[vc_row el_class=“beitrag“][vc_column width=“1/1″][vc_column_text]„Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/1815“. Ausstellung Unteres Belvedere und Orangerie, Wien (noch bis 21. Juni 2015)
[1] Napoleon hoch zu Ross, dynamisch, ein Sieger eben, die Alpen am St. Bernhard überquerend, es Hannibal und anderen gleichtuend, links am Boden Inschriftentafeln mit den Namen von Karl dem Großen, Hannibal sowie Bonaparte in aufsteigender Reihenfolge – wer kennt dieses Gemälde von Jacques-Louis David von 1801 nicht? Oder Jean-Baptistes Isabeys „Der Wiener Kongress“ (1815), der in einer fiktiven Runde die Hauptakteure des Kongresses porträtiert – wer kennt nicht den sogenannten Kongress-Stich? Diese und andere zu Ikonen gewordenen Visualisierungen von Akteuren und Ereignissen der Napoleonischen Epoche und des Wiener Kongresses zeigt die von Sabine Grabner und Werner Telesko kuratierte Ausstellung ebenso wie selten reproduzierte Stücke wie die Lithografie und Satire „Die Theaterliebhaber“ von Josef Lanzedelli d. Ä. (1820, Privatbesitz). Die Ausstellung bereitet Begegnungen mit Bekanntem und Überraschendem, so wie es sich gehört.
[2] Aber kann sie auch „Europa in Wien“ zeigen? Und: Was wäre dieses Europa, in Wien? Einerseits verhält es sich damit ganz einfach: Es handelt sich – wieder einmal! – um einen jener gelungenen Aussprüche des Fürsten Charles Joseph de Ligne, in den er das „Europa ist in Wien“ einbaute. Andererseits ist es dann doch etwas komplexer.
[3] Beginnen wir mit dem Eindeutigeren: Wien zur Zeit des Kongresses wird dem Besucher eindringlich näher gebracht, es wurde von Künstlern viele Male ‚porträtiert‘, aus der Ferne, aus der Nähe, im Detail. Der Kongress und die vermuteten rund 100.000 Gäste im Laufe von neun Monaten verhalfen der Stadt zu einer kulturellen Blüte, die keineswegs aus dem Nichts kam, aber erstmals Wien zur europäischen Kulturhauptstadt machte (diesen Titel gab es damals natürlich noch nicht). Der Schub vor 200 Jahren war so nachhaltig, dass er bis heute wirkt. Wien wurde also selbst zu einem europäischen Ereignis, es inkorporierte sich Europa im wörtlichen und übertragenen Sinn.
[4] Der wörtliche Sinn wird durch die Gegenwart etlicher Herrscher, beginnend mit dem russischen Zaren Alexander, oft über einen erstaunlich langen Zeitraum (viele Wochen, gar mehrere Monate) und anderer hoher politischer Amtsträger eingelöst. Dies ist die Perspektive, an der die Ausstellung am ehesten „Europa in Wien“ festmachen kann, denn ein gewichtiger Teil der Exponate entfällt auf entsprechende Individual- und Gruppenporträts. Nochmals wird das Kongress-Wien zu einer Hochzeit französischer Kultur und wiederholt damit das Europa des 18. Jahrhunderts, das noch weitgehend dem französischen Kulturmodell gefolgt war. Eigenständige Entwicklungen vor Ort unterstreichen zu diesem Zeitpunkt eher noch diesen Umstand als dass sie ihn infrage stellen.
[5] Schließlich evozieren einige Exponate die inhaltliche Arbeit des Kongresses, die faktische politische Ordnung Europas, die in den „Acte Final du Congrès de Vienne“ mündete. Das ist gewiss Europa in Wien.
[6] Zwei Drittel der rund 300 Exponate stammen aus Wiener öffentlichen und privaten Sammlungen, darunter die auch teils in Liechtenstein angesiedelte fürstliche Sammlung Liechtenstein, rund zwei Dutzend aus Deutschland, rund ein Dutzend aus Frankreich, der Rest verteilt sich auf fünf weitere österreichische Bundesländer sowie die Tschechische Republik, Dänemark und Großbritannien. Es wäre interessant zu wissen, wie intensiv der Kongress anderswo rezipiert wurde, denn der Umfang von Visualisierungen ist immer ein guter Gradmesser für die Intensität oder Schwäche von Interesse und Rezeption. Es stellt sich die Frage, ob der Kongress auch ein europäisches Medienereignis unter dem Blickwinkel der bildlichen Medien gewesen war. Der Katalog zeigt einige weitere nicht ausgestellte Stücke z. B. aus St. Petersburg, letztlich muss aber die Frage, wie der Kongress außerhalb Wiens in Europa visualisiert wurde, teilweise offen bleiben.
