[vc_row el_class=“beitrag“][vc_column width=“1/1″][vc_column_text]Die „Geschichte der Universität Wien“ online [geschichte.univie.ac.at]
[1] Die Universität Wien gehört mit 92.000 Studierenden zu den größten europäischen Universitäten. Sie wurde 1365 gegründet, ist damit die älteste mitteleuropäische Universität, und begeht 2015 ihre 650-Jahrfeier.
[2] Das Schlagwort Digital Humanities – digitale Geistes- und Kulturwissenschaften – ist in aller Munde; nicht nur in der Wissenschaft und an den Universitäten, sondern auch im öffentlichen medialen Diskurs. Es macht keine Mühe, vergleichbare Wortbildungen zu assoziieren – z.B. „(D)digitale Wirtschaft“. Wird hier „Digital“ mit großem „D“ geschrieben, meint es die Internetwirtschaft, mit kleinem „d“ ist die fortschreitende Digitalisierung von ökonomischen und technischen Prozessen aller Art gemeint. Wir kennen die „digitale Gesellschaft“, ein Schlagwort, das auf die Digitalisierung der alltäglichen und nicht alltäglichen Lebenswelten abzielt. Die digitale Begrifflichkeit schiebt sich so in den Vordergrund, dass lange Zeit dominierende Bezeichnungen wie Web 2.0 bereits veraltet wirken und man dem derzeit in Probe befindlichen Begriff Web 4.0 nicht wirklich Durchsetzungschancen zubilligen mag.
[3] Digitalität ist etwas, das alles miteinander verbindet bzw. verbinden kann oder könnte. Alles heißt dabei tatsächlich „Alles“. Es wäre eine beinahe skandalöse Verschwendung von Möglichkeiten, wenn ich meinen Kühlschrank darauf beschränken würde, mir auf dem Heimweg aufs Smartphone zu melden, dass ich bitte noch Wurzelgemüse mitbringen sollte, denn er könnte mich zugleich daran erinnern, dass ich zuletzt vor 3 Tagen auf der Webseite zur Geschichte der Universität Wien meine Lektüre mitten im Artikel über die Ratio studiorum der Jesuiten abgebrochen habe und dass ich gut daran täte, die Lektüre heute Abend wieder aufzunehmen, weil ich andernfalls den Anfang vergessen hätte und wieder von vorn beginnen müsste und dass das ein sehr zeitunökonomisches Verhalten wäre. Zudem würde sich der Schub an Vitaminen und Mineralien aus dem Wurzelgemüse positiv auf meine Gehirntätgikeit auswirken. Wie gesagt: Der Kühlschrank könnte… Die Kontrolle über mein Internetlogbuch könnte ich freilich auch dem Staubsaugerroboter überantworten, falls ich diese Aufgabe lieber einem Warmblütler statt einem Kaltblütler überlassen möchte…
[4] Derzeit klingt so etwas natürlich skurril, aber ich habe das Beispiel nicht aus Liebe zum Skurrilen konstruiert, sondern weil es illustriert, was es bedeutet, alles mit allem vernetzen zu können. Es wird auch dazu führen, dass wir Verknüpfungen, die wir im Augenblick noch als eher sinnfrei ansehen, irgendwann wie selbstverständlich praktizieren werden. Das heißt, die Digitalität unserer Welt wird unsere Begriffe von Sinnhaftigkeit sehr nachhaltig verändern. Oder, um es anders auszudrücken, der Enzyklopädie der Zeichen, wie Umberto Eco sie in seiner Schrift über die Semiotik zugrunde legt und auf die wir in der Kommunikation zurückgreifen, wird in Zukunft eine stark veränderte Sinnstruktur innewohnen.
[5] In den Zusammenhang der Sinnstrukturen möchte ich die digitale Geschichte der Universität Wien, die aus Anlass der 650-Jahrfeier der Universität im Jahr 2015 erstellt wurde, einordnen. Ich mache mir, ganz schlicht, ein paar Gedanken über das Digitale an dieser Geschichte im Hinblick auf die Sinnstruktur unserer Zeichenenzyklopädie.
