[1] Europa gibt es nur mit Demokratie – ohne Demokratie gibt es kein Europa und keine EU. Der Meinungsstreit gehört zur Demokratie. Wird er unterdrückt oder zum Anlass für Verhaltensweisen genommen, die dem nationalistischen Zeitalter zuzurechnen sind, droht nicht nur Gefährdung, sondern ist diese bereits manifest.
[2] Der erste Punkt der Eröffnungsbilanz 2016 lautet, dass die europäische Demokratie sich bereits in einer Phase der Gefährdung befindet. In Polen und Ungarn bedarf es inzwischen eines gewissen Mutes, vor dem Mikrofon und der Kamera auf der Straße oder bei öffentlichen Veranstaltungen seine kritische Meinung gegenüber den antidemokratischen Gesetzen der Regierungsmehrheit im Parlament zu äußern. Demokratisch gewählte Regierungen schaffen ein Klima der Einschüchterung und finden bei einem Teil der Bevölkerung aktive Unterstützung.
[3] In Dänemark, Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Frankreich, Schweiz, Österreich kommen aus der Bevölkerung Hassparolen, rassistische Äußerungen, Todesdrohungen an Andersdenkende. Das Klima der Einschüchterung entsteht auch von unten und wird von einzelnen Parteien und PolitikerInnen sowie organisierten AktivistInnen ins Werk gesetzt.
[4] Auf Bedrohungen der Sicherheit der Bevölkerung im Alltag (Terrorismus, organisierte Straftaten in der Silvesternacht nicht nur in Deutschland) wird allenthalben mit der Verschärfung von Gesetzen, z.T. auch Verfassungsänderungen wie in Frankreich, reagiert. Gesetze werden dabei nicht mehr gründlich erwogen und diskutiert, weil angeblich alles schnell gehen muss.
[5] Immerhin wird in Frankreich intensiv und kontrovers darüber diskutiert, ob die Aberkennung der französischen Staatsbürgerschaft mit dem Recht und den Werten der französischen Republik vereinbar ist oder einen Verrat daran bedeutet. Die Wirksamkeit einer solchen Zusatzstrafe bei Vorhandensein einer doppelten Staatsbürgerschaft ist nicht belegbar. Gibt es keine doppelte Staatsbürgerschaft, gilt das Verbot, einen Menschen staatenlos zu machen.
[6] Der zweite Punkt der Eröffnungsbilanz 2016 lautet, dass das Europa der BürgerInnen zurückgedrängt wird. Das erste Stichwort heißt „Schengen“. Die aktuellen Grenzkontrollen geschehen vorerst im Rahmen des Abkommens, in dem für besondere Situationen Vorkehrung getroffen wurde. Allerdings ist die Wiedereinführung der Kontrollen die unintelligenteste und simpelste Methode, die kaum kaschiert, dass nirgendwo Bereitschaft besteht, transnational koordiniert zu agieren. Europäische Verfahren auf EU-Ebene anzuschieben, ist das eine; sich als „gute Nachbarn“ abzusprechen, einen vielleicht informellen, aber eben ständigen runden Tisch einzurichten, wo die Koordination besprochen und als konstruktives Signal in die europäische Öffentlichkeit getragen wird, wäre das andere.
[7] Das zweite Stichwort ist „Sozialunion“. Statt diese auf die Agenda zu setzen, geht die Fahrt bereits in die Gegenrichtung. Camerons Forderung nach weniger Europa umfasst den Vorschlag, auch EU-BürgerInnen, die von den Freizügigkeitsrechten auf der Grundlage des EU-Vertrages Gebrauch machen, sozial für eine gewisse Zeit auszubremsen. Statt einen Schritt nach vorne zu tun und mehr Europa für BürgerInnen durch eine Sozialunion zu schaffen, wird genau das Gegenteil getan werden, denn keine Regierung wendet sich gegen den weniger-EU-Kurs Camerons in dieser Frage.
[8] Bei den Wahlrechten der BürgerInnen geht gar nichts mehr vorwärts. EU-BürgerInnen sollten an ihrem ersten und gewöhnlichen Wohnsitz nicht nur ein kommunales Wahlrecht, sondern eines auf allen Ebenen besitzen. Die nationale Verengung des Wahlrechts zum Europäischen Parlament sollte aufgehoben werden, sodass die KandidatInnen, um gewählt zu werden, einen echten europäischen und nicht nur einen nationalen Wahlkampf führen müssten.