[7] Hilft uns die Ausstellung bei der Bewertung des Wiener Kongresses, zusätzlich oder anders als die stattliche Reihe von neuen Büchern zum Kongress?
[8] Ein Rückgriff: 1989 wurde das Bicentenaire der Französischen Revolution begangen. Es gab viele Veranstaltungen, Ausstellungen und Events für die Öffentlichkeit, für ein breites nationales und internationales Publikum. Die Wissenschaft stand dem kaum nach, neben dem unvermeidlichen Schub an Tagungen, Kolloquien usw. ereignete sich ein ausgesprochener Forschungsschub, der vor allem im Bereich kulturwissenschaftlicher Perspektiven sehr innovativ war. Seit September 2014 wird das Bicentenaire des Wiener Kongresses begangen, der die Revolutionsepoche beendete. Auch wenn der Kongress zurecht als Beginn einer neuen Epoche interpretiert wird, für die je nach Sichtweise mal der friedensbringende Charakter durch die politische Neuordnung Europas, mal der restaurative Charakter, der die Abkehr von Grund- und Bürgerrechten anspricht, hervorgehoben wird, steht er im Aufmerksamkeitsschatten des Revolutionsbeginns. Die Ausstellung schaltet hier einige Scheinwerfer an.
[9] Die Ungleichgewichtigkeit der beiden Bicentenaires hat viele Gründe, und in vieler Hinsicht sind die beiden historischen Großereignisse überhaupt nicht vergleichbar. Andererseits dauerte der Kongress ungewöhnlich lange, rund neun Monate, er steht zudem in einer Reihe anderer Friedenskongresse, die vorher und nachher stattfanden. Das politische Kongresswesen in der Folge des Wiener Kongresses zog sich noch über manch ein Jahrzehnt hin. Wir haben es nicht mit einem vorübergehenden einmaligen Großereignis zu tun, sondern genau genommen mit einer eigenen Epoche, die bis zur Regelung der „belgischen Frage“ 1831 einen dynamischen Zusammenhang entwickelte. Sie war kaum kürzer als die Revolutionsepoche. Daher macht es Sinn, über einige Punkte nachzudenken, die Französische Revolution und Wiener Kongress stärker verbinden, als es die chronologische Situierung als Anfang und Ende einer bis heute nachwirkenden Schlüsselepoche der europäischen Geschichte zunächst erkennen lassen. In gewissem Sinn beendet der Kongress nicht die Revolution, sondern setzt sie fort und konsolidiert sie.
[10] Die erste Phase der Französischen Revolution zielte nicht auf eine Republik, sondern auf eine konstitutionelle Monarchie, die Menschen- und Bürgerrechte garantierte und ihre Grundlage in einer geschriebenen, von der Nationalversammlung verabschiedeten Verfassung fand (1791). Nach einer turbulenten Übergangsphase wurde im Herbst 1792 die Erste Republik gegründet, die faktisch (allerdings nicht formaljuristisch) mit Napoleons Staatsstreich 1799 beendet wurde. 1814/15 kehrte Frankreich mit König Ludwig XVIII. und der Charte constitutionnelle zu einer Art „Konstitutionelle Monarchie light“ zurück. Dieses Modell wurde indirekt durch den Wiener Kongress gestärkt, auch wenn es in der Praxis in Europa ein Dutzend Wege gab, dies umzusetzen.
[11] Der springende Punkt ist die Rolle des Volkes. In der konstitutionellen Monarchie hat es politische Rechte und hat Anteil an der Souveränitätsausübung. Der Umfang dieses Anteils schwankte je nach Land oder Staat zwischen Eins und Dreißig auf einer imaginären Skala von Hundert. Zugleich bedurfte die Durchführung des Kongresses in Wien des Volkes. Die mediale Vermittlung des Kongresses erfolgte nicht nur über Medien im engen Wortsinn wie Zeitungen oder wohlfeile Stiche, sondern über Feste, Aufzüge, Bälle, schließlich auch Salons (z. B. Fanny von Arnstein) mit europäischen Besucher/inne/n. Der Kongress selber entwickelte daraus keine eindeutigen verfassungsrechtlichen Direktiven für die einzelnen Staaten, da das nicht seine Aufgabe war, aber insoweit man sich auf das mediale Spiel mit dem Volk einließ, wurde implizit bestätigt, was 1789 begonnen und als politische Forderungen nach Emanzipation des Volkes in den sogenannten Freiheitskriegen fortgesetzt worden war.