[6] Zunächst kann Entwarnung gegeben werden: Schon auf der Startseite fällt der Blick rechts oben, also da, wo man auch am Bildschirm immer sehr rasch mit der Blickbewegung landet, auf das Wort „Inhaltsverzeichnis“ und der Klick darauf transportiert mich in den von vielen Büchern vertrauten formalisierten Raum eines ordentlichen Inhaltsverzeichnisses, links die Kapitel, die auf der Startseite „Thematiken“ genannt werden, und ihre Unterkapitel, auf der Startseite „Themen“ genannt, sodann die Beiträge, rechts die Autorinnen und Autoren. Seitenzahlen braucht es natürlich nicht, ein Klick genügt. So weit so gut – doch der Schein trügt, denn die Seite überlistet mich: Die Autorenspalte rechts hat nichts mit dem Inhaltsverzeichnis zu tun, sie ist außerdem alphabetisch nach den Vornamen geordnet.
[7] Irritation!
[8] Auch die linke Spalte beinhaltet ein Irritationspotenzial: Von der Startseite weiß ich, dass es Thematiken, Themen und Artikel gibt, die Inhaltsverzeichnisseite reproduziert das Schema aber nicht sprachlich, sondern grafisch. Die grafische Reproduktion des Schemas vermittelt eine geringere Verbindlichkeit, als die wortwörtliche Reproduktion es täte, ich kann mich frei fühlen, auf irgendeinen Artikel meiner Wahl zu klicken, ich kann mich berechtigt fühlen, die auf der Startseite angedeutete klassisch-hierarchische Gliederung der Inhalte nicht auf das Inhaltsverzeichnis zu transferieren.
[9] Man könnte einwenden, dass solche Unterschiede und Irritationen zu klein und zu fein seien, als dass man sich dabei aufhalten müsste. Das stimmt – und stimmt wiederum auch nicht. Die Ordnung der Inhalte ist bei allen Ähnlichkeiten in einer digitalen Publikation anders sinnstrukturiert als im Medium Buch, im monografischen Medium. Oft wird das Beispiel einer Enzyklopädie mit ihrem Verweissystem genannt: Die Verweise bilden einen Hypertext ab und statt eines Klicks folge ich dem Verweis auf den Artikel X oder Y. Als normaler Nutzer einer analogen Enzyklopädie werde ich im wohlverstandenen Eigeninteresse aber nur wenige Verweise aufgreifen, weil ich ständig einen anderen, meist ja auch gewichtigen Band aus dem Regal ziehen muss. Will ich den Überblick behalten, muss ich den Band anschließend wieder in die richtige Lücke im Regal stellen. Würde man also dieselbe Anzahl von Verweisen verfolgen wie man Klicks auf einer Webseite machen kann, würde das Ganze sehr schnell in sportliche Höchstleistung ausarten und im Erschöpfungszustand enden. Das macht kein Leser, die Klicks macht er oder sie freilich schon. Die physische und zeitökonomische Entlastung durch das Klicken kann ich nutzen, um mehr Inhalt aufzunehmen. Ich muss aber nicht. Wenn ich es aber tue und den Mehrwert des Klickens nicht dadurch zunichtemache, dass ich auf die Inhalte nur schnell schaue, ohne sie ordentlich zu rezipieren, habe ich bereits begonnen, eine Sinnstruktur nach meinen Regeln aufzubauen, die gleichwohl in einen vorgegeben Rahmen, nämlich die endlichen Inhalte der Webseite, eingebettet bleibt. Wiederum anders ausgedrückt: Ich bediene mich weiterhin der bekannten Enzyklopädie der Zeichen, aber ich bilde neue Zeichenmuster und –cluster. Jede Nutzerin und jeder Nutzer der digitalen Geschichte der Universität Wien wird zu einem differenten Verständnis der Universität kommen.