[9] Der dritte Punkt der Eröffnungsbilanz 2016 lautet, dass der Wille zu mehr Europa nicht besteht. Er wurde vom Maastricht-Vertrag bis in die Bewältigung der Finanzkrise hinein gerettet – trotz Ausdünnung, die sich bestens an den Texten der sukzessiven Verträge von Nizza bis Lissabon ablesen lässt. Inzwischen wird systematisch jede Gelegenheit zu mehr Europa ausgelassen und eine Entscheidung zugunsten des „weniger Europa!“ gefällt. Die europäischen Vereinbarungen der letzten Monate bezüglich der Einrichtung von „Hotspots“ an den Außengrenzen, die stärkere Sicherung der EU-Außengrenzen und die finanzielle Unterstützung der freilich derzeit politisch sehr problematischen Türkei sind das Paper nicht wert, auf dem sie stehen. In anderen Feldern wie einer Sozialunion etc. wird strikt der Weg des weniger Europa gegangen und nicht einmal mehr das Deckmäntelchen eines gemeinsamen Papiers bewerkstelligt.
[10] Der vierte Punkt der Eröffnungsbilanz 2016 lautet, dass zu viele Regierungen in Europa, nicht nur in der EU, Realitätsverweigerung betreiben. Die Befriedung und Förderung der gesamten nahöstlichen und nordafrikanischen Nachbarregionen Europas stellt eine immense, aber absolut notwendige Aufgabe dar, vor der sich die Mehrheit der Länder und der Regierungen, entgegen eines starken transnationalen zivilgesellschaftlichen Engagements, wegducken. Das steigert die Kosten der Zukunft.
[11] Der fünfte Punkt der Eröffnungsbilanz 2016 lautet, dass das Verständnis von „europäischer Kultur“ nicht weiter entwickelt wird. In den Positionen des „weniger Europa!“ verkümmert „europäische Kultur“ zur Gleichung „europäische Kultur = Addition von autonomen Nationalkulturen“. Das hatten wir schon! Es wurde desaströs.
[12] Es ist notwendig, unsere kulturellen Grundbegriffe durchzudenken. Der Wiener Historiker Gerald Stourzh hat in seinem neuen Buch z.B. den Demokratiebegriff im Lichte des Begriffes der „Isonomie“ (im Sinne einer Gleichberechtigungsordnung) neu durchdacht. Die Substanz der Freiheitsidee geht im Gesetzeskurzstreckenlauf womöglich verloren, wenn die Maßnahmen zur Sicherung der Freiheit nicht mehr mit dem Ziel der Freiheit geformt werden. „Vielfalt“ (im Sinne vieler Vielfältigkeiten) möglich zu machen und zu leben, bedeutet eine enorme Herausforderung, der nicht ausgewichen werden darf, weil die Zukunft diese Vielfalt sein wird.
[13] Das öffentliche verbale Draufschlagen, das von den rechten und linken Rändern bis in Regierungen mit starken, aus Wahlen hervorgegangenen Mehrheiten, hineinreicht, ist ein kultureller Totengräber, weil das faire Abwägen und geduldige Argumentieren als Schwäche ausgelegt wird. Das „Starke“, dem allzu viele WählerInnen derzeit verfallen, hat keine Kultur, es ist das Gegenteil von Kultur. Statt leichthin davon zu reden, der Staat müsse „stark sein“, sollte man doch besser davon reden, dass der Staat „funktionieren“ solle. Der „Staat“ als eine europäische Organisationsform, in der Recht, Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur strukturell kohäsiv und inhaltlich kohärent miteinander verbunden werden, „funktioniert“ so, oder er ist nicht. Der Begriff des „Starken“ hat hier rein gar nichts verloren.
Dokumentation:
Stourzh, Gerald (2015): Die moderne Isonomie. Menschenrechtsschutz und demokratische Teilhabe als Gleichberechtigungsordnung: Ein Essay. Wien, Köln, Weimar: Böhlau Verlag.
Meiner Wiener Kollegin Christa Hämmerle danke ich für die Überlassung des Fotos, das die Baustelle Europaviertel in Brüssel im Herbst 2015 zeigt.
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europäische Eröffnungsbilanz 2016. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu/eroeffnungsbilanz-2016, Eintrag 12.01.2016 [Absatz Nr.].