[12] Die Französische Revolution war, unterm Strich, eine bürgerliche Revolution, das heißt, außer den politischen Implikationen verweist dies auch auf die ökonomische und kulturelle Dimension. Aus der Distanz betrachtet stellte der Wiener Kongress ein imposantes kommerzielles und kulturelles Ereignis dar, das die bürgerliche Ökonomie stärkte und bereits im 18. Jahrhundert entwickelte Kulturmuster – wie „das Konzert“ – zu beherrschenden Mustern machte. Gottlieb Hiller hatte schon 1807 (mit Bezug auf Arnsteins Salon) autobiografisch festgestellt, dass dort „viele verschiedene Nationen durch eine gemeinsame französische Unterhaltung in ein Europäervolk gleichsam zusammenfließen“. (s. unten Dokumentation) Mit dem „Europäervolk“ meinte er nicht die Fürsten…
[13] Es bleibt eine letzte Frage: Reicht der Umstand des Bicentenaire des Wiener Kongresses aus, um sich so ausführlich, wie dies seit einiger Zeit geschieht, mit ihm auseinanderzusetzen? In den USA hält sich seit über einhundert Jahren eine Tradition der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Kongress (Diplomaten, Historiker, Juristen Politikwissenschaftler, darunter kein geringerer als Henry Kissinger), die eng mit den sukzessiven europäischen Krisen infolge der beiden Weltkriege oder aktuell der Ukrainekrise zusammenhängt. Richtig ist, dass diese Krisen Defizite der europäischen politischen Ordnung aufzeigten und aufzeigen, daher mag der Blick zurück auf 1814/15 naheliegen, zumal die Meinung, der Kongress habe Europa politisch geordnet, weit verbreitet ist. Aber es handelte sich um eine Ordnung von oben, die den meisten Ländern übergestülpt wurde. Zudem war die Ordnung hierarchisch: Die Mächtigen ließen sich nicht ordnen, sie setzten den Großteil ihrer Interessen durch, Grenzen setzten ihnen nur die Gleichmächtigen. Anderes blieb ungeordnet und führte zu anhaltenden gewaltsamen Konflikten wie in Italien. Akribische Verhandlungslösungen finden sich vor allem in Bezug auf den Deutschen Bund, und auch da ist die Machtentfaltung der Großen nicht zu übersehen. Eine sehr kritische Sicht auf die Ergebnisse des Wiener Kongresses ist daher plausibel.
[14] Anders als es die Tradition der Interpretation des Kongresses will, liegt seine konstruktive, ja konstruierende Bedeutung im kulturgeschichtlichen Bereich, der von der Ausstellung gut zur Geltung gebracht wird. Der von mir oben gewählte Begriff von Wien als europäischer Kulturhauptstadt durch den Kongress entfaltet hier seinen vollen Sinn. Was zu diesem Zeitpunkt als europäische Kultur bezeichnet werden kann, tritt in Wien gebündelt auf und wird vor Augen geführt. Das Selbstbild der Europäer/innen damals, Europa sei eine einzige Kultur, wurde in Wien visuell bestätigt und in gewissem Sinn zur Schau gestellt. Hatte es das bisher gegeben? Nein.[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row][vc_row el_class=“fussnoten“][vc_column width=“1/1″][vc_column_text]Dokumentation:
Ausstellungskatalog: Grabner, Sabine; Husslein-Arco, Agnes; Telesko, Werner (Hgg.): Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/1815. München: Hirmer, 2015.
Zitat Gottlieb Hiller: Reise durch einen Theil von Sachsen, Böhmen, Österreich und Ungarn. Als zweiter Theil. Köthen 1807, 198 [das Zitat wurde von Tamara Stangl gefunden, Mitarbeiterin an der Station „Wiener Kongress“ für das Campus Festival der Universität Wien, 12.-14. Juni 2015].
Empfohlene Zitierweise (die Absätze sind in eckigen Klammern für Zitationszwecke nummeriert):
Wolfgang Schmale: Europa als Kultur. „Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/1815“. Ausstellung Unteres Belvedere und Orangerie, Wien. In: Wolfgang Schmale: Blog „Mein Europa“, wolfgangschmale.eu, Eintrag 25.04.2015 [Absatz Nr.].[/vc_column_text][/vc_column][/vc_row]