mustern steht in einem ähnlichen Konflikt mit bestimmten Ansätzen in der GW-Forschung, wie seinerzeit der Strukturalismus in Konflikt mit alltagshistorischen und Forschungen auf der Grundlage von Ego-Dokumenten geriet: Strukturalismus versus Eigensinn der Menschen und lokalen Verhältnisse.
Der Vorschlag, Nanopublikationen und Megaportale zusammenzudenken, ist mE eine ausgezeichnete Idee, die sehr viel voranbringen kann. Gewissermaßen: An die Arbeit – ’nur‘ die Akademien müssten noch einsehen, dass man ihnen hier Gutes will…
»Grundlegende forschungsfragen« meine ich auf der sehr abstrakten ebene der disziplin »an sich«; also etwa, dass sich die geschichtswissenschaft mit der erforschung historischer zusammenhänge beschäftigt, woraus sich – unabhängig von moden – bestimmte fragen ergeben. Auf einer konkreteren ebene würde ich Ihnen zustimmen; wobei sich hier natürlich technische und gesellschaftliche entwicklungen überlagern, z. b. wenn es um »nützlichkeit« geht.
Bei manchen akadmien kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie der idee der megaportale aufgeschlossen wären …
Auf den ersten Blick erscheinen die Akademien als Betreiber von langfristig angelegten Grundlagenforschungsprojekten der richtige Ansprechpartner für die angedachten Megaportale zu sein. In einer Projektlaufzeit von 12 bis 25 Jahren ließe sich sicher die nötige technische Infrastruktur mit Blick auf Langzeitverfügbarkeit und -archivierung aufbauen sowie die themenspezifische Forschungspublikationen „entfasern“ oder gänzlich neu gestalten – z. B. durch Nanopublikation. Es ist allerdings ein Irrtum anzunehmen, nach der grundlegenden Entwicklung (technischer Art) ließe sich ein solches Megaportal nun ohne weiter dauerhafte Finanzmittel pflegen, warten und informationstechnologisch aktuell halten.
Daher stellt ein zentrales Antragskriterium für das Akademienprogramm eine erhebliches Problem dar: die Abschließbarkeit eines Vorhabens, die gewöhnlich durch Eingrenzung des Thema, modularen Aufbau und eine strenge Arbeitsplanung im Antrag versichert wird.
Davon abgesehen, dass den Akademien keine Mittel (der Grundhaushalt kann nicht für Kosten aus dem Programm eingesetzt werden) für die Pflege und Wartung von technischen Infrastrukturen über die eigentliche Projektlaufzeit hinaus zur Verfügung stehen, erscheint mir die Idee des Megaportals – ohne eine engere thematische Eingrenzung (Erinnerung oder Migration sind dazu m. E. zu weit gefasst) – als Vorhaben mit prinzipiell offenem Ende. Megaportale müsste jedenfalls mit diesem Selbstverständnis auftreten – ein Ausschlusskriterium für das Akademienprogramm.
Um den Akademie die Umsetzung solcher Megaportale zu ermöglichen, wäre also eine Neuausrichtung der Antragskriterien des Akademienprogramm erforderlich.
Zurzeit sind die Akademien darauf angewiesen, idealerweise noch vor Antragsstellung einen anderen institutionellen Kooperationspartner zu finden, der sich zur technischen und inhaltlichen Wartung über die Projektlaufzeit hinaus bereiterklärt.
Die Forderung an die Akademie, im Bereich der Digital Humanities Infrastrukturaufgaben zu übernehmen, hängt möglicherweise mit der gedanklichen Vermischung der Akademiekomponenten „Gelehrtengesellschaft“ und „Einrichtung zur wissenschaftlichen Forschung“ zusammen. Stehen die Akademiemitglieder als kooptierende Gelehrtengesellschaft institutionell-generell für exzellente Forschung und Lehre in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der entsprechenden Fachdisziplinen, so sind die Mitarbeiter des Akademieprogramms in der eigentlichen bund-länderfinanzierten Grundlagenforschung positioniert und zwar in konkreten Projekten (bei denen die Akademiemitglieder natürlich vor allem bei Antragsstellung und Leitungsaufgaben mitwirken). Diese Akademiekomponente kennt also nur abschließbare Projekte und kann daher keine Langzeitverantwortung für die Finanzierung und damit Perpetuierung von Infrastrukturmaßnahmen übernehmen.
Allerdings sind aus diesen Projekt heraus bereits einige Fachportale entstanden bzw. in Planung, die durchaus mit einem breiten Geltungsanspruch auftreten, aber doch in thematisch engerem Feld operieren als interdisziplinäre Themen wie Migration oder Nationalismus.
Einige Beispiel der ADW Mainz
http://www.namenforschung.net/
http://www.hethport.uni-wuerzburg.de/HPM/index.html
http://www.inschriften.net/
http://www.digitale-akademie.de/projekte/propylaeen-forschungsplattform-zu-goethes-biographica.html
Die Darlegung der an den Akademien, jedenfalls in Deutschland, erfolgten Weichenstellungen löst die vorerst theoretisch bleibende Überlegung aus, ob die erfolgten Weichenstellungen die richtigen waren. Ob konkrete Megaportalprojekte tatsächlich open end zu denken sind, da bin ich mir nicht sicher, aber 20-30 Jahre sind durch die derzeitige Ausrichtung auch nicht gedeckt. Aus sehr vielen Forschungseinrichtungen in sehr vielen Ländern wurde jede Langfristplanung herausgenommen, jedenfalls, was die GW angeht.