Die Banken- und Finanzkrise (ab 2008) machte die Kehrseiten einer weitgehenden Verflechtung der (neo)liberalen Wirtschafts- und Finanzsysteme deutlich. Die damit weniger verflochtenen Systeme wie das Chinas, das von dieser Krise wenig betroffen war, dürften für die Idee, dem westlichen liberalen Modell das vermeintlich erfolgreiche autoritärer Staaten entgegenzustellen, einige Anschubkraft freigesetzt haben. Es hat lange gedauert, bis die entstehende Interessensgemeinschaft von China und Russland als solche erkannt wurde. Es hat noch länger gedauert, bis eingeräumt wurde, dass es sich hierbei um eine tatsächliche feindselige und bedrohliche Konstellation handelt, die nicht ernst genug genommen werden kann.
Die Wahl im Herbst 2016 von Donald Trump zum Präsidenten der USA machte der EU unmissverständlich klar, dass sie nicht umhin kommt, wirtschaftlich und sicherheitspolitisch möglichst weitgehend auf eigenen Beinen zu stehen. Allerdings handelte es sich keineswegs um eine „Stunde Null“. Die Veränderung US-amerikanischer Prioritäten war schon unter Präsident Obama recht deutlich geworden – es „fehlten“ jedoch noch die feindseligen Untertöne, in denen sich dann Trump suhlen sollte. Jedenfalls war das Auseinanderdriften der USA und der EU mehr als offensichtlich.
Die Corona-Pandemie hat vor allem in ihrer ersten Phase ab ca. Februar/März 2020 die Störungsanfälligkeit von globalen Lieferketten erkennen lassen. Zunächst ging es um medizinische Schutzausrüstung, einfachen Mund-Nasen-Schutz, dann FFP2-Masken, Ingredienzien von Medikamenten, etc.
Die Schlussfolgerung, dass all dies wieder mehr in Europa selber hergestellt werden muss, selbst wenn die Kosten höher sind, war naheliegend und zweifellos richtig.
Da pandemiebedingt überall auf der Welt Lockdowns verordnet wurden, waren immer mehr Wirtschafts- und Produktionsbereiche von Lieferunterbrechungen betroffen. Besonders ins Bewusstsein geriet der Nachschubmangel bei Halbleitern, bei Baustoffen, etc.
Hier lautet die Antwort, mehr Halbleiter in Europa zu produzieren bzw. mehr zu recyclen. Letzteres ist mit dem in der letzten Märzwoche von der EU-Kommission vorgestellten Plan zu einer Kreislaufwirtschaft konkretisiert worden.
Im Zuge dieser Weckrufe wurde die Abhängigkeit von bestimmten Rohstofflieferanten transparenter in der Öffentlichkeit diskutiert. Es ging vor allem um Seltene Erden, die etwa bei der Umstellung von Verbrennungsmotoren auf batteriebetriebene Fahrzeuge ebenso unersetzlich sind wie im Bereich der Geräte für die mobile Kommunikation. Die Abhängigkeit von Öl und Gas war nicht unbekannt, wurde aber nicht als bedrohlich thematisiert. Die Abhängigkeit von russischer Kohle wurde in der Öffentlichkeit höchst diskret versteckt – sie ist erst jetzt nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine in den Fokus geraten.
Hier lautet die angestrebte Lösung, einerseits den Verbrauch an solchen Rohstoffen (Gas, Öl, Kohle) zu senken, auf der Anbieterseite zu diversifizieren (mehr aus den USA, was freilich auch ein Abhängigkeitsproblem schafft) und die Verteilung von Gas etc. innerhalb der EU per besserer gemeinsamer Infrastruktur zu optimieren, den Anteil erneuerbarer Energien mit Nachdruck auszubauen, um so mittelfristig die Abhängigkeit von Russland, aber auch anderen Lieferanten zu verringern.
Der Krieg gegen die Ukraine hat weitere globale Verflechtungen ins allgemeine Bewusstsein gehoben. Dieses Mal geht es um Agrargüter (Weizen, Mais, Sonnenblumenkerne, etc.). Wird deren Produktion nachhaltig gestört, müssen Menschen vor allem in Afrika hungern.
In Europa wird sogleich ein Teil der ökologischen Transformation der Landwirtschaft ausgesetzt und Brachflächen werden zum Anbau freigegeben, obwohl es ausreichen würde, das zu tun, was seit Jahrzehnten empfohlen wird, nämlich den Fleischkonsum zu reduzieren, sodass weniger Getreide für die Tierfütterung eingesetzt werden muss – nicht zu reden von der Reduktion des tierischen Methangasausstoßes sowie dem industriellen Verbrauch von Agrargütern.
Drastisch waren die Reaktionen in Bezug auf die Verbesserung der Verteidigungsfähigkeit der EU in enger Kooperation mit der NATO.
Viele der Reaktionen auf die verschiedenen Krisen werden seit einigen Jahren mit dem Schlagwort von der „Europäischen Souveränität“ verbunden. Manche verstehen darunter Autarkie, was illusorisch ist. Andere verstehen darunter mehr Unabhängigkeit in überlebenswichtigen Bereichen. Sinn macht das Schlagwort, wenn erreicht werden soll, dass das Heft des Handelns auch da, wo Abhängigkeiten unvermeidbar sind, bei der EU bleibt und niemand von außen für die EU entscheidet, was passiert oder nicht passiert.
Derzeit entscheiden Russland und China, die EU kann vorwiegend nur reagieren. Beide Länder waren bisher von der EU als Wirtschaftspartnerländer in einer bejahten globalen Verflechtung angesehen und entsprechend behandelt worden.
Das lässt sich so nicht mehr aufrecht erhalten, aber muss das das Ende einer globalen Verflechtung, die nach europäischen Vorstellungen dem Frieden dient, sein?
Wir wissen nur zu genau, dass die Eindämmung des Klimawandels nur als gemeinsame globale Anstrengung gelingen kann. Zugleich ist wahr, dass ein hoch gerüstetes Land wie Russland einfach einen Krieg beginnen kann, wenn es das will, und dass dies die ganze Welt in Turbulenzen versetzt. Die historische Vision einer Weltregierung, die den Frieden garantieren kann, war immer zu weit von den Realitäten entfernt, als dass es Sinn machen würde, hier einen neuen Anlauf zu nehmen.
Trotzdem gibt es wohl keine bessere Antwort auf die bedrückende Tatsache des russischen Angriffskrieges als weiterhin an Multilateralität als Orientierung festzuhalten und globale Verflechtungen nicht einfach abzubauen. Sie werden für den Klima- und Umweltschutz mehr denn je gebraucht. Vielleicht sollten die europäischen Regierungen ihre Zeit weniger für offenkundig sinnlose Telefonate mit dem Kreml verwenden als für Gespräche mit den rund 140 Ländern, die in der UN-Generalversammlung zwei Mal Russland für seinen Angriffskrieg verurteilt haben.
Was auf den Prüfstand gehört, ist das Modell der Konsumgesellschaft, das mit der sozial und ökonomisch unproduktiven Anhäufung von gewaltigen Vermögen bei Einzelpersonen und ihren Familien einhergeht. Nachhaltigkeit ist ein jahrzehntealtes Schlagwort, das in den 1970er Jahren genauso richtig und aktuell war wie es das heute ist – nur dass wir von Nachhaltigkeit in Wirtschaft und Gesellschaft und Politik immer noch so weit entfernt sind wie vor Jahrzehnten. Nachhaltigkeit gelingt aber nicht als Insellösung (EU), sondern nur global.