[10] Und nun wird es interessant. Ich schlage diese Seite den Digital Humanities zu, denn zu diesen gehört fraglos das digitale Publizieren wissenschaftlicher Erkenntnisse im open access-Modus. All dies trifft hier zu, die drei Faktoren führen zu einem ganz bestimmten Wirkungsfeld der Digital Humanities, der digitalen Geistes- und Kulturwissenschaften: Sie bilden die drei Trägerpfeiler der Brücke aus der Wissenschaft in die Gesellschaft, gestärkt durch die interaktiven Elemente der Seite. Das bedeutet zugleich, dass neue Zeichenmuster und –cluster der differenten Verständnisse der Universität Wien nicht nur an der Universität selbst von Nutzerinnen und Nutzern aus der Wissenschaft, sondern auch in der Gesellschaft gebildet werden. Je mehr BesucherInnen diese Seite haben wird, desto gewichtiger wird dieser Befund des Differenten. Zudem ist zu beachten, dass diese Seite bleiben wird, sie wird also anhaltend und nachhaltig Wirkung entfalten, im Gegensatz zu anderen Ereignissen des Unijubiläums, die ebenfalls ein bestimmtes Verständnis der Uni transportieren.
[11] Es liegt auf der Hand, dass die Universität Wien es dabei nicht belassen kann, das heißt, sie muss in dem absehbaren Prozess der Ausbildung einer Sinnstruktur des Differenten in Bezug auf die Universität Wien und ihre Geschichte, selber Akteur bleiben. Es ist nicht damit getan, die Seite der Öffentlichkeit zu übergeben, sondern sie muss, gerade weil sie ein bleibendes Ereignis des Jubiläumsjahres darstellt, zu einem Instrument interaktiver Kommunikation gemacht werden, bei der es weniger um die jeweils aktuelle Selbstdarstellung der Uni Wien geht, die ja Tag für Tag auf der Homepage der Uni stattfindet, sondern um das Geflecht der differenten Sinnstrukturen, das die Chance bietet, die Universität Wien nachhaltig in die gesellschaftlichen Prozesse historischer Sinnbildung hinein zu flechten.
[12] [Dieser Eintrag entspricht bis auf wenige redaktionelle Änderungen meinem Grußwort zur offiziellen Vorstellung der Webseite im Festsaal des Archivs der Universität Wien am 23. April 2015.]
[13] Der Verweis im Text auf Umberto Eco bezieht sich auf: „Zeichen: Einführung in einen Begriff und seine Geschichte“. [Aus dem Ital. übers. von Günter Memmert]. 10. Aufl., Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1995.
[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row el_class=“fussnoten“][vc_column width=“1/1″][vc_column_text]Dokumentation:
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Digital Humanities und differente Sinnstrukturen. Die „Geschichte der Universität Wien“ online [geschichte.univie.ac.at]. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, http://wolfgangschmale.eu/digital-humanities-und-differente-sinnstrukturen/, Eintrag 25.04.2015 [Absatz Nr.].[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]
Die Bedeutung der digitalen Geschichtswissenschaft stieg meiner Meinung nach nicht besonders mit der Digitalen Revolution an sich, sondern erst mit der Verbreitung des World Wide Webs. Auch wenn dieses zu einem großen Paradigmenwechsel in der Art der Forschung, vor allem aber in der Art der Informationsdarstellung (Stichwort semantic web) geführt hat, finden zahlreiche weitere moderne Techniken nicht genug Aufmerksamkeit. Dies mag an Berührungsängsten liegen, scheitert aber vor allem an der finanziellen Umsetzung. Ein Stichwort diesbezüglich wäre z.B. Simulation bzw. Modellierung, das bei der historischen Klimatologie[1] bereits ein wichtiges Standbein ist. Quellenarbeit ist hierbei das eine, klimatische Vorgänge zu simulieren und grafisch darzustellen das andere, welches die Erkenntnis neuer Zusammenhänge hervorbringt. Dies kann jedoch auch auf anderem Wege genutzt werden, beispielsweise in der 3D-Rekonstruktion von Gebäuden[2] oder ganzen Städten[3]. Vor Ruinen zu stehen oder Beschreibungen einer längst vergangenen Zeit zu lauschen mag eine romantische Note haben, Verlorengegangenes virtuell wieder auferstehen zu lassen stellt eine wichtige Komponente für das tiefere Verständnis dar. Einige Bekanntheit erreichten inzwischen die Röntgen/Computertomografie-Untersuchungen (und weitere Verfahren[4]) an Mumien[5][6] etc. Ähnliche Versuche wurden auch schon erfolgreich auf (zum Teil desolate) schriftliche Quellen angewandt[7][8]. An dieser Stelle sei auf eine Q&A-session von Kevin Sacca, Mitarbeiter des Rochester Institut of Technology, auf der Internetplattform reddit verwiesen, der aktuelle Verfahren (Vorgehensweise, Hardware, Software) erläutert[9]. Selbst wenn nur Fragmente erhalten sind, ermöglichen es uns Computer heutzutage diese zuzuordnen bzw. zu vergleichen[10]. Der Strom an stetig neuen Quellen ist nicht endlos, das gilt besonders für weit zurückliegende Epochen. Um neue Kenntnisse zu gewinnen muss man Bestehendes aus anderen Blickwinkeln betrachten. Dazu gehören meiner Meinung nach die Interdisziplinarität und andererseits die aktive Nutzung von neuen Technologien. Das World Wide Web ist wichtig, doch nicht genug! Es gilt mehr denn je, bestehende (technologische) Möglichkeiten zu nutzen. Nur so kann die Geschichtsforschung am Puls der Zeit bleiben.
[1] Rüdiger Glaser: Historische Klimatologie Mitteleuropas, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom Leibniz-Institut für Europäische Geschichte (IEG), Mainz 19.09.2012. URL: http://www.ieg-ego.eu/glaserr-2012-de URN: urn:nbn:de:0159-2012091821 (14.06.2015).
[2] Österreichische Akademie der Wissenschaften, Die Wiener Hofburg 1521-1705, 12.12.2014. URL: http://www.oeaw.ac.at/oesterreichische-akademie-der-wissenschaften/news/article/die-wiener-hofburg-1521-1705/ (14.06.2015).
[3] Tall Zira’a, 3D-Rekonstruktionen. URL: http://www.tallziraa.de/Tall-Zira%27a/3D-Rekonstruktionen/0_400.html (14.06.2015).
[4] Thomas Henzler, Heather Gill-Frerking, Wilfried Rosendahl, Christian Fink, Die Geheimnisse der Mumien. Neue bildgebende Verfahren lassen tief in das Innere der konservierten Körper blicken, in: Ruperto Carola 3/11. URL: http://www.umm.uni-heidelberg.de/inst/ikr/pdf/2011_12_Anthropologie.pdf (14.06.2015).
[5] APA, „Ötzi hoch 20“ zeigt neues Gesicht der Mumie, 18.02.2011. URL: http://derstandard.at/1297818183587/Bozen-Oetzi-hoch-20-zeigt-neues-Gesicht-der-Mumie (14.06.2015).
[6] tasch, dpa, „Skandal“ um ägyptische Tiermumien: Keine Katze im Sack, 11.05.2015. Url: http://derstandard.at/2000015657533/Skandal-um-altaegyptische-Tiermumien-Keine-Katze-im-Sack (14.06.2015).
[7] Kurt de Swaaf, Verborgene Schriften sichtbar machen, 31.10.2014. URL: http://derstandard.at/2000007419714/Verborgene-Schriften-sichtbar-machen (14.06.2015).
[8] APA/red, Forscher entziffern verkohlte Papyrusrollen aus Herculaneum, 25.01.2015. URL: http://derstandard.at/2000010657417/Forscher-entziffern-verkohlte-Papyrusrollen-aus-vHerculaneum (14.06.2015).
[9] SSriceboat (Kevin Sacca), I am a scientist who utilizes multispectral imaging to recover and preserve information from old documents. AMA!, 16.06.2015. URL: http://www.reddit.com/r/IAmA/comments/39zmtu/i_am_a_scientist_who_utilizes_multispectral/ (18.06.2015).
[10] Kat, Computer hilft beim Puzzeln von Geniza-Fragmenten, 28.05.2013. URL: http://derstandard.at/1369361858004/Computer-hilft-beim-Puzzeln-von-Geniza-Fragmenten (14.06.2015).